Alice Schwarzer schreibt

Ägyptens zweiter Frühling

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Der Tahrirplatz hat zum zweiten Mal gesiegt. Nachdem sich die neuen Machthaber nach einem Jahr als das größere Übel erwiesen hatten, haben die Protestierenden von der Straße her noch einmal einen Wandel erzwungen. Und das Militär hat sich hinter die Menschen gestellt. Menschen, die weder eine Autokratie noch einen Gottesstaat wollen, sondern einfach nur endlich genug zu essen und mehr Freiheit. Wird nun auch dieser zweite „Ägyptische Frühling“, nach einem einjährigen Winter, wieder Zeichen setzen? Zeichen für die Türkei, die gerade gegen den Islamisten Erdogan rebelliert; Zeichen für Syrien, das den Islamisten in die Hände zu fallen droht; Zeichen für Tunesien, das in der Faust der Islamisten steckt – und ganz Nordafrika, das gebannt nach Kairo schaut. Zeichen Richtung Demokratie statt Gottesstaat.

Vor einem Jahr hatten die ÄgypterInnen den langjährigen Sprecher der Muslimbrüder, Mohammed  Mursi, zu ihrem Präsidenten gewählt. Entscheidend dabei waren die Armen, die von den Petro-Dollars der Islamisten satt gefüttert wurden. Aber auch so manche Liberale dachten, das geht. Es geht, dass ein in der Wolle gewaschener Islamist, also ein Gottesstaatler, Ägypten ein Stück in Freiheit und Wohlstand führt. Sie haben diese Naivität teuer bezahlt. Der ersehnte Frühling schlug rasch in einen eisigen Winter um.

Es ist ein Glücksfall, dass das Militär in Ägypten traditionell unpolitisch ist, das heißt keiner Ideologie verpflichtet. Es ist nur realpolitisch und wirtschaftlich involviert. Als die Stimmung und die Wirtschaft unter dem starren Regime von Mursi und seinen bärtigen Brüdern immer tiefer sank, zogen die Generäle die Notbremse.

Zurzeit befinden sich Mursi und seine Islambrüder in Arrest. Da waren sie auch in den vergangenen 80 Jahren. Die jeweils Herrschenden, von Nasser bis Mubarak, wussten sich der von den Gottesstaatlern drohenden Gefahr nicht anders zu behelfen. Was auf Dauer auch keine Lösung ist.

Jetzt hat „das Volk“ ein Jahr lang erlebt, wie es ist, wenn diese Muslimbrüder an der Macht sind – und hat verstanden. Eine Mehrheit hat sich endgültig von ihnen abgewandt. Aber eine fanatische Minderheit wird versuchen, den Machtverlust wieder wettzumachen – oder zumindest sich zu rächen.

Es ist zu hoffen, dass Ägypten nun nicht algerische Verhältnisse bevorstehen: In Algerien reagierten die Islamisten auf ihr Verbot als Partei mit einem von ihnen angezettelten Bürgerkrieg. Der forderte in den 1990er Jahren, in „les années noires“ (den schwarzen Jahren), wie die AlgerierInnen sagen, geschätzte 200.000 Tote. Ein traumatisiertes Land blieb zurück. Aber immerhin hatte Algerien verstanden. Soviel verstanden, dass es sich aus dem „Arabischen Frühling“ raushielt. Zu recht, wie wir längst wissen.

Umso verwunderlicher, dass der deutsche Außenminister sich erlaubt, nur wenige Stunden nach dem Wechsel den Sturz Mursis durch das Volk zu kritisieren. Denn ja, friedliche Zeiten sind für die kommenden Tage, Wochen und Monate keineswegs zu erwarten – aber schlimmer als unter der Herrschaft der Gottesstaatler kann es nicht kommen.

Ägypten braucht jetzt Zeit. Zeit, um während der Übergangsregierung der Technokraten seine Verhältnisse zu ordnen und sich eine Verfassung zu geben, auf deren Basis dann endlich Wahlen abgehalten werden könnten, die halbwegs frei, aber auch illusionslos sind.

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Arabischer Winter: Tod den Rebellinnen!

Aliaa Magda Elmahdy, 20: "Ich habe das Recht, überall frei zu leben."
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Der Blog von Aliaa Magda Elmahdy, 20, war während des ägyptischen Wahlkampfes 2011 der meist geklickte in der ganzen arabischen Welt. Grund: Aus Protest gegen „eine Gesellschaft, in der Gewalt, Rassismus, Sexismus, sexuelle Belästigung und Scheinheiligkeit herrschen“, hatte die Kunststudentin sich ausgezogen. „Ich habe das Recht, überall frei zu leben!“ erklärte sie und posierte mit roten Schuhen, Netzstrümpfen und drei Balken: mal vor dem Venushügel, mal vor dem Mund, mal vor den Augen. Nichts sagen, nichts sehen, keine Lust haben dürfen …

Dieses „Tagebuch einer Rebellin“ löste nicht bei allen Freude aus. Aliaa war nicht nur die meistgeklickte, sie war auch die meistbeschimpfte Frau der arabischen Welt. Islamisten forderten: Peitschenhiebe oder gleich den Tod.

„Elmahdy ist eine Bombe“, schrieb die ägyptische Journalistin Mona Eltahawy. „Ein Molotow-Cocktail – geworfen auf die sexuelle Heuchelei und den Frauenhass.“ Wenige Tage nach diesem Kommentar war Eltahawy dran. Sie twitterte an ihre Freundinnen: „Fünf oder sechs umkreisten mich, grabschten und stupsten an meine Brüste, begrabschten meinen Genitalbereich und ich kann nicht zählen, wie viele Hände versuchten, in meine Hose zu kommen.“

Es waren Polizisten. Sie hatten die Journalistin mit dem auffallenden Lockenkopf unweit des Tahrir-Platzes festgenommen. Und sie brachen ihr einen Arm und eine Hand, bevor sie sie nach 12 Stunden wieder frei ließen. Doch die bekannte Journalistin lässt sich nicht einschüchtern. Im Radio erklärte sie: „Wir Frauen kämpfen jetzt gegen das, was ich den ‚vierten Feind‘ nenne. Damit meine ich nicht die Konterrevolution, nicht das Tränengas, nicht die brutale Polizei – ich meine die sexuelle Gewalt.“

Und sie fügt hinzu: „Wir erleben gerade eine politische Revolution in Ägypten. Aber wir brauchen eine kulturelle und soziale Revolution. Der TahrirPlatz ist jetzt ein Hexenkessel geworden, in dem die Probleme öffentlich werden, die wir im ganzen Land haben. Der TahrirPlatz ist ein Symbol – nicht nur für Ägypten, sondern für die ganze Welt.“

Seit Monaten ist bekannt, dass die „Rebellen“ auf dem Tahrir-Platz „Jungfrauentests“ bei den Rebellinnen durchführen. Das heißt, sie reißen den Frauen die Kleider vom Körper und penetrieren sie manuell. Das machen sie nicht nur mit Ägypterinnen, sondern auch mit Ausländerinnen, ja sogar mit Korrespondentinnen.

In den Tagen vor der Wahl berichtete die nach Paris zurückgekehrte Reporterin Caroline Sinz von France3, dass eine Gruppe junger Männer sie und ihren Kameramann Salah Agrabi auf dem Tahrir-Platz abgedrängt und eingekesselt hatten. „Sie haben mich verprügelt, mir die Kleidung vom Leib gerissen und mich auf eine Weise berührt, die den Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt“, erklärt die Journalistin und erstattete Anzeige.

Besonders empört war Reporterin Sinz über den guten Rat der linken Organisa­tion „Reporter ohne Grenzen“, keine Journalistinnen mehr nach Ägypten und in ähnliche Länder zu schicken. „Gerade in Ägypten braucht es weibliche Berichterstatter!“ konterte die erfahrene Kriegsberichterstatterin. Sinz hatte auch schon im Irak unter der „Macho-Kultur im Reporter-Milieu“ zu leiden und erklärte, warum sie in Ägypten war: „Ich will öffentlich machen, was mir passiert ist, weil es vielen Frauen passiert. Vor allem Ägypterinnen, die nicht die Möglichkeit haben, öffentlich darüber zu sprechen.“

Worüber die Ausländerinnen sich noch empören, das scheint für die einheimischen Frauen längst Gewohnheit in dem sich zunehmend verdunkelnden „Arabischen Frühling“. Samira Ibrahim, 25, war schon am 9. März 2011 auf dem Tahrir-Platz verhaftet und gemeinsam mit 17 anderen Frauen in eine Militärstation gebracht worden, wo man sie einem „Jungfrauentest“ unterzog. Als bisher einzige Ägypterin hat sie die Täter angezeigt. Das Verfahren läuft. Sollte sie in Ägypten mit ihrer Anzeige scheitern, will sie sich an die Vereinten Nationen wenden.

Amnesty International kritisierte jüngst, dass seit dem Fall von Hosni Mubarak die Diskriminierung von Frauen zunehme. Was ist geworden aus dem Enthusiasmus, den Bildern der kämpferischen und stolzen Ägypterinnen? Jenen Bildern, von denen sich mir bei einem Besuch auf dem Tahrir-Platz besonders eines einbrannte: Das einer ärmlich gekleideten, gebeugten Frau, die unter den Lasten des Lebens jung vergreist war. An jenem Februartag, als sich die Menschen am Sturz Mubaraks berauschten, hielt sie mit festem, glänzendem Blick ein Plakat in die Höhe. Darauf stand ihr Name und darunter: „Heldin“.

Es waren Tage, wie sie die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin beschreibt, „an denen jeder von uns aus seinem alten Selbst schlüpfen und es betrachten konnte und dabei überrascht feststellte, dass es ja zum Wandel fähig war – fähig, zunächst sich selbst zu verändern und dann an der Veränderung der Welt ringsum mitzuwirken“.

Was folgte war Schock auf Schock. Eine Demonstration zum „Internationalen Frauentag“ auf dem Tahrir-Platz wurde von rund 200 Männern angegriffen und gesprengt. Auch das Militär schlug zu, verhaftete tags darauf friedlich demonstrierende Frauen und nötigte etliche zu „Jungfräulichkeitstests“.

Die letzten Hoffnungen wurden zerschmettert, als der regierende Militärrat sich – trotz internationaler Proteste – weigerte, auch nur eine einzige Frau in die politischen Gremien zu berufen, die an der Zukunft des Landes arbeiten. Jetzt ist nicht die Zeit für Frauenrechte, bekommen ägyptische Aktivistinnen immer wieder zu hören. Wollen sie sich nicht fügen, werden sie als „Verräterinnen“ oder „Töchter von Suzanne Mubarak“ gebrandmarkt.

Unter der Ägide der Frau des Ex-Diktators hatten die Frauenrechte in der Tat Fortschritte gemacht – mit Folgen: Seit die Ägypterinnen die Scheidung einreichen dürfen, schnellte die Scheidungsrate auf arabisches Rekordniveau.

Ägyptens Feministinnen hatten in den Reformen allerdings nicht viel mehr als Kosmetik für die Verbündeten im Westen vermutet. Einst waren sie Vorkämpferinnen für die ganze Region, doch in der Mubarak-Ära stürzte das Land ab und landete bei einem weltweiten Vergleich der Frauenrechte auf Platz 125, innerhalb der arabischen Welt auf Rang 13.

Der Feind war über das Rote Meer gekommen, aus Saudi-Arabien. Finanziert mit den Milliarden aus dem Ölgeschäft schwappt von dort seit drei Jahrzehnten eine neue Lehre ins Land. Der Wahhabismus – oder, wie er auch tituliert wird: der Salafismus.

Die saudi-arabische Staatsreligion verbannt Frauen unter den Schleier und aus dem öffentlichen Leben. Er passte dem weltlichen Hosni Mubarak als Gegengewicht zu den hauseigenen Muslimbrüdern ins Konzept.

Mit den langbärtigen Predigern der Wahhabiten breitete sich ein neues Phänomen aus: Es zeigt sich in der fremden Hand, die sich im Sammeltaxi auf das Knie einer Frau legt, im Gedränge an ihren Busen grabscht oder auch Schlimmeres. Zwei von drei ägyptischen Männern geben zu, Frauen sexuell zu belästigen!

„Die Wurzel des Problems ist, dass sich unser Bild von den Frauen gewandelt hat“, sagt Ägyptens Star-Literat Alaa al-Aswani („Der Jakubiner-Bau“). Ebenso wie die Frauenrechtlerinnen sieht al-Aswani den Grund für diesen Wandel im Wahhabismus. „In Wahrheit sieht die wahhabistische Ideologie in Frauen nur ihren Körper, den Sex, die Quelle der Versuchung und ein Mittel, um Kinder zu produzieren.“

Doch auch das Selbstbild der Frau änderte sich – wie ich während meiner Jahre im Land feststellte. Es sexualisiert auch den Blick auf sich selbst. Es vermittelt in der Öffentlichkeit das Gefühl, im Wesentlichen aus Brust und Hintern zu bestehen. Es suggeriert, dass die eigene Sittlichkeit sich in erster Linie in der Kleidung manifestiert.

Doch was die Frau auch tut: Ihr Wert, das lernen die Kinder in der Schule, wie in der Familie, liegt unter dem des Mannes. Die Frau hat zu gehorchen, alles zu ertragen, die Ehre der Familie zu wahren und ist an allem Möglichen Schuld. So kommt es, dass ein großer Teil der Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden, das auch für gerechtfertigt hält. So kommt es, dass über 90 Prozent der Mädchen (egal ob Muslima oder Christin) genital verstümmelt werden. Und so bleibt das größte gesellschaftliche Tabu weiterhin Tabu: Die Vergewaltigung von Mädchen und jungen Frauen in den Familien; durch den Vater, den Bruder, den Onkel.

„Jetzt oder nie“, appellierte die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi an die Frauen in Ägypten und die restliche arabische Welt und erinnerte an die bitteren Erfahrungen in ihrem eigenen Land, während der iranischen Revolution 1979: „Wiederholt nicht unsere Fehler, wartet nicht mit euren Forderungen! Bekämpft das patriarchalische System, das die Scharia zum Vorteil der Männer auslegt.“

Die Demokratie braucht die Frauen. Zumindest ihre Stimmen. Die Kandidaten fuhren im Wahlkampf mit dem Geldkoffer durch den Wahlbezirk und kauften Stimmen. Nicht selten mit dem Geld der Wahhabiten. Sie sind unaufhaltsam auf dem Vormarsch, sie erobern die Moscheen, das Fernsehen, den Geist der Menschen, die sich nach einfachen Antworten sehnen. Immer mehr Ägypterinnen verschwinden unter dem kohlrabenschwarzen Ganzkörperschleier mit Augenschlitzen. Anders als unter Mubarak dürfen die Wahhabiten nun auch auf die politische Bühne. Sie radikalisieren die Muslimbrüder.

Und die Frauenrechtlerinnen? Sie sind damit beschäftigt, wenigstens den Status Quo zu bewahren. Doch selbst das gelingt nicht. So wurde zum Beispiel jetzt die Frauenquote im Parlament gestrichen. Und die Feministin Nihad Abu al-Konsam erhielt eine Todesdrohung, nachdem sie sich gegen die Forderung der Wahhabiten stellte, den Frauen wieder das Recht auf Scheidung zu nehmen. „Wir kämpfen im Zentrum eines Sturms“, sagt die Leiterin des Zentrums für Frauenrechte (ECWR) „Aber wir dürfen keine Angst haben.“

Wenn Ägyptens Frauen die Angst verlieren, dann könnten sie gefährlich werden. Die nackte Bloggerin Aliaa Magda Elmahdy hat alles aufs Spiel gesetzt. Jetzt ist sie untergetaucht.

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