Alice Schwarzer schreibt

Conchita sprengt Geschlechtergrenzen

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Aufschlussreich. Sehr aufschlussreich der diesjährige Eurovison Song Contest in Kopenhagen. Heraus kam nämlich, dass das Publikum aufgeschlossener und fortschrittlicher ist als Showbiz und Medien. Und: Dass in Deutschland Jury und Publikum ganz besonders stark auseinanderdriften - bis auf ihre Einigkeit in Bezug auf die glitschig-pornografische Darstellung der Polinnen. Denen gab außer Deutschland nur noch Italien 10 Punkte. Aber die haben ja auch Berlusconi und die Felinen. Wir hingegen haben Merkel und Will/Illner/Maischberger. Aber hinter deren Rücken scheint sich so einiges zusammenzubrauen in Sachen Frauenbild in deutschen Landen.

Auch der Platz 1 für den Transvestiten Conchita Wurst aus Österreich, alias Thomas Neuwirth, war klar ein politisches Statement. Der Gastwirtsohn aus der Steiermark, der schon im Alter von vier ein Faible für Mutters Kleider hatte und auf der Modeschule in Graz war, sprengt die Geschlechtergrenzen. Ein Mann in Kleidern? Eine Frau mit Bart? Egal. Das Dazwischen bzw. dass er/sie eben beides ist, das ist das Aufregende, das Erotische.

Das Dazwischen ist das Aufregende.

Conchita, der Star mit dem (selbst)ironischen Namen überzeugte mit wallenden Locken, Schattenbart, Rehaugen und dem Song: Wie ein Phoenix aus der Asche... Kein Zweifel, dass die traditionell auf den ESC abonnierten Queer-Community mobilisiert hatte. Aber das allein genügt nicht für Platz 1. Das Publikum in ganz Europa war sich einfach einig: Der schräg-zarte Transvestit aus Österreich soll siegen!

Und übrigens: All die jungen Frauen, die sich da in groteske Minis hatten zwängen lassen, die den Blick aufs Höschenzwickel freigaben, und in Dekolletés, die bis zum Bauchnabel gingen, können sich ein Beispiel an Conchita nehmen: Das Kleid des Ex-Modeschülers, orientiert an einer Marlene-Dietrich-Robe - das war Erotik pur.

Auch das deutsche Publikum sah das so und wählte Conchita im Televoting klar auf Platz 1. Und die deutsche Jury, in der zwei Frauen und drei Männer saßen, darunter der Sado-Rapper Sido? Die Jury setzte den Transvestiten auf Platz 11! Dafür stattdessen den netten, aber dann doch arg harmlosen Marokkaner Basim aus Dänemark auf Platz 1. Schiefer hätte man nicht liegen können.

Was ist los im deutschen Showbiz? Begeisterung für die Pornodarstellerinnen und Desinteresse für die Dragqueen. Da ist es erleichternd, dass das Publikum das im Fall Conchita ganz anders sah.

Auffallend war, dass auch osteuropäische Länder Conchita häufig auf einen der ersten oder gar ersten Platz hoben, außer Russland (das allerdings auch immerhin fünf Punkte gab). "We are unstoppable", jubelte der Österreicher mit der Siegestrophäe in der Hand - und spielte damit wohl auch auf die gerade in Russland grassierende Homophobie an. Was der so differenziert redende 25-Jährige sich wünscht? Peace! Frieden! Auch schön.

Der Überraschungs-Beinahesieger waren die Niederlande mit dem souverän-innigen Auftritt von Ilse DeLange und Waylon. Das Paar präsentierte jenseits aller Effekthascherei und ohne Blick auf Höschenzwickel oder Quelldekolletés gleichberechtigt seinen schönen, elegischen Country-Song. Den hatten auch so manche Kritiker im Vorlauf gut gefunden, den beiden aber keine Chance gegeben, weil Country out sei. Wie schön, dass der Publikumsgeschmack sich nicht nur nach Markttrends richtet.

Was ist los im deutschen Showbiz?

Klar, immer wieder spielte auch die große Politik eine Rolle. Mal Buhrufe für die harmlosen, blonden Zwillinge aus Russland, mal demonstrativ 12 Punkte (aus Estland). Komplett durch fielen alle sinnentleerten, pseudo-dramatischen Inszenierungen: eine Frau am Trapez, ein Mann im Hamsterrad, die Flammenläuferin, die Lichtraketen.

Die Mehrheit des Publikums ist eben fortschrittlicher als Medien und Showgeschäft. Die Menschen setzen auf Authentizität, Inhalt und Mut - den Mut, gegen den Mainstream zu halten. Vielleicht sollten die Macher solcher Spektakel auch mal darauf setzen?

Dann hätten sie auch unsere drei Mädels mit dem Kontrabass nicht im letzten Augenblick noch auf so stromlinienförmig getrimmt. Der Auftritt von Elaiza auf Youtube bei den Proben hätte zweifellos mehr Punkte geholt als die sterile Präsentation auf der Kopenhagener Bühne. Da hatten sie dem Trio die Girlpower ganz ausgetrieben. Aber die holt Elaiza sich hoffentlich bald zurück!

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ESC: Tolerant und emanzipiert!

Conchita Wurst holte beim ESC den Sieg für Österreich.
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Alle fünf haben die Spitzenplätze musikalisch verdient. Aber klar: Es ging auch, wie immer, um Inszenierungen und Inhalte. Darum lag Conchita Wurst, alias Thomas Neuwirth, aus Österreich mit wallenden Kastanienhaar und Schattenbart und ihrem Song "Rise like a Phoenix" ganz vorne. Und das nicht nur im Gendertrouble gestählten Westeuropa, sondern auch, siehe da, in Osteuropa! Zu Recht zerdrückte der/die SiegerIn reichlich Tränen. Freudentränen.

Hochverdient kamen auch die NiederländerInnen mit dem Folksong "Calm after the Storm" auf den zweiten Platz. Ilse DeLange und Wylon verwiesen mit ihrem poetischen, ernsthaften, gleichberechtigten Auftritt alle spekulativen Miniminiröcke und Quellbusen auf die hinteren Plätze. 

Auf dem dritten Platz landete die Schwedin Sanne Nielsen, die mit ihrem blonden Haar im kleinen Schwarzen so klassisch aussah, wie ihr Name verspricht, mit ihrer schönen Stimme und der Ballade "Undo". Ihr dicht auf den Fersen folgte der eigenwillige, bei einer Frau würde man sagen "aparte", Armenier Aram Sargsyan mit seinem poetisch-passionierten Song "Not alone". Auch er meilenweit entfernt von Effekthascherei und Kraftmeierei. András Kàllay-Saunders, der Ungar aus New York, hatte es  sogar gewagt, in seiner Pop-Ballade "Running" den Missbrauch eines Mädchens zu thematisieren. Er kam hochverdient auf den fünften Platz. 

Es blieb Deutschland und Italien als einzigen vorbehalten, der glitschig-pornografischen Inszenierung der Polinnen in "My Slowianie" je 10 Punkte zu geben (FAZ: "peinlich, peinlicher, Polen").

Und unsere drei Mädels mit dem Kontrabass? Elaiza hat sich sehr tapfer geschlagen. Schade nur, dass bei dem geglätteten Auftritt auf der ESC-Bühne so gar nicht rüberkam, was - neben der Musik - ihre Hauptstärke ist: Die Sisterhood! Aber das wird schon. Elaiza ist auf dem besten Weg.

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