Alice Schwarzer schreibt

Hatun & Can, Nr. 3

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Neben ihm sein Anwalt, Hubertus Dreiling, ein in Berlin berüchtigter Krawalleur, der wohl eher zu einer Verschärfung der Strafe von Udo D. beitragen wird als zu einer Linderung, so, wie er sich aufführt. Die Methode Schwenn passt eben nicht immer.
Hätte ich nicht – zusammen mit Necla Kelek, eines der vielen zahlenden Mitglieder des Vereins, und der RTL-Stiftung – im Dezember 2009 Anzeige erstattet, würde Udo D. vermutlich immer noch frei rumlaufen (siehe auch  Prozessbeginn Hatun & Can vom 29.10.2010). Und er würde wohl weiterhin seine Reisen, Freundinnen und Bordellbesuche aus der Vereinskasse begleichen (wie der Stern im April 2010 behauptete). Denn die Gutgläubigkeit ist groß in Bezug auf Vereine, die es angeblich gut meinen. Und die Kontrolle gleich Null. Sowohl seitens der SpenderInnen als seitens des Staates.
Ich bin allerdings sehr rasch misstrauisch geworden bei Hatun & Can. Zunächst hielt ich bei näherem Hinsehen den Verein für überfordert; dann begann ich, mir Fragen zu stellen – schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, dass hier etwas ganz extrem nicht stimmen könne.
Zunächst hatte ich geglaubt, Udo D. sei der Lebensgefährte der ermordeten Hatun Sürücü gewesen. Entsprechend gerührt war ich. Dass der so was macht: anderen jungen Frauen in Not helfen. Hinzu kam meine Begeisterung über eine scheinbar so flexible Bürgerinitiative, die jenseits aller bürokratischen Regeln auch mal schnell helfen kann.
Nur: Diese Hilfe wurde eben nicht in tausenden von Fällen geleistet, wie behauptet, sondern offensichtlich nur bei einer handvoll. Und auch da nur höchst unzureichend: verdreckte „Fluchtwohnungen“, alleingelassene „Gerettete“, verantwortungsloser Umgang mit den jungen Frauen.
Doch das Allerschlimmste ist: All das hätte man sehen können, wenn man nur gewollt hätte. Wenn man sich nur Mühe gemacht hätte, nicht nur glauben, sondern wissen zu wollen. Aber es lief anders: Ein Journalist verließ sich auf den anderen, ein Vereinsmitglied auf das nächste. Es wäre ja auch zu schön gewesen…
Walter Wüllenweber, der über Hatun & Can für den Stern geschrieben hat, ist seither der ganzen „Sozialindustrie“ auf die Schliche gegangen. Und er hat herausgefunden, dass wir uns in sehr vielen Fällen Fragen stellen müssten. Dabei geht es um enorme Summen: 2 Milliarden Euro spenden Private alljährlich in Deutschland für die gute Sache – und der Staat legt nochmal 117 Milliarden Euro dazu! Aber was geschieht wirklich mit diesen Unsummen? Diese Frage müssen wir uns leider stellen. Auch wenn es viel bequemer wäre, einfach nur an das Gute zu glauben - und ab und zu zu spenden.
Übrigens: Trotz der offensichtlichen Fragwürdigkeit im Falle Hatun & Can ist mir gestern ein Journalist im Gericht begegnet, der immer noch felsenfest davon überzeugt scheint, dass es sich um einen gewaltigen „Justizirrtum“ handele und Udo D. bald frei sein werde. Ist dieser Journalist blind? Nein, vermutlich nur eitel. Eher lässt er im Namen des Guten weiterhin Schlechtes geschehen, als sich und anderen einzugestehen, dass er sich geirrt hat.
Sicher, auch ich ärgere mich darüber, dass ich mich habe täuschen lassen. Aber ich habe daraus gelernt. Und hoffentlich nicht ich allein.
EMMA berichtet weiter über den Skandal von Hatun & Can.

Weiterlesen
Prozessbeginn gegen Hatun & Can (Blogeintrag vom 29.10.2010)
Lernen von Hatun & Can (Blogeintrag vom 7.4.2010)

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