Gesamtdeutsches Recht - oder Unrecht?

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Der Spiegel vor den DDR-Wahlen listete alle Parteien und Gruppierungen auf, die sich zur Wahl stellten, dazu ihre Forderungen: zur deutschen Einheit, zu Sicherheitspolitik und zur Wirtschaftsreform. Soziale Rechte waren kein Thema. Kein Thema war auch ein Problem, das vermutlich nicht nur den Spiegel in den kommenden Monaten mehr beschäftigen wird, als uns lieb sein kann. Die Rede ist von der Abtreibung.

Obwohl es jedem Politik- und Rechtskundigen klar sein muss, was da auf uns zukommt, herrscht Schweigen im einig Vaterland der Männer. Warum sollten sie auch reden. Die Chose müssen schließlich wir Frauen ausbaden, und den meisten Männern ist es, hüben wie drüben, nicht nur egal, sondern eher recht, wenn Frauen mal wieder gezeigt kriegen, was Sache ist: Kinder statt Quoten!

Aber die Bombe tickt. Und spätestens jetzt, nach den DDR-Wahlen, wird sie nicht mehr zu überhören sein. Denn schon rüsten die bundesdeutschen Mannschaften zur gesamtdeutschen Entmündigung der Frauen. Was für die Frauen in Frankfurt am Main Gesetz ist, soll es bald auch für die Frauen in Frankfurt an der Oder wieder werden.

Werden die beiden deutschen Männergesellschaften es wirklich schaffen, das gesamtdeutsche Abtreibungsverbot durchzusetzen? Oder wird dieser historische Augenblick zu einer Chance? Werden wir Frauen es schaffen, eine gesamtdeutsche Abtreibungsfreiheit durchzusetzen?

Unsere Sache steht nicht schlecht. Es sieht ganz so aus, als hätten sich die Frauen in der DDR nicht ganz so blenden lassen vom kapitalistischen Glamour. Das Selbstbewusstsein der zu 93 % Berufstätigen und ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit sind auffallend. Diese Frauen werden nicht alles hinnehmen. Diese Frauen werden kämpfen. Vielleicht sind es auch die Frauen in der BRD jetzt endlich leid mit dem § 218. 15 Jahre lang haben sie in der Tat versucht, aus der sogenannten Indikationsregelung eine heimliche Fristenlösung zu machen, 15 Jahre lang haben sie sich durchgemauschelt. Jetzt aber geht das Hintertürchen allmählich zu. Der § 218 soll wieder rigoros konsequent angewandt werden. Mehr noch: Er soll für alle deutschen Frauen gelten.

Nicht zufällig wurde der Zwang zum Austragen einer ungewollten Schwangerschaft Anfang der 70er Jahre zum Auslöser der neuen Frauenbewegungen in der ganzen westlichen Welt. Denn fast jede heterosexuell lebende Frau hat schon einmal abgetrieben oder hat es zumindest erwogen unabhängig von ihren ethischen oder religiösen Überzeugungen. In der BRD sind, laut Umfragen, zwei von drei Katholikinnen für die freie Abtreibung. Sie wissen, warum. Nirgendwo wird soviel abgetrieben wie in den katholischen Ländern. Denn aus Rom kommt das Dogma: Verhütung ist Todsünde! Und Abtreibung ist Mord.

Doch es geht Klerikern und Politikern nicht wirklich um die Verhinderung von Abtreibung, sondern es geht um die Schaffung eines Schuldbewusstseins, um die Demütigung und Entmündigung von Frauen. Die Zerstörung der weiblichen Sexualität, die von der Angst vor den Folgen überschattet wird, gehört dazu.

Das Recht auf den eigenen Körper und eine selbst bestimmte Lebensplanung sind unabdingbarer Teil der Menschenwürde. Das Recht auf Abtreibung ist darum ein elementares Menschenrecht und ganz wie das Recht auf Berufstätigkeit Voraussetzung nicht Erfüllung, aber Voraussetzung für jede Emanzipation. Wir Frauen wissen das. Auch wenn wir im Westen in den letzten 10, 15 Jahren ein wenig eingeschlafen waren.

Der harte Kampf um die Fristenlösung in der ersten Hälfte der 70er hatte uns müde gemacht. Zu groß war der Schock, als am 25. Februar 1975 die so demokratisch erstrittene (und von der damaligen SPD/FDP-Koalition verabschiedete) Fristenregelung vom Bundesverfassungsgericht mit einem Handstreich wieder vom Tisch gewischt wurde. Der Schutz des ungeborenen Lebens habe Vorrang, die Fristenregelung sei darum verfassungswidrig, entschieden sechs alte Männer in Karlsruhe.

Der Beschluss fiel jedoch nicht einstimmig. Eine Verfassungsrichterin und ein Richter (beide SPD) argumentierten in einem von ihnen veröffentlichten Minderheitenvotum genau umgekehrt. Sie gaben der Würde des Menschen und dem Recht auf freie Entfaltung der Person den Vorrang und erklärten die Fristenregelung für verfassungskonform.

Aber die Rechten setzten sich durch nicht zuletzt, weil die Linken schwiegen. Ihnen hatten die Frauen die Fristenregelung 1974 zwar in der Vorwahlzeit abgerungen, aber sie hatten in Wahrheit nie dazu gestanden. Und die Grünen? Die reden nur, aber handeln nicht. Und SPD und FDP gaben zehn Jahre nach der so genannten Reform sogar die Parole aus Hände weg vom § 218.

Hände weg von einem Gesetz, das die Zwangsmutterschaft fest schreibt? Hände weg von einem Gesetz, das den Frauen kein Recht gibt, sondern höchstenfalls Gnade gewährt? Hände weg von einem Gesetz, nach dem zum Beispiel eine Ärztin oder Psychologin als Gutachterin für eine andere Frau entscheiden darf, ob sie abtreiben kann oder nicht aber für sich selbst Dritte um Erlaubnis fragen muss? Der bestehende § 218 öffnete der Willkür Tür und Tor. Es war vorherzusehen, dass die Konservativen die Schlinge zuziehen würden, sobald der Zeitgeist ihnen das erlaubt.

Ich selbst gehörte in all den Jahren immer zu der Minderheit von Feministinnen, die nie aufgehört haben, den herrschenden § 218 zu bekämpfen. 1986 lancierte EMMA eine erneute Kampagne gegen den § 218. Ziel: die SPD, FDP und die Grünen zum Vorgehen gegen das Gesetz zu bewegen. Konkret gibt es dafür rein rechtlich nur einen Weg: den einer Verfassungsklage. Die EMMA-Kampagne: Weg mit dem § 218! Wir fordern eine Verfassungsklage! wurde damals von Sozialdemokraten und Grünen hart abgewürgt.

1988 kam dann der Schock von Memmingen. Die öffentliche Hexenjagd auf abtreibende Frauen und Ärzte wurde eröffnet. Heute ist Memmingen überall. Ein Prozess jagt den anderen in dem bei uns herrschenden Denunzianten-Klima. Auch aufgeschlossene Ärzte haben Angst. Und der Abtreibungstourismus blüht wieder. Sehr weit müssen deutsche Frauen nicht fahren: In quasi allen Nachbarländern der BRD ist die Abtreibung in den ersten drei Monaten legal, selbst im katholischen Frankreich.

Aber nicht Memmingen ist der eigentliche Skandal, sondern der § 218, der Prozesse wie Memmingen überhaupt möglich macht. Dieser § 218 muss endlich weg! Erst dann können wir Frauen nicht mehr öffentlich vor den Kadi gezerrt und können hilfreiche Ärzte nicht länger diffamiert und ruiniert werden.

Wer ist für ein gesamtdeutsches Abtreibungsverbot und wer für eine gesamtdeutsche Abtreibungsfreiheit? Werden wir zusammenwachsen im Recht oder in der Rechtlosigkeit? Soll für hüben wie drüben der § 218 gelten - oder der § 153? Der DDR-§ 153 erlaubt die Abtreibung in den ersten drei Monaten. Diese realsozialistische Fristenregelung war damals eine direkte Folge der neuen Frauenbewegung in der BRD. Denn die Genossen führten sie auf dem Höhepunkt des westlichen Protests, im Jahre 1972, ein wohl fürchtend, dass sonst auch die Ost-Frauen Randale machen könnten.

Die Ex-Genossinnen könnten sich nun revanchieren und uns jetzt ihrerseits die Fristenregelung bringen.

Wir Frauen aus den kapitalistischen und (ex)sozialistischen Gesellschaften haben mehr gemein, als uns lieb sein kann. Aber wir haben, aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen, auch unterschiedliche Stärken und Schwächen. Die Westlerinnen bringen ein differenzierteres Wissen um die Machtstruktur zwischen den Geschlechtern mit, aber auch ein Stück Resignation. Die Ostlerinnen haben ein solides gesellschaftliches Selbstbewusstsein, aber auch ein Stück Illusion. Tun wir uns zusammen! Denn gemeinsam sind wir stärker.
Alice Schwarzer in EMMA 4/1993, veröffentlicht in "Alice im Männerland - eine Zwischenbilanz" (Kiepenheuer & Witsch, 2002).

Weitere Texte zu Abtreibung
Abtreibung, die unendliche Geschichte (Alice im Männerland 2002)
Der Appell der 374 (Stern 1971)
Und ewig zittere das Weib (EMMA 9/1990)
Nur ein halber Sieg (EMMA 4/1993)
Neue Offensive der Dunkelmänner (EMMA 2/1998)
EMMA Kampagne Abtreibung

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