Alice Schwarzer schreibt

150 Kerzen im Kölner Dom

Foto: Imago
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Am Freitag bei der Trauerfeier im Kölner Dom brannten 150 Kerzen: 149 für die Opfer – und eine für den Täter. Da fiel mir spontan die Trauerfeier der Grünen für Petra Kelly und Gert Bastian ein. Auf dem Podium standen an diesem 31. Oktober 1992 überlebensgroße, blumengeschmückte Porträts von ihr und ihm, und einer nach dem anderen gedachte der „lieben Petra“ und des „lieben Gert“. Nur eine hatte sich geweigert aufzutreten: die amerikanische Anti-Vietnamkriegs-Sängerin Joan Baez. Sie erklärte, sie „singe nicht für den Mörder und sein Opfer“. Zu dem Zeitpunkt war seit zehn Tagen bewiesen, dass Gert Bastian seine Lebensgefährtin Petra Kelly im Schlaf erschossen hatte – und anschließend sich selbst.

Der Täter war nicht depressiv, sondern narzisstisch gekränkt

Nun, 23 Jahre später, passiert nicht Ähnliches, sondern Schlimmeres. Denn bei der German-Wings-Katastrophe haben wir es noch nicht einmal mit der tragischen Verstrickung einer Beziehungstat zu tun, sondern mit einem Amokläufer, der 149 ihm unbekannte Menschen willentlich mit in den Tod gerissen hat. Zu dem Zeitpunkt ist es seit Tagen klar, dass der Co-Pilot bei vollem Bewusstsein und in mehreren Schritten den Kapitän aus dem Cockpit ausgeschlossen und das vollbesetzte Flugzeug an den Felsen gesteuert hatte.

Dennoch schreibt Spiegel Online anlässlich der Trauerfeier im Dom: „Am Ende ist das Geschehen vielleicht für immer unerklärlich, so dass Fragen bleiben werden: Warum hat sich Lubitz gerade auf diesem Flug in diesem Augenblick zu seiner mutmaßlichen Wahnsinnstat entschlossen?“ Mit Verlaub: Das ist eine Frage, die wir nach jedem Amoklauf stellen können und müssen. Auch bei dem Amoklauf des jungen Waffennarrs in seiner ehemaligen Schule; oder dem Amoklauf des Afghanistan-Veterans in seiner Heimat; oder auch bei dem Amoklauf eines ideologisch Fanatisierten.

Doch auch die nicht immer einfachen Antworten auf diese Fragen entbinden den Täter nicht seiner Verantwortung. Im Fall Andreas Lubitz schon gar nicht. Nach unserem jetzigen Kenntnisstand war der 27 Jahre alte Täter nicht depressiv, sondern narzisstisch gekränkt – eines der häufigsten Motive von Amokläufern. Lubitz drohte aus gesundheitlichen Gründen der Verlust seines Traumberufs. Darum scheint er auch sauer gewesen zu sein auf seinen Arbeitgeber. Ihm stand der Sinn nach Rache. Nach etwas Großem. Dass er dabei 149 Menschen mit in den Tod nahm, konnte ihn an seiner Tat nicht hindern. Im Gegenteil: Es könnte ihn beflügelt haben. Denn nichts ist gewaltiger, als Herr zu sein über Leben und Tod.

Die Eltern des Co-Piloten kamen nicht zur Trauerfeier.

Und noch etwas kommt in diesem Fall erschwerend hinzu: Die Verantwortung eines Piloten für die ihm wehrlos anvertrauten Menschen ist eine besonders große. Wie zum Beispiel die eines Arztes für seine Patienten. Auch daran wäre die Schuld von Lubitz zu messen.

Nur einer hat an diesem Freitag die „menschliche Schuld“ erwähnt: Bundespräsident Gauck. Und auch die Eltern des Co-Piloten schienen sich des Problems bewusst zu sein: Sie kamen nicht zur Trauerfeier. Die Angehörigen der Opfer aber mussten, wie zum Hohn, auch noch mitbeten für den Täter.

Übrigens: Wer die Schuldfrage nicht stellt, der kann auch nicht die Frage nach der Verantwortung stellen – und wird darum auch in Zukunft solche Taten kaum verhindern können.

Alice Schwarzer

Zuerst erschienen in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 19.4.2015

 

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Was Männlichkeit heute bedeutet

Prof. Rolf Pohl
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Wie erklären Sie sich, dass es bei dem Amoklauf von Winnenden schon ab dem zweiten Tag keine Rolle mehr spielte, dass 11 von 12 Opfern in der Schule Mädchen bzw. Frauen waren?
Ich finde es sehr auffällig, dass der gesamte Geschlechteraspekt weitgehend ausgeblendet wird, und zwar in doppelter Hinsicht: in Bezug auf die Opfer wie in Bezug auf den Täter. Am Anfang wurde noch darauf hingewiesen, dass der Täter überwiegend Mädchen erschossen hat. Dann war aber nur noch von "Schülern" die Rede. Das ist ja ein Indiz dafür, dass man auf die Frage, welches Geschlecht die Opfer haben, kein Augenmerk mehr legt. Aber auch das Geschlecht des Täters wird nicht thematisiert: Bei fast allen Erklärungsansätzen spielt der brisante Zusammenhang zwischen Adoleszenz und dem Versuch, eine männliche Identität zu finden, keine Rolle. Wobei ich dringend davor warne, Ferndiagnosen über die Person des Täters zu stellen. Trotzdem: Diese Gemenge-Lage darf man nicht aus dem Auge verlieren, wenn man Erklärungen finden und Hintergründe beleuchten will.

Welche Erklärungen würde man dann womöglich finden?
Es wäre wichtig, genauer anzuschauen, was eigentlich das Innenleben von pubertierenden Jungen ausmacht, was deren typische Krisen und Konfliktlagen sind. Welche "Lösungen" dieser Konflikte wählen sie, um sich eine "männliche" Identität zu kreieren? In unserer Gesellschaft ist Männlichkeit nach wie vor stark mit Gewalt verknüpft. Und daher müssen wir an die Wurzeln der Männlichkeitsproblematik: nämlich den Wunsch, lebensgeschichtliche Krisen durch Etablierung eines Männlichkeitsbildes zu lösen, das Gewalt, Dominanz und Heldentum beinhaltet. Um das zu ändern, müssen wir an die gängige Konstruktion von Männlichkeit heran. Und das bedeutet, dass wir zweierlei hinterfragen müssen: Welche Bilder von Männlichkeit haben Jungen, welche haben sie von Weiblichkeit? Welche inneren Einstellungen und unbewussten Bewertungen stehen dahinter? Wenn diese Fragen ausgeblendet und nicht systematisch mit einbezogen werden, sind alle pädagogischen Ansätze halbherzig.

In unserer Gesellschaft ist Männlichkeit stark mit Gewalt verknüpft

Ein Ort, wo diese Bilder mit geprägt werden, sind Computerspiele, die gewalttätige Männer und verfügbare Frauen zeigen. 
An diesen Spielen zeigt sich, wie stark Gewaltfantasien mit einer feindseligen Abwertung von Weiblichkeit verknüpft sind. Aber sie erzeugen diese Bilder nicht. Sondern: Sie satteln nur auf diesen inneren Einstellungen auf. Bei dafür anfälligen Jugendlichen werden diese Bilder eingebrannt, eingeschliffen und habitualisieren sich als Haltung. Wenn es diese Spiele nicht gäbe, dann würden sich die bereits vorgeprägten Jungen für ihre frauenfeindliche Haltung und ihre Verherrlichung von Männlichkeit andere Bilder suchen. Die Medien bieten hier ja genug an.

Der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen, Präsident der FU Berlin, sieht eine Ursache für Amokläufe im deutschen Bildungssystem, dass Jungen "massiv benachteiligt". Außerdem hätten die Jungen, weil sie überwiegend von Lehrerinnen unterrichtet würden, "oftmals gar nicht die Chance, eine ausgereifte Geschlechtsidentität zu bilden".
Ich halte diesen Zusammenhang für konstruiert. Hinter diesem Ruf nach mehr männlichen Vorbildern wird ein negatives Bild von Frauen reproduziert, die als Mütter, Erzieherinnen und Lehrerinnen pauschal für das Versagen der späteren Männer verantwortlich gemacht werden. Da wird suggeriert: Wenn Männer die ersten 15 bis 20 Jahre von Frauen umgeben sind, dann könnten sie keine ordentliche männliche Identität ausbilden. Das ist Unsinn.

Und was halten Sie für die Ursachen?
Ich möchte sogar die gegenläufige These aufstellen: Wenn es darum geht, Weiblichkeitsbilder einzuüben, die nicht feindselig getönt sind, können Jungen gerade von Erzieherinnen und Lehrerinnen eine ganze Menge lernen. Außerdem sind beliebige männliche Vorbilder noch keine Garantie für eine positive Entwicklung von Jungen. Die Männer, an denen sich die vorherigen Generationen orientiert haben, das waren überwiegend die autoritären Väter. Und die haben uns, sehr verkürzt gesagt, auch im Zeichen von Männlichkeitswahn in zwei Weltkriege geführt. Von daher reicht es nicht, zu fordern: Wir brauchen mehr männliche Erzieher und Lehrer. Das macht nur dann Sinn, wenn das Pädagogen sind, die kritisch über ihre eigenen Männlichkeitsvorstellungen und auch über eigene ambivalente oder feindselige Einstellungen zu Weiblichkeit reflektieren.

Verwandeln die Jungen ihre Schwierigkeiten in der Schule und die Tatsache, dass die Mädchen sie leistungsmäßig abgehängt haben, in Hass- und Gewaltfantasien gegen Mädchen und Frauen?
Das ist sicher eine Gefahr, weil für die Misere ein Schuldiger gesucht wird und es sich in einer männlich bestimmten Kultur anbietet, das an Mädchen und Lehrerinnen festzumachen. In den Schulen ist in den letzten Jahren die Schere zwischen dem immer höheren Leistungsdruck und der wachsenden Perspektivlosigkeit größer geworden. Und so klafft bei Jungen in der Pubertät auch eine gewaltige Lücke zwischen realer Kleinheit und Größenphantasien von Macht, Stärke und Gewalt als Kompensation von Schwäche, die man sich nicht eingestehen will. Manche Jungen versuchen dann, den Leistungsdruck zu erfüllen, indem sie ein hypermaskulines Selbstbild entwickeln und damit eine Form von Stärke demonstrieren, die sie in der Schule nicht erreichen.

Eine ganz andere Erklärung für den Amoklauf gab der Psychologe Franz Joseph Freisleder im Spiegel. Er sagte: "Wir Männer sind eher gefährdet, weil uns das Testosteron aggressiver macht."
Na ja, diese Art von Biologismus ist der beschönigende Versuch, sich um die Suche nach den wahren Gründen und den gesellschaftlichen Ursachen dieser Geschlechterungleichheiten und der vorherrschenden Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder zu drücken. Dass es unterschiedliche Hormonverteilungen gibt, die vielleicht  etwas am Aggressionspegel ändern, sagt doch überhaupt nichts darüber aus, wie diese Aggressionen ausgelebt werden und wer als Objekt und als Feindbild in den Mittelpunkt der männlichen Aggressionen rückt, nämlich Frauen. Der Gipfel dieses Biologismus wurde durch zwei amerikanische Forscher erreicht, die behaupteten, Vergewaltigung läge in den Genen der Männer, weil es ein evolutionärer Vorteil sei, seine Gene in die nächste Generation zu schleudern – notfalls eben auch mit Gewalt. Typischerweise kam das natürlich sofort auf die Titelseite des Spiegel.

Lieber Herr Pohl, was ist denn nun eigentlich ein Mann?
Männlichkeit ist ein kulturelles und soziales Konstrukt, das bis in das Körpergefühl des heranwachsenden Jungen eingeschrieben wird. Das jeweils vorherrschende Modell von Männlichkeit verändert sich, je nach Epoche und Region. Aber neben hierarchischen Unterschieden zwischen Männern gibt es eine Tatsache, die alle Männer vereint und die in männlich bestimmten Gesellschaften besonders betont wird: männlich sein heißt nicht-weiblich sein. Jungen erwerben ihre Geschlechtsidentität vor allem über die Abgrenzung von Frauen und die Abwertung von Weiblichkeit. Sie unterliegen dabei dem Druck, sich nicht nur als das andere, sondern auch als das überlegene und wichtigere Geschlecht zu definieren und dies "notfalls" auch zu beweisen. Die damit verbundene Unsicherheit und Angst ist eine der wichtigsten Quellen für männliche Gewaltbereitschaft, vor allem für die Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Das Ergebnis: Weltweit wird mindestens jede dritte Frau einmal in ihrem Leben von Männern geschlagen, vergewaltigt oder auf andere Weise misshandelt.

Es müsste mehr gemischt-geschlechtliche Projekte geben

Was müsste denn passieren, damit die Jungen nicht abdriften?
Die inneren Einstellungen der Jugendlichen zum eigenen und zum "anderen" Geschlecht müssten genauer untersucht werden: Wie und warum findet eine Abwertung von Weiblichkeit statt? Welche seelischen und sozialen Mechanismen wirken hier? Dann wären wir schon ein Stück weiter und hätten einen wichtigen Hebel, an dem wir ansetzen können. Auf dieser Basis müssen wir alles unternehmen, um zu verhindern, dass die Jungen Unsicherheit und Angst in Gewalt transformieren.

Wäre verstärkte Jungenarbeit ein Weg?
Grundsätzlich ja. Aber man muss aufpassen, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet. Eine Distanz zu Mädchen und Frauen unterliegt bei uns immer der Gefahr, dass sie mit der Abwertung des Weiblichen einhergeht. Es ist sicher wichtig, dass es für Jungen Nischen gibt. Es gibt Themen, die Jungs unter sich besprechen sollten. Aber das Problem der ambivalenten bis feindseligen Einstellungen gegenüber dem anderen Geschlecht wird damit noch nicht automatisch gelöst. Wir müssen daher vor allem versuchen, die Jungen und Mädchen gegen diese Feindseligkeit zu immunisieren. Davor, dass sie sich belauern, Angst voreinander haben. Und das geht sicher besser im realen Kontakt und der Auseinandersetzung mit Angehörigen des anderen Geschlechts. Ich möchte auch hier eine provokante Gegenthese aufstellen: Es müsste viel mehr gemischtgeschlechtliche Projekte geben, in denen Jungen und Mädchen gegenseitigen Respekt ohne Angst einüben. Ich habe nichts gegen verstärkte Jungenarbeit. Aber wenn sie so läuft, dass man sagt: Jetzt müssen wir endlich mal unter uns sein, ohne die doofen Mädchen und ohne weibliche Erzieher, um dann eine Männlichkeit zu zelebrieren, die sich scharf von Frauen und weiblichen Einflüssen abgrenzt, dann ist das fatal.

Der Sozialpsychologe Rolf Pohl lehrt an der Universität Hannover, Schwerpunkt Männlichkeitsforschung. Er veröffentlichte "Feindbild Frau – Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen".

 

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