Alice Schwarzer schreibt

Stadtbild: Die Angst der Frauen

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Ich habe keine Angst. Ich habe die Angst erst lernen müssen (aber vergesse sie immer wieder). Denn ich bin eine Frau. Und für mein Geschlecht gibt es viele gute Gründe, Angst zu haben. Doch kann es sein, dass wir Frauen manchmal mehr Angst haben als nötig? Oder, im Gegenteil: Dass wir die Angst da, wo sie angebracht wäre, verdrängen, nicht wahrhaben wollen, bis hin zur Selbstverleugnung?

Ich bin die Generation, die sich schon vor den Karatekursen für Mädchen und dem Empowerment für junge Frauen erlaubt hat, relativ frei zu leben, zu reisen, in die Welt zu gehen. Denn ich war frei aufgewachsen. Meine Großeltern, bei denen ich lebte, lachten über meine Abenteuer. Sie versäumten, mich zum Mädchen zu dressieren. Und sie lobten meinen Mut. Ich kannte keine Gewalt. Dennoch musste auch ich später drei Vergewaltigungsversuche abwehren. Erfolgreich. Doch es hätte auch schiefgehen können.

Ich begann, vorsichtiger zu werden. Ich lernte, unauffällig die Straßenseite zu wechseln, wenn mir ein oder gar mehrere Männer im Dunkeln entgegenkamen.

Meine Großeltern versäumten,
mich zum Mädchen zu dressieren

Ich wurde Feministin. Mitte der 1970er Jahre gingen wir an die Öffentlichkeit mit der Erkenntnis, dass sehr viele Frauen Opfer von Gewalt sind. Meist vom eigenen Vater, Onkel, Freund, Ehemann. Im Schlafzimmer ist es gefährlicher für Frauen als im dunklen Park. Wir forderten Zufluchtshäuser für geschlagene und vergewaltigte Frauen. Geschlagene Frauen? Hahaha. Die ersten Frauenhäuser waren noch nicht eröffnet, da waren sie schon überfüllt - und sind es bis heute.

„Häusliche Gewalt“ wird das genannt. Als gäbe es schlagende Häuser. Verquastes, verschleierndes Reden scheint im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen also nicht erst seit dem „Stadtbild“ im Schwange. Nein, es sind Männer, die schlagen. Bis tief ins 20. Jahrhundert war das noch Gewohnheitsrecht. Erst seit 1997 - und einem zähen, parteiübergreifenden Kampf von Politikerinnen - gilt zum Beispiel Vergewaltigung in der Ehe auch in Deutschland gesetzlich als Verbrechen.

Da kommen wir her. Wir Frauen. Und wir werden schon als kleine Mädchen darauf vorbereitet. Komm auf Papas Schoß. Rotkäppchen und der Wolf.

Ohne Gewalt, angedroht oder
ausgeübt, kein Machtverhältnis

Gewalt ist der Kern eines jeden Herrschaftsverhältnisses. Ohne Gewalt, angedroht oder ausgeübt, kein Machtverhältnis. Das gilt für Völker (siehe Iran), Klassen, Religionen. Und für die Geschlechter. Nur die allgegenwärtige, drohende oder gar ausgeübte Gewalt hält die Opfer in Schach.

Nach heutigem Kenntnisstand müssen wir davon ausgehen, dass jedes vierte bis dritte Mädchen Opfer von sexuellem Missbrauch ist. Das sind ungeheure Zahlen. Und die, denen es nicht passiert ist, haben Glück gehabt. Das ahnen sie. Das besonders Fatale bei der Gewalt gegen Kinder und Frauen ist die Verquickung von Liebe und Hass. Dieses totale Ausgeliefertsein durch die Abhängigkeit. Ein Mädchen, das spricht, muss nicht nur um sich selbst fürchten, sondern um die ganze Familie, die mit der Wahrheit zerstört würde. Nicht selten sehen auch darum die Mütter weg.

So ein Mädchen ist in seinem Urvertrauen erschüttert. Es muss verdrängen. Spielt auch das eine Rolle bei der aktuellen Leugnung der gestiegenen Gefahr durch so manche „Tochter“? Die sexuelle Gewalt ist heute im Westen zumindest geächtet und findet darum überwiegend hinter verschlossenen Türen statt. Die öffentliche Bedrohung der Frauen, dieses Ärgernis im „Stadtbild“, ist relativ neu. Die Problem-Migranten, die das verursachen, kommen aus Kulturen, die keine Frauenbewegung kennen, in denen Frauen noch immer gänzlich rechtlos sind und wo Gewalt gegen Kinder und Frauen die Norm ist. Diese Männer drohen und handeln nicht heimlich hinter verschlossenen Türen, sondern öffentlich und demonstrativ auf dem Marktplatz. Das ist eine Machtgeste.

Es soll Frauen im „antirassistischen“ Milieu geben, die die eigene Vergewaltigung nicht zur Anzeige bringen, weil sie nicht „rassistisch“ sein wollen. Diese Art von falscher Fremdenliebe ist allerdings nur die andere Seite der Medaille Fremdenhass. Es ist eine gönnerhafte Attitüde. Der Versuch, die Augen vor der Gefahr zu verschließen, um die Überlegene gegenüber dem armen Fremden zu bleiben. Und auch das Nicht-wahrhaben-wollen? Die Selbstverleugnung?

Wir Feministinnen haben in den vergangenen 50 Jahren viel erreicht, aber nicht genug. Wir können die seit Jahrtausenden stehende Festung Patriarchat nicht innerhalb einer Generation einreißen. Zu tief ist sie auch in uns selbst verankert. Aber wir haben immerhin ein steigendes Bewusstsein für die Diskriminierung von Frauen erreicht. So war noch vor einigen Jahrzehnten Frauenmord auch für so manchen Richter und Journalisten eine Art Kavaliersdelikt. Mordende Ehemänner oder Freier bekamen Gefängnisstrafen auf Bewährung, wenn sie vortrugen, sie seien in ihrer „Männerehre“ gekränkt worden, das Opfer habe sie „Schlappschwanz“ oder „impotent“ genannt, kurzum, sie sei eine „Schlampe“ gewesen. Diese Zeiten sind vorbei. Heute reden wir bei der Ermordung von Frauen von „Femizid“, also vom Motiv Frauenhass.

Mir begegnete ein Femizid-Opfer erstmals am 6. Oktober 1991. Sie lag vor der Tür der EMMA-Redaktion, 50 Meter entfernt im Gebüsch. Angelika Bayer, 37. Sie war eine emanzipierte Frau, hatte Karriere gemacht und konnte Karate. Sie hatte zehn Minuten vor ihrem Freund gegen 23 Uhr das Stammlokal verlassen, um zum Bahnhof zu gehen. Der Mörder griff sie auf dem Weg ab, zerrte sie ins Gebüsch, folterte sie, vergewaltigte sie, erwürgte sie.

Es gab Lichterketten gegen Fremdenhass,
für ermordete Frauen zündete niemand Kerzen an

In der Zeit gab es landesweit Demos und Lichterketten gegen Fremdenhass. Für Angelika Bayer hat niemand eine Kerze angezündet. Der Frauenhasser mordete weiter und wurde erst Jahre später quasi zufällig gefasst, dank neuer DNA-Techniken.

Damals startete EMMA eine Kampagne gegen „Frauenhass“. Wir forderten unsere Leserinnen auf, uns Informationen, Zeitungsausschnitte etc. über Frauenmorde zu schicken. Es kamen 560 zusammen. Nur für das Jahr 1992. Heute ist von jährlich ca. 360 Femiziden (2023) die Rede. Ich halte die Zahl für zu niedrig. Ganz zu schweigen von den ungeklärten „Haushaltsunfällen“, Fensterstürze etc.

Die Problem-Migranten sind nicht selten zusätzlich durch Kriege und Bürgerkriege brutalisiert und traumatisiert. Für die seit Ende der 1980er-Jahre auch mitten in Deutschland agitierenden Islamisten sind diese Männer eine leichte Beute. Sie haben den Frauenhass, Judenhass und die „Ungläubigen“-Verachtung auf ihre Fahnen geschrieben. Auf deren Rücken sind sie, die Looser, in ihren eigenen Augen die Herren.

Silvester 2015 haben sie die erste Probe aufs Exempel im Westen gemacht, mitten in Deutschland. Rund 2.000 nicht zuletzt in den Moscheen verhetzte junge Männer fuhren schwarmartig aus allen Regionen nach Köln, um dort ihre Macht zu demonstrieren. Sie hatten sich im Netz verabredet. Vor allem wollten sie die Frauen aus dem öffentlichen Raum verjagen. Zum ersten Mal auch mitten in Europa. Denn die gehören ins Haus.

Silvester 20215 wollten verhetzte junge Männer
die Frauen aus der Öffentlichkeit vertreiben

So praktizieren diese Typen es seit langem auch in ihren Herkunftsländern, zuletzt weltweit sichtbar 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Als im sogenannten „Arabischen Frühling“, der rasch zum Winter wurde, auch die Frauen die neuen Freiheiten feiern wollten, wurden sie brutal verjagt, durch sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen. Auch die verschleierten Frauen traf es, ganz wie die „Schamlosen“, die es gewagt hatten, ihr Haar zu zeigen.

In diesem Geiste haben auch die Problem-Migranten in der Kölner Silvesternacht auf dem Bahnhofsvorplatz gewütet. 2015 wurde die Gewalt von der Mehrheit der Politik und Medien zunächst schlicht geleugnet. Später stellten 661 Opfer von Sexualstraftaten an diesem Abend Anzeige.

Alice Schwrazer (Hrsg.): Der Schock. Die Silvesternacht von Köln (Kiwi)
Alice Schwrazer (Hrsg.): Der Schock. Die Silvesternacht von Köln (Kiwi)

Die ganze westliche Welt stand damals unter Schock. Nur in Deutschland selbst wollten manche nicht begreifen. Allen voran die damals sogenannten „Netzfeministinnen“ (heute „Queerfeministinnen“), also junge Frauen, eher links als feministisch. Sie leugneten ganz wie heute einfach das Offensichtliche: Dass vor allem junge Frauen zunehmend auf der Straße von diesen arbeitslos herumstehenden und oft illegal anwesenden Männern belästigt werden. Dabei zeigen Erfahrungen und Umfragen eindeutig: Immer mehr Frauen wagen abends nicht mehr, alleine auszugehen bzw. öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Ich habe damals, im Mai 2016, das Buch „Der Schock. Die Silvesternacht von Köln“ veröffentlicht und die Täter benannt: Es waren überwiegend illegale Migranten aus Marokko und Algerien (zu meiner eigenen Überraschung). Und EMMA hatte ab dem 2. Januar 2016 den Opfern online eine Stimme gegeben. Resultat: Wir wurden des „Rassismus“ beschuldigt.

Kamel Daoud, der algerische Schriftsteller und einer der Autoren im „Schock“, lebt heute im Exil in Paris, weil ihm in seiner Heimat eine Fatwa droht. Er schrieb damals: „Diese Männer sind tausende Kilometer mit den Füßen gegangen, um zu uns zu kommen, aber sie sind diese Tausende Kilometer nicht mit dem Kopf gegangen.“

Selbsternannte deutsche Anti-Rassisten wollten das nicht wahrhaben. Sie wollen es bis heute nicht wahrhaben. Sie leugnen das Problem und verlangen, dass das, was da so offensichtlich ist, nicht gesagt wird. Ideologie sticht Realität. Parteipolitische Motive? Selbstverleugnung? Doch wie soll das Problem gelöst werden, wenn es noch nicht einmal benannt wird?

Ist es nicht eher Rassismus, wenn wir
diese Männer nicht zur Verantwortung ziehen?

Und ist es nicht eher eine Variante der Fremdenverachtung, wenn wir diese Männer noch nicht einmal so ernst nehmen, sie zur Verantwortung zu ziehen? Wenn wir nicht einmal versuchen, sie zu integrieren in Demokratie, Rechtsstaat und Gleichberechtigung der Geschlechter! Oder aber, so sie das verweigern, sie zurückzuschicken in ihre Herkunftsländer.

Gerade habe ich für EMMA die so aufschlussreiche Chronik von Silvester 2015 geschrieben. Da sieht man auf einem Foto der Protestaktion von rund tausend Frauen am 9. Januar 2016 vor dem Kölner Dom einen einsamen Mann stehen. Er hält ein Blatt vor die Brust, darauf steht: „Syrer gegen Sexismus“. Das sind die Muslime, mit denen wir solidarisch sein müssen – statt sie auch noch bei uns den Männern auszuliefern, vor denen auch sie aus ihrem eigenen Land geflohen sind.

ALICE SCHWARZER

Der Text erschien zuerst in der WELT am Sonntag.

 

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