Alice Schwarzer schreibt

Lernen von Hatun & Can

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In diesen Tagen gibt es für Menschen, die mir begegnen, vor allem ein Thema: Hatun & Can und die halbe Million. Von Nachbarn über Taxifahrer bis zur Supermarktverkäuferin – sie alle wollen wissen: Was ist aus dem Geld geworden? Darum erst mal die gute Nachricht: Von den 500.000 Euro, die ich bei "Wer wird Millionär?" gewonnen und am 25. September 2009 dem Verein gespendet hatte, ist der Löwenanteil noch da. Knapp 400.000 Euro konnten beschlagnahmt werden und ebenso der 60.000-Euro-BMW, den der Vereinsvorsitzende umgehend gekauft hatte.

Seit dem 31. März sitzt Udo D. alias Andreas Becker – wie er sich, angeblich aus „Sicherheitsgründen“, nannte – im Gefängnis Berlin-Moabit. Die Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt haben nahegelegt, ihn bis zum Prozess wg. Fluchtgefahr zu verhaften. Doch schon dem Bericht meines Kollegen Wüllenweber im Stern vom 8.4. ist zu entnehmen, wie toll und hemmungslos Udo D. es von Anfang an mit den Spendengeldern trieb. Angeblich wollte der Hartz-IV-Empfänger muslimischen Frauen auf der Flucht vor Gewalt oder Zwangsverheiratung helfen. Es sollte nicht noch einmal so ein Drama passieren wie mit Hatun Sürücü (und ihrem Sohn Can), die 2005 von ihrem Bruder wegen Verletzung der „Familienehre“ ermordet wurde. In Wahrheit aber gab Udo D. von Anbeginn an die Spenden für sich persönlich aus.

Er schmiss Runden in seinen Neuköllner Stammkneipen, lud eine Freundin zum Luxustrip ein, kaufte sich eine goldene Uhr und ging ins Thai-Bordell oder auf den Straßenstrich. Erstaunlich nur, dass in all den Jahren nie jemand bei den zahlreichen Medien anrief, die nur Gutes über Hatun & Can zu berichten hatten und zu Spenden aufriefen: wie der Berliner Tagesspiegel und der RBB oder in Folge auch Spiegelonline und EMMA.

Der Gründer von Hatun & Can sei der ehemalige Freund von Hatun Sürücü, wurde geflüstert. Entsprechend taktvoll recherchierten wir alle. EMMA inbegriffen. Doch der wahre Freund von Hatun, Timor S., zuckt heute nur mit den Schultern und erklärte dem Stern: „Udo hat sie exakt einmal getroffen (…) Von Hatuns Freunden macht niemand bei diesem Verein mit. Die wissen alle, dass der Udo nur Geld mit ihr verdienen will.“ Das Bedürfnis, den Betrüger zu stoppen, scheint allerdings nicht sehr groß gewesen zu sein.

EMMA brachte im März 2008 erstmals eine Meldung über Hatun & Can und, nach einem Hilferuf im Sommer 2008, einen ausführlichen Bericht im September 2008. EMMA-Redakteurin Chantal Louis hatte recherchiert: Beim Vereinsvorsitzenden persönlich (dem angeblich gramgebeugten Freund von Hatun), bei Vereinsmitgliedern sowie bei anderen Hilfsprojekten. Alle waren des Lobes voll über die Wohltaten des Vereins. Hunderte von Frauen hätten die gerettet, laut Hatun & Can, allein in 2008 und 2009 genau 170 Frauen aus „lebensgefährlichen Situationen“ und sie „neu integriert“.
Also spendete auch ich Hatun & Can im Sommer 2008 3.000 Euro. Ein Jahr später erhielt ich einen erneuten Hilferuf von „Andreas Becker“. Der Verein habe kein Geld mehr und könne ohne meine Hilfe nicht weiterarbeiten. Ich beschloss, erneut zu helfen – nicht ohne vorher noch mal rundum nachzufragen. Wieder waren alle des Lobes voll.
Am 25. September 2009 machte ich bei Wer-wird-Millionär? öffentlich, dass mein Gewinn an Hatun & Can, die verfolgten muslimischen Frauen helfen, gehen würde. Ich hatte nicht damit gerechnet, eine halbe Million zu erraten – habe mich aber dann umso mehr gefreut.
Gleich am Tag nach der Sendung begann ich, nachzuhaken, was denn nun mit dem Geld geschehen würde. Ich erhielt nur ausweichende Antworten. So vage, dass ich beunruhigt, Anfang November, nach Berlin fuhr. Zusammen mit Vereinsmitglied Necla Kelek traf ich „Verantwortliche des Vereins“. Neben „Andreas Becker“ saß ein schweigsamer Kumpane, der als „Bodyguard“ vorgestellt wurde (weil es ja so gefährlich sei, jungen Musliminnen zu helfen); gegenüber eine junge Frau, die eher den Eindruck vermittelte, selber Hilfe zu benötigen; sowie Anwältin Olga V.M., die sich als „Mitglied“ des Vereins und der „Französischen Kirche“ vorstellte und sich auffallend zurückhielt. Die „Französische Kirche“ organisiert ebenfalls Fluchtwohnungen für Asylsuchende. Im Stern wird Olga V.M. jetzt als „enge Vertraute“ von Udo D. bezeichnet. Auch gegen sie ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Nach dem einstündigen Gespräch mit den Vieren von Hatun & Can wusste ich: Hier stimmt etwas nicht! Von nun an setzte ich alle Hebel in Bewegung. Und was ich erfuhr, war nicht gerade beruhigend. Niemand wusste in Wahrheit Konkretes aus eigener Erfahrung, alle beriefen sich immer nur auf die anderen und die angeblich hundertfach Geretteten waren über Monate die immerselben drei jungen Türkinnen.
Doch in fast drei Jahren half Hatun & Can nur insgesamt elf Jungen Frauen, stellte Staatsanwältin Nina Thom fest. Sie wurden in eine verwahrloste „Fluchtwohnung“ gesteckt, sich selbst überlassen und mussten dann auch noch die Miete an Udo D. alias Andreas Becker zurückzahlen (das Geld kam vom Job Center oder vom Weißen Ring). Und noch nicht einmal die klägliche „Fluchtwohnung“ war von Hatun & Can, sondern wurde von der „französischen Kirche“ zur Verfügung gestellt, in der Olga V.M. Vorstandsmitglied ist.
Außer den Vieren schien es keine weiteren aktiven Vereinsmitglieder zu geben – nur geduldig Zahlende. Ein Beirat, wie rechtlich vorgesehen? Nie gesehen. Die beiden anderen Vorstandsmitglieder? Unsichtbar. Vereinstreffen? Nie stattgefunden. Mit den rund 60.000 Euro, die allein 2009 neben meiner Spende geflossen waren, schaltete und waltete Udo D. wie es ihm gefiel.
Inzwischen hatte RTL „Herrn Becker“ aufgefordert, das Geld bis zur Klärung zurückzuzahlen. Keine Reaktion. In der Situation erschien am 20.11.2009 im Berliner Tagesspiegel, – dem Blatt, das am meisten und euphorischsten über Hatun & Can berichtet hatte, - eine Dankesanzeige. Hatun & Can dankte „Alice Schwarzer und RTL“ für die Spende. Von den mir bekannten Hatun&Can-Mitgliedern war kein einziges unter den Unterzeichnern, auch Frau W.M. nicht. Die allerdings hatte zusammen mit ihrem Mann anscheinend die meisten oder alle dieser Unterschriften persönlich akquiriert.
Noch wenige Tage zuvor hatte die Anwältin mir geschrieben, es dürften auf keinen Fall Namen genannt werden, denn Hatun & Can hätte „Sicherheitsregeln, die denen des israelischen Geheimdienstes nicht nachstehen“. Was sie, Olga V.M. jedoch nicht daran hindern konnte, unter ihren Bekannten für die Unterzeichnung der Anzeige zu werben, und das, ohne sie über die längst offenen Probleme zu informieren. Der Stern schreibt jetzt, dass die von ihm angerufenen UnterzeichnerInnen gar überhaupt nichts von der Anzeige wussten.
Die verlogene Anzeige brachte für mich das Fass zum Überlaufen. Ich erstattete, zusammen mit Necla Kelek und RTL, Anzeige gegen Hatun & Can. Und Staatsanwältin Thom handelte beherzt. Udo D. wurde ab sofort beschattet, und es stellte sich heraus, dass er und seine Komplizin Tag für Tag Tausende von Euro am Automaten von dem Vereinskonto abgehoben hatten. Noch vor Weihnachten wurden die Konten und das Auto beschlagnahmt.
Was passierte nun? Erstaunliches! KollegInnen, die ganz wie EMMA in der Vergangenheit positiv über Hatun & Can berichtet hatten, riefen mich an. Doch sie fragten nicht etwa, warum ich Anzeige erstattet hatte – sondern sie versuchten mich zu bremsen, wenn nicht gar einzuschüchtern. Stil: „Wie stehen Sie denn dann da, Frau Schwarzer!“ oder „Sie ruinieren ja mit ihrem Vorgehen den Verein!“ – Ich antwortete: Hoffentlich!
Ganz offensichtlich wollten viele lieber weiter glauben anstatt endlich zu wissen.
Zum Glück hielt ich durch – und behielt leider Recht. Heute stellen sich für mich vor allem zwei Fragen:
1. Was eigentlich ist ein Vereinsrecht wert, nach dem jeder sich selbst als „gemeinnützig“ deklarierter Verein mit Spenden schalten und walten kann, wie ihm gutdünkt – ohne von irgendjemandem kontrolliert zu werden?
2. Welche Rolle spielen wir Medien eigentlich bei dem Missbrauch von Spenden? Können wir es überhaupt verantworten, zu Spenden an Vereine und Organisationen aufzurufen, bei denen wir uns nicht höchstpersönlich überzeugt haben – und weiter überzeugen – was mit den Geldern geschieht?
Udo D. hat im Namen der guten Sache nicht nur meine halbe Million kassiert, sondern auch von so manchem Gutgläubigen 10 oder 20 vom Mund abgesparte Euro im Monat. Wir alle wollten helfen. Aber gut gemeint ist eben nicht immer auch gut gemacht.
Ich bin sehr erleichtert, dass das Treiben von Hatun & Can jetzt gestoppt ist. Aber sind sie die Einzigen? Sobald das Geld nach Verurteilung von Udo D. zurückgeflossen ist, werde ich es neu an Projekte verteilen. Aber diesmal mit Auflagen. Denn auch bei einer scheinbar guten Sache geht Kontrolle über Vertrauen.
Alice Schwarzer

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