Alice Schwarzer schreibt

Arabischer Winter und die Folgen

Alice Schwarzer - Foto: Bettina Flitner
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Heute Abend werde ich mal wieder in einer Talkshow über den Islamismus diskutieren, genauer: über die weltweiten Proteste der aufgehetzten Massen und deren Auswirkungen auf Deutschland und den ganzen Westen. Ich habe über das Thema viel geschrieben, seit ich 1979 in Iran war und gesehen habe, was da abging. Seither habe ich häufig mit Menschen zu tun, Deutschen wie Türken oder anderen Muslimstämmigen, die sich aktiv engagieren für eine wirkliche Integration – und die immer verzweifelter werden. So wie der in einem Moscheeverein aktive Deutsch-Türke, der für Integration zuständige Gewerkschafter oder der über Migration forschende Wissenschaftler. Die drei hätten viel zu sagen in Talkshows. Aber keiner von ihnen ist bereit, ins Fernsehen zu gehen. Sie reden, wie fast alle, nur hinter vorgehaltener Hand, aber nicht öffentlich. Die Menschen haben Angst.

Angst wohl weniger vor echtem Terror. Der ist hierzulande – noch? – nicht angekommen. Angst, stigmatisiert zu werden: als „islamfeindlich“, „fremdenfeindlich“, „rassistisch“. Das sind die geistigen Waffen, mit denen die agitierenden Islamisten hierzulande kämpfen. Damit bedrohen sie nicht nur kritische Deutsche, sondern schüchtern auch die nicht fundamentalistische Mehrheit ihrer eigenen Community ein.

Denn diese Islamisten können keineswegs im Namen der Mehrheit der MuslimInnen in Deutschland bzw. Europa sprechen. Sie sind das Sprachrohr von Organisationen, die von islamistischen Ländern munitioniert werden: ideologisch und oft auch finanziell.

Die Lebensrealität der Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis in unserem Land sieht anders aus. Das zeigen nicht nur unsere eigenen Lebenserfahrungen und unsere muslimstämmigen FreundInnen, das belegt auch eine Studie des Innenministeriums aus dem Jahr 2009. Danach leben heute in Deutschland vier Millionen MuslimInnen, Gläubige wie Ungläubige. Nur ein Drittel bezeichnet sich als „stark gläubig“ – und nur jede zweite stark gläubige Frau trägt „manchmal“ oder „immer“ das Kopftuch. Von den anderen ganz zu schweigen. 84 Prozent aller Musliminnen in Deutschland tragen also kein Kopftuch. Das Kopftuch ist im 21. Jahrhundert kein religiöses Zeichen, sondern ein politisches Signal.

Heute Abend in der Talkshow wird dennoch wieder die obligatorische Konvertitin mit in der Runde sitzen. Sie wird wie üblich eine begeisterte Kopftuchträgerin sein und sich bitter beklagen, dass ich ihr das Tragen ihres „Kopftüchleins“ verbieten wolle. Diese Kopftuchträgerinnen sind übrigens in der Regel keineswegs Privatpersonen, sondern quasi immer bestens geschulte Propagandistinnen aus islamistischen Organisationen.

Was für ein Unsinn, zu behaupten, ich wolle irgendeiner Frau das Kopftuchtragen verbieten! Sowas verbietet man nicht, darüber kann man höchstens reden. Aber ich erlaube mir darauf aufmerksam zu machen, was dieses Kopftuch heute bedeutet. In wie vielen Ländern das Kopftuch bzw. der Ganzkörperschleier ein Totentuch für Frauen ist – und warum wir in weltlichen Schulen auf keinen Fall gestatten sollten, dass Lehrerinnen ein Kopftuch tragen! Damit die kleinen Musliminnen in der Schule Mädchen wie alle anderen sein können, sich frei bewegen wie ihre deutschen Freundinnen und am eigenen Leib erleben, wie so ein Leben ohne Kopftuch sein kann. Und grundsätzlicher: Weil Religion Privatsache ist und der Staat nicht mit ihr flaggen sollte.

Während wir mit steigendem Grauen sehen, wie aufgehetzte Fanatiker, denen jeder Vorwand recht ist, im Namen des Glaubens brandschatzen und morden – Fanatiker, die übrigens zunächst vom Westen unterstützt und funktionalisiert wurden, um mal wieder irgendwelche unliebsamen Staatschefs zum Teufel zu jagen – währenddessen bekommen wir hierzulande die Auswirkungen des Siegeszuges der Islamisten sehr direkt zu spüren. Sein erstes Opfer ist die Mehrheit der nicht fundamentalistischen MuslimInnen!

Viele islamische Organisationen in Deutschland sind von Islamisten gegründet oder unterwandert – also von Fanatikern, die den Glauben für ihre Ideologie missbrauchen – und werden darum vom Verfassungsschutz beobachtet, wie Milli Görüs oder die Salafisten. Bisher nicht in Verdacht stand die Ditip. Warum auch. Sie war und ist der verlängerte Arm der Türkei, also eine staatliche Organisation, die die Interessen der Türkei in Deutschland vertritt. Ich selber habe mit Verantwortlichen der Ditib Köln noch 2003 Schulter an Schulter gegen den Irakkrieg demonstriert. Und wir haben uns nicht nur menschlich, sondern auch politisch bestens verstanden!

Doch die Zeiten haben sich geändert. Seit Erdogan in der Türkei an der Macht ist, betreibt er – zunächst verdeckt, inzwischen offen – die Islamisierung des bisher weltlichen Staates. Der Siegeszug der Fundamentalisten in Nordafrika und Ägypten gibt ihm Rückenwind.

Man hätte es wissen können. Denn bereits 1998 hatte Erdogan, damals noch Bürgermeister von Istanbul, zustimmend das Dichterwort zitiert: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Er wurde für diese Hetzrede zum „heiligen Krieg“ zu einer 10-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt und kam angeblich geläuterter wieder raus.

2003 wurde Erdogan zum Ministerpräsidenten der Türkei gewählt und 2008 erklärte er frank und frei auf einer Deutschlandreise: „Niemand kann von Ihnen (den Türken) erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Die Zeichen stehen also nicht auf Integration, sondern auf Sturm.

Laut Brockhaus bedeutet Assimilation „Angleichung, Anpassung“. Dass man sich in einem fremden Land anpasst, dürfte doch selbstverständlich sein – deswegen muss man sein Eigenes ja keineswegs verleugnen. Ich selber habe zehn Jahre in Frankreich gelebt und mich – meist mit Freude, manchmal mit Wehmut – den Franzosen „angepasst“, aber bin doch für meine französischen FreundInnen immer irgendwie „l’allemande“ geblieben. Trotz meiner totalen Integration. Hätte ich Kinder gehabt in Frankreich, wären die allerdings eher Franzosen geworden, mit einer deutschen Mutter.

In den vergangenen Monaten konnte selbst das zum Wegsehen bereite Ausland nicht mehr über die rasante Entdemokratisierung und Islamisierung der Türkei hinwegsehen. Dennoch gilt ausgerechnet – vielmehr: folgerichtig! – die Türkei als „Modell“ für die Staaten, in denen mit kräftiger Unterstützung einer naiven Opposition und des unverantwortlichen Westens die „Tyrannen“ verjagt wurden und nun die Islamisten zur Macht greifen.

In den 904 Moscheen, die in Deutschland von der Ditib betrieben werden, hat sich das Personal und das Klima in den letzten Jahren um 180 Grad gedreht. Aus einst integrationsfreudigen Vereinen sind integrationsfeindliche geworden. Die vielgerühmte Großmoschee Marxloh in Duisburg ist ein trauriges Beispiel dafür. Und die noch im Bau befindliche Großmoschee in Köln scheint den gleichen Weg zu gehen: Aus Stätten der Begegnung werden Festungen. Oder etwa gar Kasernen im Sinne von Erdogan?

Und der Westen? Der hat aus seinen Fehlern 33 Jahre nach dem vom Westen eingefädelten Einzug Khomeinis in Iran nichts gelernt. Immer noch werden in unseren Ländern die Islamisten im Namen einer falschen Toleranz nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Und in dem vom Westen „befreiten“ Irak und Afghanistan sind Hunderttausende von Toten zu beklagen und herrschen jetzt die Taliban mit ihren unerbittlichen Brüdern. In Tunesien, Ägypten und Libyen wurden autoritäre Staatschefs verjagt und Islamisten an die Macht gebracht. Syrien wird folgen – und dann kippt der ganze Nahe Osten. Das als Katastrophe nicht nur für die Region, sondern für die ganze Welt zu bezeichnen, ist milde ausgedrückt.

Der Westen wird es noch bitter bereuen. Aber zu spät, wie immer. Und die ersten Opfer der selbstgerechten Fanatiker werden wie immer MuslimInnen sein.
Ich werde mir darum heute Abend in der Talkshow erlauben, nicht über das entzückende, freiwillige Kopftuch der Konvertitin zu plaudern, sondern über Politik zu reden. Und was für desaströse Folgen die für Menschen haben kann.

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Alice Schwarzer (Hrsg.): Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus (KiWi, 9.95 €)
Alice Schwarzer: NEIN zur Intervention in Syrien

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