Alice Schwarzer in anderen Medien

„Grenzen sind sinnlos“

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Frau Schwarzer, nach den bisherigen großen Bemühungen, der Flüchtlingsströme aus Syrien, Afghanistan und vielen weiteren Krisenherden Herr zu werden, wird nun allerorten in Europa, auch in Österreich, ein Dichtmachen der Grenzen diskutiert. Ein probates Mittel, der allseits beschworenen Bedrohung des Westens Einhalt zu gebieten?
Alice Schwarzer: Nein, geschlossene Grenzen sind sinnlos. Sie wären nur mit Gewaltausübung haltbar, und selbst dann werden sie von Menschen, die entschlossen sind, überwunden. Ich bin der Meinung von Kanzlerin Merkel, dass wir Menschen, die vor Krieg und Gewalt flüchten, aufnehmen müssen. Nicht zuletzt, weil der Westen mitverantwortlich ist für Krieg und Zerstörung. Aber wir müssen genauer hinschauen, wer kommt. 57 der heute 73 Beschuldigten der Kölner Silvesternacht waren Marokkaner und Algerier. In diesen Ländern aber ist kein Krieg — und weniger Gewalt als zum Beispiel in Saudi-Arabien oder im Iran. Darum wird Deutschland Nordafrika zu Recht demnächst zu sicheren Herkunftsländern erklären.

Die vollkommene Laisierung in Frankreich wird von vielen als gescheitert betrachtet, da sich im Windschatten der „Privatisierung von Religion" radikale Parallelgesellschaften formiert haben — mit furchtbaren Folgen, siehe 13. November in Paris. Gibt es da einen Mittelweg?
Die strikte Trennung von Staat und Religion ist unsere einzige Rettung! Nur so können wir den fundamentalistischen religiösen Tendenzen Einhalt gebieten, die aus Demokratien Gottesstaaten machen wollen. Das November­Massaker in Paris ist keine Folge von Laizismus, sondern eine Folge falscher Toleranz und mangelnder Integration. Frankreich hat, genau wie Deutschland, jahrzehntelang weggeschaut bei der Agitation der Islamisten in den Ban­lieues. Die von Iran oder Pakistan ideologisch und Saudi-Arabien finanziell munitionierten Scharia-Muslime geben Eltern Geld, wenn die Töchter sich verschleiern, sie rauben den Mädchen ihre Freiheit und sie verführen die arbeitslosen Jungen zu Gewalt und Hochmut, bis hin zum „heiligen Krieg". Dem hätten wir offensiver Einhalt gebieten müssen, gegenhalten mit unseren Werten: Rechtsstaat, Religionsfreiheit, Gleichheit der Geschlechter. Stattdessen haben wir das unter „Glaubensfreiheit" laufen lassen. Dabei ist der seit Khomeini politisierte Islam keine Glaubensfrage, sondern eine politische Machtstrategie.

In Ihrem 2011 erschienenen Buch „Die große Verschleierung" forderten Sie ein Kopftuchverbot in Deutschland. Ist das Kopftuch für Sie nach wie vor ein Kernpunkt der Integrationsdebatte?
Ich war noch nie für ein generelles Kopftuchverbot, sondern lediglich für ein Kopftuchverbot in den Schulen und im öffentlichen Dienst. 70 Prozent aller Musliminnen in Deutschland haben noch nie ein Kopftuch getragen, und sogar jede zweite sich selbst als „streng religiös" einstufende Muslimin trägt kein Kopftuch. Das zeigt: Das Kopftuch ist keine Glaubensfrage. Es ist die Flagge des Scharia-Islams, egal, welche individuelle Motivation die individuelle Frau fürs Kopftuchtragen jeweils hat. Doch in den islamisch beherrschten Ländern ist es eine Frage auf Leben und Tod für die Frauen. Das Kopftuch hat also schon lange seine Unschuld verloren.

Wäre eine gezielte Förderung muslimischer Frauen und Mädchen zielführend oder würden Sie im Rahmen der Integration eher bei der Sensibilisierung von männlichen Jugendlichen und Erwachsenen gegenüber westlicher Kultur und vor allem Frauenrechten ansetzen?
Es ist doch selbstverständlich, dass wir die Chance zu einer wirklichen Integration genauso an die Frauen herantragen müssen wie an die Männer. Für die Mädchen heißt das: Wir müssen ihnen Schutz bieten vor Unterdrückung und Gewalt, sie müssen dieselben Chancen und Freiheiten haben wie ihre deutschen Freundinnen. Und die Mütter müssen raus aus den Häusern, Deutsch lernen! Den jungen Männern müssen wir beibringen, dass nicht das gefährliche Spiel mit der Gewalt sie weiterbringt, sondern Bildung. Diese Angebote sollten natürlich auch mit Verpflichtungen verbunden sein, sonst greifen sie nicht.

Seit den Übergriffen der Kölner Silvesternacht hat das Thema der sexuellen Gewalt ein „dunkles Gesicht". Verschleiert das nicht die Diskussion um Nötigung und Missbrauch, die sich ja, oft begleitet vom Wegschauen der Zivilgesellschaft, besonders häufig im familiären engeren Rahmen abspielt?
Wir sollten uns jetzt vor Hysterie und Rassismus hüten. Die Männer am Kölner Bahnhofsplatz waren nicht irgendwelche Männer. Diese Männer hatten sich dort verabredet, wie wir inzwischen wissen, via Facebook und Twitter. Und sie sind nicht zum Feiern gekommen, denn auf dem öden Bahnhofsplatz feiert in Köln kein Mensch, Silvester wird am Rhein gefeiert. Sie sind zum Frauenklatschen gekommen. Das war eine Machtdemonstration, die nicht nur die Frauen gedemütigt hat, sondern auch deren Männer, die sie nicht schützen konnten. Und Vater Staat, der seine Bürgerinnen nicht geschützt hat. So etwas — zehn Stunden lang ein rechtsfreier Raum mitten in einer Millionenstadt — hat es in Deutschland noch nie gegeben. Das kannten wir bisher nur aus arabischen Ländern, zum Beispiel vom Platz Tahrir in Kairo. Und dabei ging es den Aggressoren nicht um Lust, sondern um die Vertreibung der Frauen aus dem öffentlichen Raum. Sicher, wir kennen ebenso die sexuelle Gewalt, die auch in unserer Kultur epidemisch und strukturell ist. Meine Feministinnen-Generation kämpft seit 40 Jahren dagegen — zum Teil mit Erfolg. Die Opfer schämen sich nicht mehr, sondern wissen, dass die Täter sich schämen müssen. Dahinter wollen wir nicht zurückfallen!

Der islamistische Terror hat das individuelle Sicherheitsgefühl vieler, gerade auch weltoffener Menschen stark irritiert. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Ich warne vor dem Islamismus seit 1979, seit ich wenige Wochen nach der Machtergreifung Khomeinis in Teheran war. Seither hat EMMA über alle Etappen des islamistischen Siegeszuges berichtet: Afghanistan, Tschetschenien, Algerien, Ägypten und der ganze Nahe Osten. Seit Ende der 1980er-Jahre agitieren die Islamisten auch mitten in Europa. Dieser Islamismus ist der Faschismus des 21. Jahrhunderts. Für mich ist das also alles nicht neu. Aber es nimmt in der Tat noch beklemmendere Formen und Ausmaße an, als ich befürchtet habe. Wir müssen uns endlich auf unsere Werte besinnen und die selbstbewusst und offensiv vertreten. Und wir müssen der friedliebenden Mehrheit der von den Islamisten bedrohten Musliminnen und Muslime in der Welt und in unseren eigenen Ländern beistehen.

Die Fragen stellte Bernadette Lietzow für die Tiroler Tageszeitung (05.03.2016).

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"Da bin ich aber erleichtert"

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SPIEGEL: Frau Schwarzer, Frau Wizorek, was haben wir in der Silvesternacht in Deutschland erlebt: einen besonders krassen Fall von Sexismus oder die Folge einer missglückten Einwanderungspolitik?

Wizorek: Die Ereignisse sind schrecklich und in ihrer Massivität neu. Deswegen müssen wir uns auch genau anschauen, was da passiert ist. Ich hoffe sehr, dass die Täter gefasst werden. In der Debatte setzen wir aber leider den falschen Schwerpunkt. Es ist falsch, dass wir nur dann über sexualisierte Gewalt reden, wenn sie von Migranten oder Geflüchteten ausgeht.

Schwarzer: Durch die Kölner Nacht wird die gesamte Debatte über sexuelle Gewalt hochgespült. Sogar der Justizminister, der seit Jahren die notwendige Verschärfung des Vergewaltigungsparagrafen in der Schublade vergammeln lässt, hat das Gesetz jetzt wieder hervorgeholt. Aber wenn man immer nur über das Allgemeine spricht, dann läuft man Gefahr, das Spezifische zu leugnen. Zu uns sind in den letzten Jahrzehnten Millionen Menschen aus einem Kulturkreis gekommen, in dem Frauen total rechtlos sind. Sie sind unmündig, sie sind abhängig vom Vater, Bruder oder Ehemann. Das gilt für Nordafrika, und das gilt für weite Teile des Nahen ­Ostens. Und es hängt nicht immer mit dem Islam zusammen. Aber seit dem Ende der Siebzigerjahre, beginnend mit der Revolution in Iran unter Khomeini, erleben wir die Politisierung des Islam. Sie hatte von Anfang an einen Hauptgegner: die Emanzipation der Frau. Wenn nun noch mehr Männer aus diesem Kulturkreis zu uns kommen, zum Teil zusätzlich brutalisiert von Bürgerkriegen, dann ist das ein Problem. Das können wir nicht einfach ignorieren.

Wizorek: Es ist aber eben falsch, nur die Herkunft der Täter in den Blick zu nehmen. Wenn ich mir ansehe, welche Leute jetzt in die Debatte um Frauenrechte einsteigen, dann sind das unter anderem dieselben Politiker, die während der Aufschrei-Debatte 2013 noch sagten, Frauen sollten sich doch nicht so haben. Jetzt, wo Männer mit Migrationshintergrund übergriffig geworden sind, wird das instrumentalisiert, um pauschal Stimmung zu machen. Ich halte das für rassistisch.

SPIEGEL: Ist Frau Schwarzer für Sie eine Rassistin?

Wizorek: Es ist rassistisch, so zu tun, als ­seien nur Männer mit Migrationshintergrund Täter. Ich bin sehr für eine differenzierte Debatte über sexualisierte Gewalt. Diese Gewalt ist ein Problem für die gesamte Gesellschaft, für alle Geschlechter, und es darf nicht zum Standard der Geschlechterdebatte werden, dass nur männliche Migranten als Verursacher gelten. 

Schwarzer: Es ist immer richtig, genau hinzusehen. Selbstverständlich haben wir auch in Europa eine epidemische, eine strukturelle sexuelle Gewalt. Gewalt ist immer der dunkle Kern von Herrschaft. Die Männer, die nun aus dem islamischen Kulturkreis zu uns kommen, sind natürlich von den noch viel rückständigeren Verhältnissen dort geprägt. Das ist ein Problem, das wir schon viel zu lange ignorieren. Wir haben im Namen einer falschen Toleranz akzeptiert, dass Frauen wie Gefangene im Haus gehalten und zwangsverheiratet wurden. 

Wizorek: Aber da sind wir doch beim Kern. Wir müssen eine Integrationsdebatte führen. Keine Ausgrenzungsdebatte.

Schwarzer: Wer führt denn eine Ausgrenzungsdebatte?

Wizorek: Die deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Schwarzer: Ich will Ihnen mal was sagen zur Mehrheitsgesellschaft … 

Wizorek: … wir wollten uns doch duzen. 

Schwarzer: Stimmt, Anne. Also, die Mehrheitsgesellschaft ist in den letzten 25 Jahren ziemlich verarscht worden. Es gab und gibt in der Mehrheitsgesellschaft ein steigendes Unbehagen aufgrund dieser falschen Toleranz. Da gibt es Parallelgesellschaften. Da kann eine junge Frau nicht mehr durch bestimmte Viertel gehen, ohne dass einer von den Jungs ruft: „Du Schlampe!“ Ich höre das zum Beispiel von Freundinnen, die in Kreuzberg wohnen.

Wizorek:  Ich lebe in Berlin und habe das in Kreuzberg noch nie gehört. 

Schwarzer: Dann hast du Glück gehabt. Aber wenn wir weiterhin leugnen, dass es Probleme mit manchen männlichen Migranten gibt, dann treibt das die Menschen nur in die Arme der Rechtspopulisten. Ohne die Ignoranz oder Verharmlosung durch alle Parteien gäbe es weder Pegida noch die AfD.

Wizorek: Ich leugne ja nicht, dass in manchen Ländern die patriarchalen Strukturen noch stärker sind als in Deutschland. Aber der Kern des Problems ist nicht der Islam, sondern das Patriarchat. 

Schwarzer: Jetzt fängst auch du noch an, den Koran zu interpretieren. Ich muss dir sagen: Das halte ich für müßig, darauf habe ich mich noch nie eingelassen. Ich kann auch, wenn ich die Bibel lese, einige heftige Sprüche finden. Jede Religion kann missbraucht werden. Wir reden hier nicht von Religion und Glauben. Wir reden von einer Politisierung des Islam, und die bedrängt übrigens in erster Linie die Mehrheit der friedlichen Muslime, die hier in Deutschland leben.

SPIEGEL: Wenn es nicht um Herkunft geht: Wie erklären Sie sich die Vorgänge in Köln, Frau Wizorek?

Wizorek: Da noch unklar ist, ob es sich um eine organisierte Tat handelt, kann ich das nicht abschließend beurteilen. Im Prinzip sind aber Übergriffe in Gruppen kein neues Phänomen. Wenn große Männergruppen zusammenkommen und Alkohol mit im Spiel ist, dann werden oft Frauen belästigt. Das passiert um Fußballstadien, auf dem Kölner Karneval oder dem Oktoberfest. Ich bin dagegen, jetzt diese Tätergruppe allein aufgrund ihrer Herkunft herauszuziehen.

Schwarzer: Weißt du, woran ich jetzt denken muss, Anne? Du bist Anfang der Achtziger in der DDR geboren, richtig?

Wizorek:  Ja.

Schwarzer: Es ist ja völlig okay, dass du also bestimmte Dinge nicht mitbekommen hast. In den Sechziger- und Siebzigerjahren war bei der Linken im Westen eines der Hauptargumente gegen den Feminismus, dass er nur ein Nebenwiderspruch sei. So hieß das früher. Der Hauptwiderspruch war der Klassenwiderspruch. 

Wizorek: Die Diskussion ist mir bekannt.

Schwarzer: Sobald man den Mund aufmachte und das Wort Frau aussprach, wurde man niedergeknüppelt mit dem Argument, dass man den Klassenkampf verrate. Es gibt viele rührende Schriften aus der damaligen Zeit, in denen Feministinnen erst einmal seitenweise ihren Klassenstandpunkt darlegten, um dann zu ihrem eigentlichen Thema zu kommen. Das, was damals Klassenkampf hieß, heißt heute Antirassismus. Und die Drohung mit dem Rassismusvorwurf gebar die falsche Toleranz. Vor etwa 20 Jahren hat mir einmal ein verantwortlicher Polizist in Köln gesagt: „Frau Schwarzer, 70 bis 80 Prozent aller Vergewaltiger in Köln sind Türken.“ Ich war völlig entsetzt und habe gesagt: „Du lieber Gott, aber das müssen Sie doch thematisieren!“ Denn erst, wenn man ein Problem benennt, kann man es auch verändern. Und da hat er gesagt, no way, das sei politisch nicht opportun. Bei der Polizei gab es also seit Langem eine große Frustration über diese Vertuschungen. Ich glaube, das ändert sich jetzt gerade. Und das ist gut so. 

Wizorek: Aber das ist jetzt doch dieses furchtbare „Man wird ja wohl noch sagen dürfen …!“Schwarzer: Nein, es ist das Gegenteil davon. Die Menschen sind ja nicht doof. Sie haben gesehen, was los war auf dem Kölner Hauptbahnhof. Ein rechtsfreier Raum mitten in einer Millionenstadt. Das muss man ansprechen, und zwar auf eine besonnene Weise. 

SPIEGEL: Aber hat Frau Wizorek nicht einen Punkt, wenn Sie sich wundert, dass die Konservativen in der Union ihr Herz für die Sache der Frauen ausgerechnet zu dem Zeitpunkt entdecken, an dem es Probleme mit Flüchtlingen gibt?

Schwarzer: Das ist keine parteipolitische Frage. Das gilt auch für die SPD. Es gilt für alle. Die aktuelle Empörung ist ziemlich scheinheilig. Aber mich interessieren Motive schon lange nicht mehr. Mich interessiert nur, was jemand tut. Wenn die Regierung jetzt endlich den Vergewaltigungs­paragrafen verschärft – umso besser.

SPIEGEL: Ist es nicht ein gewaltiger Rückschlag für die Frauenbewegung, wenn in einem Jahr an die Hunderttausende junge Männer kommen aus Ländern, in denen das Patriarchat regiert?

Schwarzer: Ich kann doch Menschen, die im Schneematsch an der deutsch-österreichischen Grenze stehen, nicht erst einmal einen Zettel hinhalten und fragen: „Bist Du ein Islamist?“ Wenn Menschen aus Kriegen zu uns fliehen, müssen wir denen helfen. Aber wir müssen auch sehr schnell sehr genau hinsehen, wer da kommt.

Wizorek: Patriarchat gibt es bei uns auch.  Das Recht auf Asyl darf nicht beschnitten werden, nur weil möglicherweise Menschen aus Ländern nach Deutschland kommen, die eine sexistischere Einstellung vertreten.

SPIEGEL: Wie soll die Politik auf Köln reagieren? Brauchen wir schnellere Abschiebungen, wie sie die Union nun fordert?

Wizorek: Das ist nicht die Debatte, die wir führen müssen. Täter müssen klar bestraft werden, aber das Problem sexualisierter Gewalt ist längst da und kann nicht „abgeschoben“ werden. Damit lösen wir das Grundproblem nicht. Stattdessen muss Deutschland endlich das Sexualstrafrecht reformieren. Wir müssen mehr Beratungsstellen für Gewaltopfer einrichten. Es gibt viel zu wenige, sie arbeiten prekär oder gar ehrenamtlich. 

SPIEGEL: Hätte man denn mit einem verschärften Sexualstrafrecht Köln verhindern können? In der Debatte um den Vergewaltigungsparagrafen geht es doch um die Frage: Wie klar muss eine Frau sagen, dass sie keinen Sex haben will? Den Frauen in Köln kann man ja wirklich nicht vorwerfen, dass sie das nicht klar genug gezeigt hätten.

Schwarzer: Gegen die Taten von Köln würde selbst ein verschärfter Vergewaltigungsparagraf nichts nützen. Denn die verharmlosend sogenannte Grapscherei wird strafrechtlich bis heute noch nicht einmal geahndet.

Wizorek: Deshalb fordere ich sexuelle Belästigung als eigenen Straftatbestand. Es ist außerdem ein grundlegendes Problem, dass immer angenommen wird, Frauen wollen das ja alles. Unsere Welt ist stark geprägt von hyper-sexualisierten Bildern von weiblichen Körpern, die als verfügbar dargestellt werden. Gleichzeitig haben wir immer noch keine Sprache, um über ein intimes Miteinander ­offen zu reden. Auch das trägt zu einem Klima bei, das Übergriffe normalisiert.

SPIEGEL: Frau Schwarzer, was sind die Konsequenzen von Köln?

Schwarzer: Wir müssen die Menschen aus dem islamischen Kulturkreis endlich offensiv aufklären. Migranten wie aktuelle Flüchtlinge. Das Grundgesetz steht über der Scharia! In den Schulen muss Aufklärungsunterricht zur Gleichberechtigung angeboten werden. Man muss den Jungs, die auf Gewalt setzen, Alternativen bieten. 

Wizorek: Nur den Jungs? Aufklärung ist für alle Geschlechter wichtig. 

Schwarzer: Na klar. Den Mädchen muss man sagen, welche Rechte sie haben. Und ihnen beistehen, sie durchzusetzen. Wir müssen in die einschlägigen Viertel gehen und den agitierenden Islamisten etwas entgegensetzen. Das haben wir in den vergangenen 25 Jahren versäumt. Auch in Bezug auf die Flüchtlinge dürfen wir nicht naiv sein. Männer, die sich Gewalt zuschulden kommen lassen, sollten wir selbstverständlich in ihre Herkunftsländer abschieben. Wir haben hier schon genug Probleme, wir müssen uns nicht noch welche importieren. 

Wizorek: Sexualisierte Gewalt gab es schon vor den Geflüchteten, die ist nicht importiert. 

Schwarzer: Das weiß ich, weil ich seit 1975 dagegen kämpfe, wie alle vom SPIEGEL sogenannten Altfeministinnen. Für uns feministischen Pionierinnen hat der Kampf gegen die bis dahin total verschwiegene sexuelle Gewalt – ob Missbrauch, Vergewaltigung in der Ehe oder Sexualmord – oberste Priorität. 

SPIEGEL: Haben Sie sich eigentlich gefreut, als die Jungfeministin Wizorek vor drei Jahren mit dem Hashtag #aufschrei eine Debatte über Alltagssexismus angestoßen hat?

Schwarzer: Ja und wie! Wir haben in „Emma“ darüber berichtet, und ich habe sogar ein Buch inklusive Interview mit Anne darüber herausgegeben: „Es reicht!“ Die Front kann ja gar nicht breit genug sein. Es gibt allerdings verschiedene feministische Strömungen, dafür stehen auch Anne und ich. Zum Beispiel bin ich gegen Pornografie und Prostitution – Anne und ihre sogenannten postfeministischen Kreise sind dafür. Oder: Ich bin für ein Burkaverbot in Deutschland – für Anne ist die Burka nur ein Kleidungsstück, wie sie in einem Interview gesagt hat. 

Wizorek: Eine vollkommen verkürzte Darstellung meiner Positionen … 

Schwarzer: Aber der angebliche Generationenvergleich, der angebliche Widerspruch zwischen Jungfeministinnen und Altfeministinnen ist meiner Meinung nach ein von den ­Medien gemachtes Phänomen. Aber es wird von einigen „Jungfeministinnen“ benutzt. 

Wizorek: Von den „alten“ auch. 

Schwarzer: Wissen Sie, was mich an dieser ganzen Debatte so ­ärgert? So mancher Mann träumt davon, dass die Erfah­rungen meiner Generation auf den Müll wandern. Dass wir Frauen immer wieder bei null anfangen. „Auf diese frustrierten, alten männerhassenden Zicken brauchst du gar nicht zu hören“ – das ist die Botschaft. Die ist nicht neu. Wir haben damals, Anfang der Siebzigerjahre, auch geglaubt, wir seien die Ersten. Heute weiß ich: Wenn ich mich auf die Schultern meiner Vorgängerinnen gestellt hätte, hätte ich vieles früher erkannt und noch weiter sehen können. 

SPIEGEL: Frau Wizorek, warum stellen Sie sich nicht auf die Schultern von Frau Schwarzer?

Wizorek: Weil sie mich in meiner feministischen Entwicklung gar nicht geprägt hat. 

SPIEGEL: Das ist, als wollten Sie in der CDU Karriere machen und sagen: Helmut Kohl und Konrad Adenauer haben mich nie interessiert. 

Wizorek: Es hängt auch mit meiner Sozialsituation im Osten zusammen, das ist ein anderes Selbstverständnis. Durchs Internet habe ich erkannt, dass Feminismus breiter aufgestellt ist, als ich es medial in Deutschland wahrgenommen hatte. Für mich waren dann amerikanische Aktivistinnen prägend, Jessica Valenti oder Jaclyn Friedman.

SPIEGEL: Ist die Dominanz von Alice Schwarzer ein Problem für Ihre Generation?

Wizorek: Wir werden ständig damit konfrontiert und sollen uns an ihr abarbeiten. Aber Feminismus ist nicht die Position einer einzigen Person, er hat viele Facetten und Perspektiven. Leider ist es immer noch sehr, sehr schwer, das medial überhaupt sichtbar zu machen.

SPIEGEL: Also braucht es einen Muttermord, man muss den Platz freiräumen, den man besetzen will. 

Wizorek: Ich wurde durch Alice Schwarzer nicht zur Feministin, das hat also nichts mit dergleichen zu tun. Sie macht ihr Ding, ich mache meins.

Schwarzer: So ist es. Das verstehe ich sogar sehr gut. Seit 40 Jahren bin ich eine öffentliche Person, inzwischen sogar eine Art „feministisches Denkmal“, aber ich bin immer noch lebendig. Ich verstehe, dass da die nachrückende Generation sagt: die schon wieder.

SPIEGEL: Vermissen Sie von den Jüngeren Respekt?

Schwarzer: Respekt? Das ist todlangweilig. Ich wünsche mir, dass sie Eigenes, Neues beitragen – statt sich immer nur über ­Distanzierung zu definieren! Und ich möchte nicht, dass Feministinnen sich ohne Not von den Medien aufeinanderhetzen lassen. 

SPIEGEL: So wie jetzt?

Schwarzer: Ein bisschen schon. Sie hätten auch ein Interview mit mir oder Anne Wizorek machen können. Aber Weiberzank finden die Medien eben unterhaltsamer. Ehrlich gesagt, ich hab mir wirklich überlegt, ob ich dieses Streitgespräch überhaupt machen soll. Ich kenne diese Mechanismen so lange und bin ihrer so überdrüssig. Aber dann haben meine Kolleginnen bei der „Emma“ gesagt: Geh da hin. Es ist wichtig, was wir zu der aktuellen Entwicklung zu sagen haben. 

SPIEGEL: Frau Schwarzer, bei aller Liebe: Es macht ihnen schon noch Spaß, sich zu streiten. Sie haben Frau Wizorek eine „Berliner Szenefeministin“ genannt. 

Schwarzer: Na klar kann es mir Spaß machen, mich zu streiten! Aber dann sollte es auch echt um was gehen. Und übrigens: Szenefeministin ist doch nicht negativ. Es gibt hier in Berlin eben diese eher akademische, linke Szene, die sich vor allem anti­rassistisch versteht, von der amerikanischen Internetszene geprägt ist und sich sehr stark mit sprachlichen Fragen beschäftigt. Zum Beispiel darüber debattiert, ob man den Gender-Gap oder lieber den Gender-Star benutzt, ob man also zum Beispiel „Politiker_in“ oder „Politiker*in“ schreibt. 

SPIEGEL: Das interessiert Sie alles nicht?

Schwarzer: Oh doch! Sprache kann auch Herrschaftsinstrument sein. Und darum wurde die Feminisierung der rein männ­lichen Sprache von meiner Generation angestoßen. Aber man kann es auch übertreiben. 

SPIEGEL: Warum ist der Gender-Gap wichtig, Frau Wizorek?

Wizorek: Er macht sichtbar, dass es nicht nur Männer und Frauen gibt, sondern auch Menschen, die sich geschlechtlich diesen Kategorien nicht zuordnen. Aber das sind ja nur sprachliche Vorschläge, keine Anweisungen.

SPIEGEL: Frau Schwarzer, gibt es jemanden, den Sie als Ihre Nachfolgerin sehen?

Schwarzer: Nein, es kann gar keine Nachfolgerin geben, der Feminismus ist eine Basisbewegung. Ich bin das Produkt des Zusammentreffens diverser historischer Faktoren. Der Feminismus ist schließlich kein Familien­betrieb. Ich habe kein Erbe zu vergeben. Außerdem bin ich ja nicht nur Feministin. Ich war vor der Frauenbewegung und bin über sie hinaus eine politische Journalistin und Denkerin. Und das werde ich bleiben.

Wizorek: Ich möchte auch nicht deine Erbin sein. 

Schwarzer: Da bin ich aber erleichtert …

Wizorek: Ich habe ein anderes Verständnis von Feminismus und sehe mich nicht als einzige Repräsentantin. Als ich Alice das erste Mal bewusst wahrgenommen habe, saß sie in einer Talkshow mit Verona Feldbusch. Ich habe einfach nicht verstanden, was das mit Feminismus zu tun hat. Später kam noch die Werbung für die „Bild“-Zeitung dazu.

SPIEGEL: Frau Schwarzer, war der Bund mit der „Bild“-Zeitung ein Fehler? 

Schwarzer: Es gibt keinen Bund. Ich habe für „Bild“ über den Kachelmann-Prozess berichtet, weil andere Zeitungen, allen voran die ach so feine „Zeit“, eine unerhörte Vorverurteilung gegen die klagende Frau veröffentlicht hatten. Und das zehn Monate vor dem Urteil, das auf einen Freispruch mangels Beweisen rauslief. Damals hatte „Bild“ mir angeboten zu berichten. Ich hab da keine Berührungsängste.

SPIEGEL: Es fällt Ihnen sehr schwer, auch mal Fehler einzugestehen.

Schwarzer: Fehler? Würden Sie das auch sagen, wenn ich für den SPIEGEL geschrieben hätte? Aber ich kann Ihnen sagen, was vielleicht ein Fehler war. Vor ein paar Jahren hat mich eine befreundete Werberin gefragt, ob sie ein Foto von mir für eine Imagekampagne der „Bild“ benutzen dürfe. Ich dachte, okay, wenn die Zeitung, die dich so lange bekämpft hat, sich plötzlich mit dir schmücken will, dann soll sie doch. Darüber haben sich dann viele Menschen aufgeregt, auch solche, die ich schätze. Nachträglich betrachtet war es also offensichtlich nicht ganz so klug, das muss ich zugeben. Ihr seht, auch eine Alice Schwarzer ist nicht un­fehlbar. 

SPIEGEL: Frau Schwarzer, Frau Wizorek, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten René Pfister und Christiane Hoffmann für den Spiegel .

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