Alice Schwarzer in anderen Medien

Wir müssen Widersprüche aushalten

Alice Schwarzer mit Elham und Hesham und deren Söhnen.
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Die Welt In Ihrem Buch über die Kölner Silvesternacht, „Der Schock“, überwiegt die Kritik am migrantischen, patriarchalischen Mann, und die ist ja auch nach allen Erfahrungen mehr als berechtigt. Umso schöner ist, dass Sie mit einem der „guten Araber“ jener Nacht Kontakt aufnahmen. Dem Syrer Hesham Mohammad, der zufällig am Bahnhof war und einer Amerikanerin half. Sie trafen ihn später. Wie hat er auf Sie reagiert?
Alice Schwarzer Es war ein Zufall. Ich bin ihm im Zuge einer Reportage über die ganz konkrete Flüchtlingsarbeit in einer deutschen Kleinstadt begegnet, im bergischen Waldbröl. Das läuft da übrigens auch nicht ohne Probleme, aber im Großen und Ganzen sehr positiv. Vor allem, weil die städtischen Sozialarbeiter und die Ehrenamtlichen sehr gut zusammenarbeiten. Und weil die Flüchtlinge, allen voran die Familien, nicht in Sammellagern, sondern in über die ganze Stadt verstreuten Wohnungen untergebracht sind. Bei meiner Recherche hat mich eine der ehrenamtlichen Helferinnen auf Hesham angesprochen. Er wohne im Ort, und ob ich ihn kennenlernen wolle. Ich hatte über die Geschichte gelesen und sagte sofort: Selbstverständlich will ich ihn kennenlernen! Eine Stunde später saß er mir gegenüber: ein ganz besonders in sich ruhender, vertrauenerweckender Mann Mitte 30. Er wusste nur, dass ich Journalistin bin, hatte aber ansonsten keine Vorstellung von mir.

Wie haben Sie sich mit ihm verständigt? Und wie hat er seine Geschichte erzählt?
Wir haben Englisch gesprochen – mithilfe einer Übersetzerin, denn sein Englisch ist besser als meines. Hesham ist Englischlehrer. Er hat mir also die ganze Geschichte des Silvesterabends erzählt. Er hatte sich zufällig am Kölner Bahnhof mit mehreren in der Region untergebrachten Freunden verabredet, mit denen zusammen er geflüchtet war. Sie wollten in Köln essen gehen. Ja, und da stieß er auf die weinende, verzweifelte Amerikanerin, die schon begrapscht worden war und gerade wieder erneut bedroht wurde. Hesham und seine Freunde haben sie beschützt und es sogar geschafft, in der tobenden Menge ihren abgedrängten Freund wiederzufinden. Hesham hat mir das alles sehr nüchtern und sehr selbstverständlich erzählt. Aber ich muss zugeben, dass mir die Tränen kamen. Es war so erleichternd, dass es an diesem Abend auch Männer wie ihn gab. Sie wollten ihm auch Ihrerseits helfen. Was war Ihr Impuls?
Ich habe Hesham natürlich auch nach seiner persönlichen Situation befragt. Und da stellte sich heraus, dass seine Frau und seine zwei kleinen Jungen noch im Bombenhagel von Aleppo waren. Er zeigte mir Fotos von ihnen auf dem Handy. Das war im Februar 2016. Er war sehr verzweifelt und ratlos, wie er seine Familie da rausholen könnte. Für mich war sofort klar, dass ich ihm im Rahmen des mir Möglichen helfen würde. Er hatte uns geholfen – also helfen wir auch ihm.

Ihnen gelang es mithilfe der deutschen Botschaft in Ankara, die Familie des Mannes samt den beiden Kindern nach Deutschland zu holen. Haben Sie Dankbarkeit gespürt?
Ich blieb mit Hesham und den sehr engagierten Sozialarbeitern der Stadt in direktem Kontakt. Im April gelang es der Frau, mit ihren beiden Kindern in die Türkei zu fliehen. Zwei Wochen Fußmarsch durch die Berge. Man wagt kaum, sich das vorzustellen. Aber angekommen in der Türkei, standen sie auf der Straße – und Hesham drehte fast durch vor Sorge. Wir haben uns zusammengesetzt. Er hat geweint. Da habe ich gesagt: „Hesham, wir holen deine Familie nach Deutschland. Wir schaffen das. Glaube mir!“ Nach einer intensiven Korrespondenz mit der sehr hilfreichen deutschen Botschaft – bei der Heshams Frau „der ‚Emma‘-Fall“ hieß – haben wir es dann tatsächlich geschafft. Die drei sind in Ankara in den Flieger gesetzt worden, und ein überglücklicher Hesham konnte seine Frau und seine Kinder am Kölner Flughafen umarmen.

Sie haben Mann und Frau erlebt. Was hat Sie berührt, was frappiert? Findet man eine direkte Berührungsebene als feministische Deutsche mit einem patriarchalisch genormten Ehepaar?
Wissen Sie, die Ähnlichkeiten zwischen den Menschen sind – so sie nur wollen – viel größer als die Unterschiede. Außerdem ist der islamische Kulturkreis mir schon lange sehr vertraut. Und das nicht nur, weil ich seit 1979 in engem Kontakt mit zahlreichen Iranerinnen und Iranern stehe. Seit der Machtergreifung von Khomeini, wo ich wenige Wochen danach zusammen mit französischen Intellektuellen dem Hilferuf von Iranerinnen nach Teheran gefolgt bin. Die hatten zunächst mit der Kalaschnikow unter dem Tschador gegen den Schah gekämpft und wurden dann von den sogenannten Revolutionsgarden aus den Unis und Büros verjagt: Zieht euch erst mal anständig an! hieß es. Das heißt: verschleiert euch. Mit diesen Frauen und ihren Töchtern und Enkelinnen bin ich bis heute in Kontakt. Sowohl mit denen, die ins Exil geflüchtet sind, als auch mit denen, die in dem diktatorischen Gottesstaat versuchen zu überleben.

Nicht Ihre einzige Berührung mit der muslimischen Welt, nicht wahr?
Oh, nein, ich habe durch mein Leben in Paris in den 60er- und 70er-Jahren eine starke emotionale und politische Bindung zum Maghreb, besonders zu Algerien. Das waren die Jahre nach der Befreiung Algeriens vom französischen Kolonialherrn – ein Konflikt, der freiheitsliebende Algerier wie Franzosen gleichermaßen betraf und beschäftigte. Meine Verbindungen zu Algerien sind eng geblieben. In den 90er-Jahren brach dann in Algerien ein von den Islamisten angezettelter Bürgerkrieg aus, der über 200.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die seither schwer traumatisierten Menschen nennen die Zeit „die schwarzen Jahre“. Im Westen hat dieses Drama niemanden interessiert – ich glaube, „Emma“ war lange die einzige deutschsprachige Zeitschrift, die regelmäßig darüber berichtete.

In der Zeit habe ich einer algerischen Kollegin, Djamila, in Köln Zuflucht geboten. Sie war in ihrem Land in Lebensgefahr. Seither habe ich eine „algerische Familie“. Ihre beiden Nichten und ihr Neffe sind quasi meine Patenkinder. Und ihre Schwestern – beide Hausfrauen, eine modern unverschleiert, die andere traditionell verschleiert – sind Freundinnen. Djamilas inzwischen verstorbene Mutter, eine traditionell tätowierte Frau, war noch Analphabetin, aber alle ihre sieben Söhne und Töchter haben studiert. Sie fuhr in ihren letzten Lebensjahren einmal im Jahr nach Mekka und hat da immer auch für mich gebetet. Das kann ja nie schaden!

Von dieser algerischen Familie habe ich sehr viel gelernt. Nicht zuletzt das Aushalten von Widersprüchen. Die Mädchen zum Beispiel sind unverschleiert und haben es auch in den schwarzen Jahren gewagt, so zur Uni zu gehen. Das bedeutete: Lebensgefahr. Der Junge, Ganoud, der inzwischen auch schon Mitte 30 ist, ist modern und traditionell zugleich. Er ist tiefgläubig und hat jetzt eine gleichaltrige Karrierefrau geheiratet, die unverschleiert ist – von der er aber hofft, dass sie sich „eines Tages verschleiern“ wird. Ganoud ist mein Liebling, ich diskutiere viel mit ihm. Er sieht die Fundamentalisten durchaus kritisch, aber er ist gleichzeitig sehr misstrauisch gegenüber dem „hochmütigen Westen“ und dessen „Doppelmoral“. Ganoud ist mein innerer Maßstab: Bei allem, was ich zum politischen Islam sage, frage ich mich: Würde Ganoud das respektieren?

Sie haben Hesham und seine Familie im Sommer in Ihren Garten eingeladen. Die Frau sei sanft, sagen Sie, und schlage die Augen nieder. Der Mann tobe mit den Kindern herum. Frau Elham ist islamisch verschleiert. Treibt Sie das nicht zur Weißglut?
Zur Weißglut? Im Gegenteil: Ich habe tiefes Verständnis – und hoffe auf eine allmähliche Veränderung. Es ist doch eine Sache, wenn eine Frau, die aus einem islamischen Land und patriarchalen Verhältnissen kommt, traditionell verschleiert ist – und eine ganz andere, wenn eine europäische Konvertitin sich demonstrativ verschleiert, um Propaganda für das islamische Kopftuch oder gar für Burka und Nikab in unseren Demokratien zu machen! Meist übrigens mit Unterstützung der Islamverbände in Deutschland, die hierzulande eher rückwärtsgewandt und schriftgläubig sind. Leider.

Als Sie Elham lachend fragen, welche Haarfarbe sie habe, antwortet der Mann: „Die Haarfarbe meiner Frau kenne nur ich!“ Wie, glauben Sie, kann man dieses Denken und Fühlen durchbrechen, das wir Europäer empörend finden in unserem Freiheitsimpuls?
Dieser Frage war ein kleines Geplänkel vorausgegangen, bei dem ich zu Elham gesagt hatte: „In Deutschland hast du die Wahl: Du kannst dich montags verschleiern – und dienstags den Schleier ablegen – am Mittwoch wieder verschleiern“ et cetera. Nach diesen von mir lachend vorgebrachten Sätzen kam sie hinter mir hergelaufen in die Küche und umarmte mich sehr innig. Um mir „für alles zu danken“. Dem folgte die Szene, in der ihr Mann besitzergreifend erklärte: „Die Haarfarbe meiner Frau kenne nur ich!“ Und allen am Tisch war klar, was er damit sagen wollte. Hesham ist also einerseits der wirklich nette, sehr sympathische Mann – und gleichzeitig ein Patriarch. Und zwar ein schon jetzt verunsicherter Patriarch. Das ist immer heikel. Er hatte sich zwei Jahre vor dem Wiedersehen auf den Weg gemacht. Was hat seine Frau in der Zeit alles erlebt? Und natürlich war sein ältester Sohn, der jetzt etwa acht ist, in der Zeit der Chef der Familie. Das ist wie bei uns nach dem Zweiten Weltkrieg. Da kamen die Männer zurück – und sahen plötzlich, dass ihre Frauen selbstständig geworden waren und die Söhne die Familienchefs. Heute können wir nur hoffen, dass so gebildete Ehepaare wie Hesham und Elham – sie ist Arabischlehrerin, und die beiden haben sich an der Uni kennengelernt –, dass sie unser Angebot von Freiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter Stück für Stück annehmen. Aber das braucht Zeit.

Was macht Sie wütender: die Haltung des Mannes oder die Sanftmut, man kann auch sagen, Demut, der Frau?
Wütend? Weder noch. Ich verstehe das alles nur zu gut. Ich habe ja auch gelernt zu verstehen, wenn eine deutsche geschlagene Frau aus dem Frauenhaus ein-, zwei- oder gar dreimal wieder zu ihrem Mann zurückkehrt. Und sich weiter schlagen lässt. Die inneren Fesseln sind eben oft mindestens so stark wie die äußeren. Aber als Gesellschaft sind wir natürlich in der Pflicht, den hierher Geflüchteten aus rückständigen und hierarchischen Geschlechterverhältnissen dringlich nahezulegen, die hiesige Gleichberechtigung anzunehmen. Und da müssen die Frauen natürlich genauso dazulernen wie die Männer.

Eva Quistorp betreut seit einem Jahr intensiv ein afghanisches Mädchen, dessen Mutter auf der Flucht starb. Das Kind saugt alles hier begierig auf, ist eine Lernende. Im Gegensatz zum verhaltenen Vater. Wie mit diesen Männern umgehen?
Solche Männer müssen in die Pflicht genommen werden. Das Recht, hier zu sein, muss mit der Pflicht des Erlernens der Sprache und der Akzeptanz von Rechtsstaat und Grundgesetz verknüpft werden. Überhaupt müssen wir endlich aufhören, naiv zu sein! Wir müssen sowohl den verbohrten Patriarchen wie auch den islamistischen Agitatoren offensiv entgegentreten. In den türkischen Communitys agitieren die von Iran oder Pakistan ideologisch aufgerüsteten und von Saudi-Arabien oder Katar finanzierten Islamisten ja schon seit Anfang der 1990er-Jahre. Ungestört. Jetzt verschärft sich die Lage durch die Flüchtlinge und die vielen Illegalen. Aus manchen Flüchtlingslagern ist zu hören, dass sie quasi in der Hand der Islamisten sind und die das Gesetz machen. Und an die so genannten „unbegleiteten Jugendlichen“, die natürlich besonders beeinflussbar sind, auch via soziale Medien, denke ich schon lange mit Schrecken. Dem allen müssen wir endlich entschieden begegnen: mit Angeboten zur Integration – aber auch mit Sanktionen, wenn das nicht passiert. Das Gastrecht bringt nicht nur Rechte mit sich, sondern auch Pflichten.

Neben dieser syrischen Familie kümmern Sie sich auch um eine afghanische, die seit einem Jahr in Ihrer Nachbarschaft lebt. Frappierend ist hier der Freiheitsdrang der jungen Frau, die sich in ihrer Jugend unter der Burka verbergen musste.
Individuen sind eben unterschiedlich. Aber Karima zum Beispiel nimmt sich in Deutschland zwar mit Freude die neuen Rechte, ist aber recht zögerlich mit den neuen Pflichten. Sie ist zurzeit im fünften Monat schwanger – und findet, da muss sie nicht mehr zum Deutschunterricht, weil sie ja schwanger ist und „Deutschland ein Kind schenkt“, wie sie es formuliert hat. Es ist ihr und ihrem Mann vielleicht gar nicht klar, was für eine Chance das ist, dass Nachbarn für sie je 1000 Stunden Deutschunterricht erkämpft haben, gratis! Und ich sehe, dass die sympathische Karima zwar all die neuen Freiheiten genießt, aber nicht im Traum daran denkt, neue Pflichten zu übernehmen. Doch eine emanzipierte Frau sein, das heißt ja nicht nur, dieselben Rechte haben wie ein Mann, sondern auch: dieselben Pflichten. Auch die Karimas dieser Welt müssen dringend dazulernen, und zwar nicht nur die muslimischen.

Karimas Mann ist willig und lernt Deutsch. Er umarmt Sie, die fremde Frau, sogar. Haben Männer wie er begriffen, wie Gastfreundschaft und Freundlichkeit funktionieren?
Dass Sattar, Karimas Mann, mich umarmt, ist ganz spontan und kommt von Herzen. Übrigens: Auch Hesham hat mich früher umarmt, bevor seine Frau da war. Seither aber gibt er mir steif die Hand. Jetzt will er die alten Konventionen wieder. Vor allem seine Frau soll sich wohl daran halten.

Wir sprechen viel und gerne abstrakt von Integration und Deutschkenntnissen. Es gab mal einen Film über Europäer in Japan: Sie verstanden nur Bahnhof, sie waren „Lost in Translation“. So geht es sicherlich auch vielen Flüchtlingen, außer, dass sie Handys nutzen. Wie kann man „Deutschwerdung“ lernen?
Ganz ehrlich: Ich halte die Hürden des Verständnisses nicht für sooo hoch. Auch wenn man nicht die gleiche Sprache spricht, sieht und fühlt man doch vieles. Die Ähnlichkeiten zwischen den Menschen sind viel größer als ihre Unterschiede. Aber natürlich lassen gerade diese Männer aus den ungebrochen patriarchalen Ländern, die außerdem im Krieg Opfer oder Täter waren – so manches Mal auch beides – nicht so leicht von ihrem Überlegenheitsstatus als Mann. Hinzu kommt ihre Verunsicherung und Entwertung in der neuen Gesellschaft.

Hesham und Elham wollen Sie demnächst einladen. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft zeichnet viele Kulturen aus. Wie werden Sie weiter helfen? Und hat Sie die persönliche Begegnung verändert?
Ich freue mich auf das Wiedersehen und bin auch sehr gespannt, wie es weitergeht. Nein, die Begegnung mit Hesham und Elham hat mich nicht grundsätzlich verändert. Es hat mich allerdings erschüttert zu sehen, wie die Kinder zusammenzucken und ängstlich nach oben gucken, wenn ein Flugzeug kommt. Das tut mir so bitter leid. Und es erinnert mich an meine kleine Freundin in dem fränkischen Dorf, die etwas älter war als ich, wie sie in den Jahren nach 1945 schreiend ins Haus lief, sobald am Himmel ein Flugzeug auftauchte. Wir sind da also wirklich in der Pflicht. Nicht zuletzt, weil der Westen nicht ganz unschuldig ist an den Kriegen und Bürgerkriegen, vor denen die Menschen heute flüchten. Aber die in diesen Ländern verschärften Probleme und Widersprüche von Frauen und Männern waren mir natürlich grundsätzlich schon vorher klar. In den Herkunftsländern der Flüchtlinge sind Frauen ja total rechtlos, im Status von Unmündigen. Und Gewalt gegen Frauen und Kinder ist ein Herrenrecht. Wie früher, vor der Frauenbewegung, bei uns. Auch darum finde ich die aktuelle Polarisierung in Deutschland bei der Flüchtlingsfrage so absurd: in hie Fremdenfreunde und da Fremdenfeinde. Für mich ist es selbstverständlich, Menschen, die Hilfe brauchen, zu helfen – aber darum nicht die Augen zu verschließen vor den Problemen, die sie mitbringen. Und die sind gewaltig.

Wird die deutsche Gesellschaft es schaffen, dass diese doch kulturell sehr weit von uns entfernten Menschen nicht nur mit den Füßen ankommen, sondern mit Herz und Verstand?
Dazu müssen beide beitragen: wir Deutschen und die zu uns Geflüchteten. Auch wir brauchen dazu Herz und Verstand. Wir dürfen vor den Problemen nicht die Augen verschließen, sie nicht negieren. Damit tun wir niemandem einen Gefallen: nicht uns und nicht den anderen. Denn natürlich will ein Mann wie Hesham zum Beispiel nicht mit diesen kleinen Halunken aus Algerien und Marokko in einen Topf geworfen werden, vor denen er an Silvester die weinende Amerikanerin geschützt hat.

Köln und die sich häufenden Meldungen über sexuelle Übergriffe und Attacken: Wie halten Sie die Balance zwischen den öffentlichen Negativzeichnungen und Ihren persönlichen Erlebnissen?
Ganz einfach: Ich sehe den Menschen. Und messe ihn an seinen Taten, egal welcher Herkunft oder welchen Glaubens er oder sie ist. Und ich weiß ja auch schon länger, dass das Leben nicht immer nur schwarz-weiß ist, sondern es viele, viele Schattierungen dazwischen gibt.

Das Interview führte Andrea Seibel, es erschien in der WELT.

In der WDR-Mediathek: "#koelnhbf - Die Silvesternacht und ihre Folgen"

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Alice Schwarzer schreibt

Schwarzer zieht Bilanz: Ein Jahr danach

Schwere Anschuldigungen: Hat die Polizei die Frauen im Stich gelassen? - © Maja Hitij/dpa
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Zehn Monate danach rede ich noch einmal mit ihr: Claudia Vosen, 49, alleinerziehende Mutter einer 16-jährigen Tochter und Quasi-Mutter des 14-jährigen Sohnes ihres Lebensgefährten. Die vier waren am 31. Dezember 2015 auf dem Weg zum Feuerwerk am Rhein im Kölner Bahnhof in den Silvester-Horror geraten. Claudias Lebensgefährte war abgedrängt worden, und sie war zusammen mit dem Jungen und dem Mädchen in den „Höllenkreis“ geraten. „Meine Tochter war hinter mir. Das war der Fehler. Sie ist blond.“ Nach einer unendlich langen halben Stunde spuckte die rasende Männermeute die vier wieder aus.

Für mein Buch „Der Schock“ hatte Frau Vosen mir das Erlebte eindrücklich geschildert. Und jetzt, ein paar Wochen vor Silvester 2016? „Silvester bleibe ich zuhause“, sagt Claudia Vosen. „Meine Tochter will feiern gehen, aber …“ Ohne Pfefferspray gehen Mutter und Tochter seither nicht mehr aus dem Haus. „Ich bin sonst gar nicht so der ängstliche Typ“, sagt sie. „Und ich ärgere mich richtig darüber, dass mir das jetzt immer bewusst ist. Vor allem – dass ich meine Kinder nicht schützen konnte!“ Überfüllte Busse oder auch Menschenansammlungen meidet sie seither. „Obwohl wir doch so gerne in Konzerte gehen.“

Claudia Vosen hat neun Monate lang eine Therapie gemacht, einmal die Woche. „80 Prozent liegen jetzt hinter mir. Aber das heißt ja nicht, dass ich es vergessen hätte. Karneval haben wir diesmal gar nicht gefeiert. Dabei sind wir doch echt kölsche Jecken. Und meine Tochter ist auch nicht zu Halloween gegangen.“

Verfahren eingestellt.
Täter konnte nicht ermittelt werden.

Im Juli war „der Schrieb von der Polizei“ gekommen: Verfahren eingestellt, Täter konnte nicht ermittelt werden. „Das hatte ich erwartet“, sagt Frau Vosen. „Aber trotzdem war es natürlich niederschmetternd.“

Auch der Wiesbadener Rechtspsychologe Prof. Rudolf Egg legt knapp zehn Monate nach der Kölner Silvesternacht dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss von NRW seine Stellungnahme vor. Analysiert werden konnte darin allerdings nur ein Aspekt des Geschehens: nämlich die sich in den Anzeigen niederschlagende Sicht der Opfer. Die Analyse der polizeilichen und politischen Kommunikation steht noch aus. Wir dürfen gespannt sein.

1000 der insgesamt 1580 Anzeigenden sind Frauen. In zwei von drei Fällen ging es dabei um Sexualdelikte, allein oder in Kombination mit Diebstählen. Das Gutachten, das Prof. Egg am 24. Oktober präsentierte, liegt EMMA vor. Was sich daraus ergibt, ist noch viel erschreckender als das, was bisher schon bekannt war.

Allem voran das Versagen der Polizei. Auch ich hatte bisher die These vertreten, die Polizei sei selber Opfer gewesen: Opfer eines politischen Tabus beim Umgang mit Migranten und Flüchtlingen, sowie ihrer Überforderung vor Ort. Doch folgt man den Aussagen der Frauen, war die Polizei nicht nur abwesend oder überfordert, ­sondern hat zum Teil auch bewusst weggesehen oder sogar die Klagen der Frauen einfach nicht ernst genommen. Hier ein paar Stimmen aus den Anzeigen:

„Wir sind mit einer Gruppe von Frauen an der Wand entlang in Richtung Bahnhof gegangen. Wir haben dann zwei Polizisten angetroffen und ihnen erzählt, was passiert ist und ob sie uns helfen könnten. Einer von den Polizisten sagte: Geht weiter und fahrt nach Hause, ich kann euch nicht helfen.“

„Wir sind dann in Richtung des Domes gegangen, da wir dachten, dass dort mehr Polizei sei und wir sicherer wären. Aber auch dort wurde unkontrolliert mit Raketen geschossen, Polizei haben wir gar nicht gesehen. Auch dann haben immer wieder Gruppen von Männern versucht uns einzukesseln. Wir sind dann um die Ecke gegangen und sind dort auf einen leeren Streifenwagen gestoßen. Nach etwa fünf Minuten kamen vier Polizisten, zwei Männer und zwei Frauen. Die sind in den Streifen­wagen eingestiegen und weggefahren …“

"Wir haben um Hilfe gebeten.
Er hat uns zurück in die Menge geschoben."

„Unmittelbar nach dem Feuerwerk wollten wir über den Domplatz die Domtreppen wieder hinunter zum Bahnhof. Dort stießen wir auf eine riesige Menge von nordafrikanischen Männern, die offenbar von einer Gruppe vermummter Polizisten aufgehalten worden sind. Wir haben uns durch die Menge durchgekämpft und sind zu einem Polizisten gelangt. Wir haben ihn um Hilfe gebeten, er hat uns aber zurück in die Menge geschoben. Ich gelangte dann zu einer Polizistin, die ich um Hilfe gebeten habe. Sie war noch pampiger als der erste Kollege und hat uns ebenfalls zurück in die Menge geschickt. Uns wurde das Gefühl gegeben, dass man als Frau nichts wert sei und dass man angefasst werden konnte, wie es den Männern gefallen hat. Man fühlte sich absolut wehrlos.“

„Meine Freundin hat dann einen Polizisten angesprochen, der vor diesem Ausgang stand. Ich habe ihm geschildert, was mir passiert ist und habe ihm auch die Männer gezeigt, denn sie waren noch vor Ort. Sie machten nicht den Eindruck, dass sie nun auf der Flucht wären, im Gegenteil: Die Gruppe der Männer hat hinter dem Eingang immer weitergemacht und auch andere Leute belästigt. Und dies alles unter den Augen des Polizisten. Deshalb habe ich den Polizisten aufgefordert hier einzugreifen, was er allerdings nicht getan hat. Er sagte zu mir persönlich: ‚Da kann ich nichts machen‘.“

„Wir sind in dieser Nacht von ca. sieben Männern, die untereinander Arabisch geredet hatten, bedrängt worden. Wir wurden an die Wand gedrückt und zwischen den Beinen, an den Brüsten und am Kopf betatscht. Einer dieser Männer fasst mir zwischen die Beine, leckte sich seine Finger danach ab und versuchte dann, mir diesen Finger in den Mund zu stecken. Als wir uns wehrten, wurden wir auf das Übelste ­beschimpft und brutaler angefasst. Wir haben uns losgerissen und sind Richtung Breslauer Platz gelaufen. Diese Männer liefen uns nach, im Bereich des Kreisverkehrs standen an der Ecke zwei Polizisten. Beide Beamte sahen uns und auch klar und deutlich diese Täter. Wir sprachen die Beamten an, dass wir Hilfe benötigten und versuchten alles in der Hektik zu schildern. Der eine Polizist ließ uns nicht ausreden, der andere drehte sich in Richtung Rheinufer und tat so, als ob er da etwas Wichtiges zu schauen hätte. Uns wurde dann erklärt, wir sollten uns beruhigen, es sei sicherlich nicht so schlimm gewesen. Sie könnten uns nur raten, da nicht mehr hineinzugehen, sie würden es auch nicht tun. Meine Freundin schrie den Beamten an, dass es da drin brutal zuging. Er ermahnte uns, mit ihm anständig zu reden. Es kamen noch andere Frauen herbei und wir waren uns alle einig, beide Beamte wollten oder durften nichts unternehmen. Es wäre sicherlich ­einfach gewesen, als wir auf beide zuliefen und um Hilfe riefen, sofort einen der Täter, der dicht hinter uns war, festzuhalten. Die ­Beamten taten das nicht.“

„Meine Freundin aus Köln war völlig fertig. Sie war am Weinen und hat uns erzählt, dass sie einen Finger im Po hatte ... Ich möchte noch dazu sagen, dass wir am Brückenkopf die dort stehende Security ­angesprochen und die Situation geschildert haben. Die haben uns aber nicht ernst ­genommen. Eine Frau hat zu mir gesagt, dass man als junge Frau an solchen Tagen solche Orte meiden soll. Die Art und Weise, wie die Security reagiert hat, hat mich ­richtig geärgert. Es war nicht so, dass die zu viel zu tun hatten. Vielmehr standen die in Gruppen zusammen und haben sich unterhalten.“

Die Männer bildeten sogar Reihen, durch die sie die Frauen jagten

Das klingt beunruhigender, als bisher bekannt. Neu ist auch, dass es nicht nur die Methode „Höllenkreis“ gab, bei dem 5 bis 20 Männer die Frauen umringten, ihnen an den Po, in den Schritt und „in alle Öffnungen“ fassten (und sie häufig in den After oder in die Vagina penetrierten). Die Männer bildeten auch Reihen, an denen entlang sie die Frauen ­jagten. In manchen Fällen jagten sie die Frauen auch zwischen zwei Reihen durch. Und jeder griff zu. Wenn die Frauen empört waren oder sich wehrten, wurden sie ausgelacht. Oder als „Schlampen“ bezeichnet (Man kennt solche Szenen aus Kriegssituationen, in denen die Besatzer das mit den eroberten Frauen machen).

Nur zwei Prozent der Betroffenen erklärte, sie seien von „deutsch oder europäisch“ aussehenden Männern angegriffen worden. Alle anderen sprachen von „arabisch“ oder „südländisch“ aussehenden Männern. Und nur – oder immerhin! – ein Viertel aller Anzeigen war bis zum 2. Januar eingegangen. Dreiviertel erfolgten erst, nachdem der Skandal öffentlich geworden war, die Opfer sich also durch die allgemeine Empörung ermutigt fühlen konnten.

Im Laufe des Abends erschall auch mindestens einmal der Ruf „Allahu Akbar“ (Allah ist groß), das ist auf einem der Videos zu hören. Und ein aus Syrien stammender Arzt berichtete der Polizei, er sei an dem Silvesterabend im Bahnhof von einem Mann aufgefordert worden, sich „an den Diebstählen zum Nachteil der ‚Kufar‘ (Ungläubige) zu beteiligen. Die hätten schließlich auch den Krieg in die arabischen Staaten gebracht. Deshalb kann man sie hier ruhig schädigen.“ Die Person habe „sprachlich aus Libyen“ gestammt.

Die Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren, hatten von Anbeginn an darauf aufmerksam gemacht, dass es sich um „nordafrikanisch oder arabisch“ aussehende und sprechende Männer gehandelt habe. Sie waren deswegen zunächst als „Rassistinnen“ beschimpft worden. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Erst allmählich war die bittere Wahrheit durchgedrungen: Die Täter waren nicht nur aus diesen Ländern, sondern zu fast hundert Prozent Asylbewerber und Illegale gewesen; überwiegend aus Marokko und Algerien, einige auch aus Syrien.

Das Gutachten geht davon aus, dass die über 2000 Männer sich auf dem Bahnhofsvorplatz verabredet hatten, via Facebook oder Handy sowie Mundpropaganda in den Flüchtlingslagern. Es lässt offen – und muss offen lassen –, ob die Täter in ihrer Mehrheit mit verbrecherischen Absichten angereist waren, oder ob sich das erst im Laufe des Abends entwickelt hat. Denn das ist aus den Anzeigen nicht zu erkennen. Dazu müssten auch die polizeilichen und juristischen Erkenntnisse ausgewertet werden.

Schon gegen
18 Uhr hatten Männer randaliert, den Dom mit Böllern beschossen

Es handelte sich auf jeden Fall um zahlreiche, mobile Tätergruppen. Die Gutachter halten für wahrscheinlich, dass die Stimmung im Laufe des Abends eskalierte, was mit der „Broken Windows-Theorie“ zu erklären sei. Danach eskalieren solche Massengewalt-Situationen, wenn ihnen nicht früh Einhalt geboten wird. Was in Köln der Fall war. Schon gegen 18 Uhr hatten am Silvesterabend hunderte dieser überwiegend jüngeren Männer randaliert und u.a. die Fenster des Doms mit Böllern beschossen. Und zwar so stark, dass bei den etwa 3000 Menschen in der Abendandacht beinahe eine Panik ausgebrochen wäre. Doch die Polizei schritt nicht ein.

Ich sehe durch den jetzigen Erkenntnisstand meine frühen Thesen in dem im Mai herausgegebenen „Schock“ bestätigt. Die Männer hatten sich verabredet, um auf ihre Art zu „feiern“. vermutlich gab es eine Handvoll Initiatoren; Leute, die genau wussten, was sie da planten, als sie die „Einladung“ zu der Kölner „Silvesterfeier“ an die Flüchtlinge und Illegalen aus mus­limischen Herkunftsländern lancierten.

Doch warum Köln? Der Platz liegt verkehrstechnisch zentral; die Kölner Polizei und Justiz ist für Milde bekannt; und der Dom, das wichtigste Heiligtum im christlichen Abendland, steht auch da.

Die Nachricht hat sich dann lawinenartig verbreitet, wohl innerhalb von Tagen oder gar Stunden. An Silvester sind die Männer vermutlich in den unterschiedlichsten Stimmungen und Absichten angereist. Dass für die meisten der Horrorabend nicht die erste Jagd auf Frauen war, zeigt ihre Routine beim „Frauenklatschen“: vom Bilden des „Höllenkreises“ bis hin zu den „Schandreihen“. Die Täter haben schwarmartig agiert. Im Laufe des Abends ist das Ganze dann immer mehr eskaliert. Die Haupttatzeit für die sexuellen Gewalttaten lag laut Gutachten zwischen 20.30 Uhr und 23.30 Uhr.

Die Opfer berichteten in ihren Anzeigen von ihrer "Todesangst" 

Die Opfer machen in ihren Anzeigen immer wieder darauf aufmerksam, dass die Männer „überhaupt keine Hemmungen“ mehr hatten, auch wenn Polizei in Sicht war. Und dass sie selber „Todesangst“ hatten. Auch, dass sie als Frauen nicht ernst genommen und mit Verachtung behandelt wurden, von den Tätern wie auch von vielen Polizisten und Polizistinnen. Viele der Opfer sind nach dem traumatischen Erlebnis in dieser Nacht bis heute in Therapie.

Es hatte an diesem Abend aber selbstverständlich auch „die guten Araber“ gegeben. Sie waren eher zufällig am Kölner Bahnhof. Wie der zitierte syrische Arzt oder der Syrer Hesham und seine Freunde. Hesham hat an diesem Abend eine der überfallenen und weinenden Frauen beschützt, die Amerikanerin Caitlin Duncan, und ihr sogar geholfen, ihren von den Tätern abgedrängten Freund in der Menge wiederzufinden.

Ich habe Hesham, dem ich Wochen später zufällig in seinem Wohnort Waldbröl begegnete, im „Schock“ ein kleines Denkmal gesetzt. Und ich habe Kontakt zu ihm gehalten – und mich gefreut, ihm auch meinerseits helfen zu können. Seine Frau und seine beiden kleinen Söhne waren noch im Frühling im Bombenhagel von Aleppo. Im Mai wagte die Frau dann mit den Kindern die Flucht in die Türkei, zwei Wochen zu Fuß durch die Berge – und da saß sie nun auf der Straße. Und ein total verzweifelter Hesham konnte nichts tun.

Ich habe es dann geschafft, mit Hilfe der sehr verständnisvollen deutschen Botschaft in Ankara, Heshams Familie im Juni nach Deutschland zu holen. Als ich die ­Familie zu mir einlade, erzählen sie mir ihre Geschichte: Hesham und Elham hatten sich an der Universität in Aleppo zum ersten Mal gesehen; er studierte Englisch, sie Arabisch. Die beiden haben – selbstverständlich ohne jemals vorher auch nur eine Minute allein zusammen zu sein – geheiratet und beide als Lehrer ­gearbeitet.

An diesem Sommertag in meinem Garten schlägt die sanfte Elham bei Tisch die ganze Zeit die Augen nieder, während ihr Mann redet und ihre Söhne rum­toben. Als ich in die Küche gehe, kommt sie hinter mir hergelaufen und umarmt mich innig. Elham ist islamisch verschleiert. Irgendwann frage ich sie lachend, welche Haarfarbe sie denn habe. Da antwortet Hesham für sie: „Die Haarfarbe meiner Frau kenne nur ich!“

Die Familie
aus Aleppo
hat bereits
Zukunftspläne

Die Familie aus Aleppo hat Asyl und Hesham, der schon nach einem Jahr gut Deutsch spricht, bereits einen Plan für die Zukunft: Er will zusammen mit seiner Frau Arabischunterricht geben. Nicht nur für Deutsche, sondern auch und vor allem für Landsleute, die nicht selten Analphabeten sind.

So wie Sattar, der Mann der afghanischen Familie in meiner Nachbarschaft. Um sie kümmere ich mich seit einem Jahr. Der 27-jährige Sattar lernt gerade zum ersten Mal Lesen und Schreiben: auf Deutsch. Er ist von Beruf Anstreicher, sehr offen und lacht gerne. Bei der Begrüßung umarmt er mich. Seine 26-jährige Frau Karima trug vor einem knappen Jahr noch ein Kopftuch, das allerdings schon damals bedenklich rutschte. Ostern hatte sie bereits einen wippenden Pferdeschwanz und griff auch mal zur Zigarette. In Afghanistan war Karima ab ihrem zwölften Lebensjahr unter die Burka ­gezwungen worden.

Die beiden sind seit elf Jahren verheiratet, sie war 15, er 17. Sie hatten sich vor der Eheschließung noch nie gesehen. Doch sie hatten Glück. Sie verstehen sich gut und haben zwei besonders nette Kinder: die temperamentvolle, eigenwillige Nahit, die am liebsten auf Bäume klettert und dank nachbarschaftlicher Unterstützung jetzt Schwimm- und Musikunterricht hat, und der eher schüchterne, gern schmollende Nima, dem gerade sein größter Wunsch erfüllt wurde: Er ist im Fußballverein. Beide Kinder gehen seit Monaten in die deutsche Schule. Als Nahit mit wehendem Haar an uns vorbeirennt, schaut die Mutter ihr nach und sagt: „In Afghanistan müsste meine Tochter jetzt unter die Burka.“

Vor ein paar Wochen war das gefürchtete „Interview“, die Anhörung. Im 50 Kilometer entfernten Bonn, morgens ab 7.30 Uhr. Ich weiß nicht, wie die Bürokraten sich vorstellen, wie auto- und orientierungslose Flüchtlinge das zu der Uhrzeit schaffen sollen. Ich habe die beiden also an dem Morgen nach Bonn gefahren – nicht zuletzt in der Hoffnung, mal mit eigenen Augen zu sehen, wie das geht. Pustekuchen. Ich wurde gleich am Tor abgewiesen. Und die beiden kamen erst abends um acht wieder raus. Sie haben dank meiner Anleitung via Handy dann mit Zug und Bus die 50 Kilometer allein zurückgefunden.

Nicht nur mit den Füßen ankommen, sondern auch mit Herz und Verstand

Kürzlich kam die gute Nachricht: Sie haben ihn, den Flüchtlingsstatus! Die ­Familie kann mindestens drei Jahre bleiben. Bedingung: der Wille zur Integration und das Erlernen der deutschen Sprache. Doch neuerdings geht Karima nicht mehr zum Deutschunterricht. Sie ist im fünften Monat schwanger und verkündet: „Ich schwanger. Ich nicht Deutschunterricht.“ Und dann erklärt sie mir radebrechend, dass Deutschland ja zu wenig Kinder habe und sich sicherlich freue, dass sie jetzt ein Kind bekommt.

„Meine“ afghanische Familie ist also in einer genau umgekehrten Lage wie „meine“ syrische Familie. Die neuen Sitten fallen Sattar und Karima leicht, ja sind willkommen, zumindest was die neuen Rechte angeht – aber werden beide auch die Pflichten ernstnehmen? Eines ist klar: Auch unter guten Bedingungen wird die Integration von hunderttausenden Menschen aus ihren fernen Ländern dauern. Vermutlich gelingt sie in der Regel erst in der nächsten Generation.

Geben wir den Flüchtlingen also eine reale Chance! Die Chance, nicht nur mit den Füßen hier anzukommen, sondern auch mit Herz und Verstand. Nicht nur die Männer aus diesen patriarchalisch ­geprägten und islamistisch verhetzten Ländern haben Nachholbedarf, auch die Frauen müssen ihre neuen Chancen erkennen. Und wir westlichen Frauen haben das Recht darauf, nicht zurück­gestoßen zu werden in archaische Verhältnisse.

Karima wird zurzeit gut zugeredet, ­unbedingt den Deutschunterricht wahr­zunehmen, viermal die Woche. Und demnächst wollen Hesham und Elham mich zum Essen einladen. Ich bin gespannt.

Alice Schwarzer

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