Alice Schwarzer schreibt

Die frühe Brechung

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Es ist die bittere Wahrheit: So manche Mutter spielt beim Inzest eine fatale Rolle. Nicht als Täterin, wie es eine Zeit lang dreist behauptet wurde (Der Spiegel ließ sich dazu hinreißen zu schreiben, jeder vierte Kindesmissbrauch werde von einer Frau verübt). Nein, 98,5 % aller Missbraucher sind Männer, laut Bundeskriminalamt. Und die verbleibenden 1,5 % Frauen sind in den meisten Fällen "nur" Mittäterinnen. Frauen sind jedoch so manches Mal Dulderinnen. Sie sehen weg, sie wollen es nicht wahrhaben, sie schweigen. Aus Angst. Aus Schwäche. Aus Scham. Weil sie erleichtert sind, dass sie nicht dran sind. Oder weil sie eifersüchtig sind auf „die Jüngere". Und machen so den Missbrauch in diesem Ausmaß überhaupt erst möglich.

Allein in Deutschland werden jährlich bis zu einer Million Kinder sexuell missbraucht, meldete das Kriminologische Institut in Hannover. Etwa jedes vierte bis dritte Mädchen und maximal jeder zehnte Junge sind Opfer - ergeben Statistiken und Schätzungen aus Deutschland, den Nachbarländern und den USA. In mindestens drei von vier Fällen ist der Täter nicht der böse Fremde, sondern der liebe Nachbar, Onkel, Vater, signalisieren alle Erhebungen, auch der US-Sex-Report von 1994. Und meist ist es kein einmaliges Grauen, sondern ein fortgesetztes, ist es ein Missbrauch, der über Jahre geht.

Es ist der schlimmste Verrat, den ein Erwachsener einem Kind antun kann: die Zerstörung von Körper und Seele unter dem Vorwand der Liebe. Und er hat lebenslange Folgen für das Opfer. Drei von vier Psychiatrie-Patientinnen und neun von zehn Prostituierten sind missbraucht worden. Missbrauchte leiden an zerstörtem Selbstwertgefühl, Angstzuständen, Depressionen, Persönlichkeitsspaltungen; sie neigen zu Magersucht, Drogen, Selbstverstümmelungen, Selbstmord.

Doch das vielleicht Allerschlimmste ist, dass die kindlichen Opfer sich meist auch noch selbst für schuldig halten: für böse Kinder, die es nicht besser verdient haben. Wie sollten sie auch anders, wenn der allmächtige Vater sie wie ein Stück Dreck behandelt, müssen sie ja schmutzig sein. Und wenn dann auch noch die schützende Mutter versagt, dann kann das nur am Kind selber liegen.

Über Jahrtausende herrschte uneingeschränkt das Recht des Vaters. Erst im Mittelalter wurde in Europa das verbriefte Recht des Vaters abgeschafft, seine Kinder zu missbrauchen, zu verstoßen und zu töten. Und noch im 16. Jahrhundert "hallten die Latrinen von den Schreien der Kinder wider, die man hineinwarf (so ein Zeitzeuge). Die Familie war Besitz des Patriarchen. Sie ist es seit dem 20. Jahrhundert rein rechtlich nicht mehr, aber die patriarchalen Sitten wirken nach. Darum sind so manche Väter noch immer so befremdet über den Aufstand. Für sie ist in Wahrheit nicht der sexuelle Missbrauch der Skandal, sondern die Tatsache, dass dieser ein Skandal sein soll. Denn ihr sexuelles Verfügungsrecht über Frau und Kind ist das traditionelle Fundament ihrer Macht: Dein Körper und deine Seele gehören mir. Ich mache damit, was ich will. Vergiss das nie.

Es ging lange gut, bis Frauen und Kinder sich im 19. Jahrhundert erstmals kollektiv gegen "das Gesetz des Vaters" auflehnten. Ihr Widerstand wurde zerschlagen. Was einzelne Stimmen nicht zum Verstummen bringen konnte. So geißelte die (selbst missbrauchte) Schriftstellerin Virginia Woolf 1938 den "unterbewussten Hitlerismus" in jedem Mann, dieses private Herrenmenschentum. Für sie kann es "ohne private Freiheit keine öffentliche Freiheit" geben. Zwanzig Jahre später schrieb die (allem Anschein nach ebenfalls missbrauchte) Ingeborg Bachmann - eben jede Vierte bis Dritte -über den alltäglichen "Faschismus in der Familie". Und das sind nur zwei Stimmen von vielen. Doch öffentlich blieb das Thema tabu. Und wenn doch mal etwas hochkam, war selbstverständlich das Mädchen schuld und hatte der Mann Recht. Jedes Recht.

Im April 1978 veröffentlichte EMMA als Erste im deutschen Sprachraum ein Sieben-Seiten-Dossier über Das Verbrechen, über das niemand spricht. Auslöser war der Fall der 14-jährigen Petra, die wiederholt von ihrem Vater vergewaltigt worden war. Ihre Stiefmutter flüchtete mit ihr in das Berliner Frauenhaus, Petra zeigte den Vater an.

Die Lektüre der EMMA-Texte von vor über 20 Jahren ist rückblickend aus zwei Gründen erschütternd: Erstens, weil schon damals alle Fakten auf dem Tisch lagen, vom Ausmaß des Missbrauchs über die Struktur der Täter bis hin zur Mitverantwortung der Mütter. Zweitens, weil damals auf diese allererste Veröffentlichung nicht eine einzige Reaktion kam. Kein Leserinnenbrief, kein Anruf- und das in einer Zeit, in der EMMA Waschkörbe voller Briefe auf die Veröffentlichung über die (ferne) Klitorisverstümmelung erhielt. Es war, als hätten wir uns geirrt, als gäbe es das Problem überhaupt nicht.

Gleichzeitig aber hatte die Propagierung der "Kinderliebe" Hochkonjunktur. Im Zuge der "sexuellen Befreiung" nahm sich nun so mancher 68er die Freiheit des offenen Zugriffs auf das Kind (bei seinem Vater war der noch verdeckt gewesen). Die "Befreiung der kindlichen Sexualität" (durch die Erwachsenen) galt als Programm so mancher „antiautoritären" Erziehung. Hinzu kam die feministische Herausforderung. Sie beschleunigte den verstärkten Rückgriff so mancher Männer auf die Kinder: Die konnten mit den erwachsenen Frauen einfach immer weniger anfangen. In Deutschland erfand Klaus Rainer Röhl, der Herausgeber von konkret, der damaligen Hauspostille der 68er, die Kindersex-Cover.

Bei der Sexualstrafrechtsreform 1976 waren es ausgerechnet die fortschrittlichen unter den Experten, die den Ausschlag zur Reform des § 173 und damit zur Strafmilderung bei Inzest gaben. So plädierte der renommierte Gerichtsgutachter Maisch damals mit einer "tragischen Verkettung von Zuneigung und Ablehnung, Angst und Faszination, Fürsorge und Rücksichtslosigkeit. Kurz, der ganzen Zwiespältigkeit, die gerade den engsten zwischenmenschlichen Beziehungen innewohnen kann". - Täter und Opfer tragisch "gemeinsam verstrickt". Zwischenmenschlich. Gemeinsam. Als gäbe es kein Machtgefälle zwischen Erwachsenem und Kind. Als seien Vergewaltiger und Vergewaltigungsopfer gleichberechtigte Partner.

Schon Ende der 70er war Das bestgehütete Geheimnis (wie ein Buch der Amerikanerin Florence Rush hieß) auf internationaler Ebene dem Verschweigen entrissen. Eigentlich war es nicht länger zu leugnen, dass Kindesmissbrauch nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Doch sollte es noch 10,15 Jahre dauern, bis das Thema von den Medien aufgenommen wurde. Auch dann allerdings keineswegs immer in der Absicht, aufzuklären, sondern oft in der, aufzugeilen oder zu verharmlosen. Strategie: die Opfer noch einmal zum Objekt oder sie und ihre Helferinnen unglaubwürdig machen. Beim Kindesmissbrauch war also der Rückschlag schneller als der Schlag, kam der Backlash vor dem Aufstand. Nicht zuletzt daran sehen wir, welche zentrale Bedeutung das Problem nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter hat.
Auf dem ersten Höhepunkt der Debatte wurde dann 1993 der Fall Woody Allen zu einer Art internationalem Schauprozess, mit dem der Männerbund beweisen wollte: Es gibt keinen bösen Missbrauch, sondern nur nette Daddys mit ihren Lieblingen und hysterische Mütter mit ihren Frustrationen. Wobei es nicht nur eigentlich egal ist, ob diese Kinder nun biologische oder soziale Kinder sind, wie im Fall Farrow/Allen, sondern es im Gegenteil kein Zufall ist, dass gerade die in den modernen Patchwork-Familien zunehmende soziale Vaterschaft durch den Fall Woody Allen so relativiert wurde (sie war ja gar nicht seine "richtige" Tochter). Denn einerseits wollen diese sozialen Väter ernst genommen werden - andererseits stehlen sie sich aus der Verantwortung, sobald es ihnen in den Kram passt.

Reden wir also nochmal über den Fall. Was ist wirklich passiert? Woody Allen hatte Mia Farrow, eine Adoptivmutter von zuletzt acht Kindern - darunter das asiatische Straßenkind Soon-Yi - geheiratet. Das von Farrow aufgelesene Mädchen war sieben, als Allen zu der Familie stieß, und stark verhaltensgestört und lernbehindert. Der neue Vater ließ das Kind lange links liegen. 1991, Soon-Yi ist inzwischen 19 oder 20 (das wahre Alter des Straßenkindes ist unbekannt), entdeckt Mia Farrow in seiner Wohnung Pornofotos (das Paar wohnte getrennt: sie mit den Kindern, er allein). Allen hatte die Fotos von dem Mädchen gemacht: mit gespreizten Beinen, bloßen Genitalien etc. Es stellt sich heraus, dass er schon vor Jahren heimlich ein Verhältnis mit ihr angefangen - da muss Soon-Yi 15/16 gewesen sein - und gleichzeitig mit ihr als "Tochter" weiter in der Familie verkehrt hatte.

Später erzählte Allen, Soon-Yi habe sich beim gemeinsamen Ausgehen oft über ihre Mutter beschwert. Die sexuelle Komplizität der beiden schließt also die Mutter nicht nur aus, sondern richtet sich direkt gegen sie.

Mia Farrow, inzwischen Mutter von neun Kindern - darunter Sohn Moses, das gemeinsame biologische Kind mit Woody Allen -hatte bis dahin nichts geahnt. Sie macht ihrem Mann jetzt eine Szene - aber schweigt nach außen. Und er? Er verkehrt weiterhin quasi täglich in der Familienwohnung, nicht zuletzt, um seinen kleinen Liebling, die inzwischen siebenjährige Dylan, zu sehen. Allen hatte sich seit Jahren auch selbst um Dylans Adoption bemüht, die jedoch vom Adoptionsgericht abgelehnt worden war, weil Psychologen bei ihm ein "unangemessen intensives Verhältnis" zu dem Kind konstatiert hatten. Am 4. August 1992 platzt die zweite Bombe. Ein Kindermädchen beobachtet "irritierend intime Szenen" zwischen dem (sozialen) Vater und seiner kleinen Tochter. Die vom Kinderarzt und von Psychologen befragte Dylan erzählt daraufhin allen das Gleiche: Ihr Vater habe sie am ganzen Körper geküsst, auch zwischen den Schenkeln, und seine Finger in sie "reingedrückt": "Es hat wehgetan", sagt das kleine Mädchen. Aber: "Er hat gesagt, wenn ich in dem Film vorkommen will, bleibt mir nichts anderes übrig. Er hat einfach immer wieder reingestoßen." Es kommt raus, dass die kleine Dylan schon seit Jahren Angst vor ihrem Vater hatte, sich versteckte, wenn er kam, und anfing "wie ein Baby zu brabbeln oder wie ein Hund zu bellen".

Mia Farrow macht ihrem Mann eine zweite Szene - und schweigt nach außen. Sie erstattet auch keine Anzeige.

Erst der Kinderarzt, der Dylan untersucht, erstattet endlich Anzeige wegen Verdachts auf sexuellen Missbrauch (dazu sind die Ärzte in Amerika bei Verdacht auf sexuelle Gewalt seit einigen Jahren juristisch verpflichtet). Eine Woche nach dieser Anzeige geht Woody Allen in die Offensive: Er klagt auf das Sorgerecht für Dylan (!) sowie den gemeinsamen leiblichen Sohn Moses. Durch die europäischen Feuilletons wogt eine Welle von Hohn und Spott. Doch der gilt nicht Allen, sondern Farrow, dieser frustrierten, hysterischen Mutterkuh.

In dieser Zeit schreibt Moses an seinen Vater: "Du kannst mich nicht zwingen, bei dir zu leben. Du hast dir eine schreckliche, armselige, hässliche, dumme Sache geleistet. Jeder Mensch weiß, dass man mit der Schwester seines Sohnes keine Affäre anfängt (Anm.d.Aut.: Soon-Yi). Ich betrachte dich nicht mehr als meinen Vater. Ich hoffe, du bist stolz darauf, den Traum deines Sohnes zerstört zu haben." - Worte, die Woody Allen in seinem selbstgerechten Wahn nicht hindern können, weiterhin auch auf das Sorgerecht seines Sohnes zu klagen. Öffentlich bekannt wird der Brief erst Jahre später durch die Veröffentlichung von Mia Farrows Memoiren Dauer hat, was vergeht.

Die Niederlage, die der New Yorker Surpreme Court dem Kläger am 7. Juni 1993 beschert, könnte vernichtender nicht sein. Das Gericht spricht Woody Allen jegliche "elterliche Fähigkeit" ab. Es weist ihm nach, dass er weder die Namen der Freunde oder Haustiere, noch die der Kinderärzte oder Lehrer seines Sohnes kennt. Und: dass dieser Ehemann und Vater alles getan hat, seine Familie vollends zu zerstören. Richter Elliot Wik:

"Seine Prozessstrategie bestand darin, einen Keil zwischen seine Kinder zu treiben, die Kinder gegen ihre Mutter einzunehmen, die Familie gegen ihre Haushaltshilfen aufzustacheln und die Hausangestellten selbst gegeneinander auszuspielen. Seine Selbstbezogenheit, sein mangelndes Urteilsvermögen und die Hartnäckigkeit, mit der er weitere Zwietracht sät und somit verhindert, dass die von ihm bereits zugefügten Wunden verheilen, lassen geraten erscheinen, seinen Kontakt zu den Kindern in Zukunft aufmerksam zu überwachen."

Dass Woody Allen die Kindernärrin Mia Farrow geheiratet hat, ist geradezu symptomatisch. Studien (und auch einschlägige Kleinanzeigen) zeigen, dass Männer, die Kinder missbrauchen, auffällig oft Frauen heiraten, die bereits Kinder mit in die Ehe bringen ...

Der Fall Woody Allen hat übrigens noch eine grausame Pointe. Nachdem er die als Kind so verstörte Soon-Yi als Minderjährige "verführt" und als Volljährige geheiratet hat - adoptierte er 1999 mit ihr zusammen ein Baby, eine Asiatin; und im Sommer 2000 eine sechs Monate alte Texanerin. Noch zwei Mädchen. Soon-Yi wird ja auch nicht jünger ... Es ging kein Aufschrei durch die Medien.

Der Fall Woody Allen ist so exemplarisch, weil er klarmacht, wie dreist trotz erschlagender Faktenlage die öffentliche Leugnung der Schuld der Täter sein kann. Hinzu kommt: Allen gilt als "moderner" Mann, dessen filmische Sexfantasien einst für selbstironische Satire gehalten wurden (Heute wissen wir, wie bitterernst sie gemeint waren). Ausgerechnet dieser Mann, in dessen Kreisen Patchwork-Familien gang und gäbe sind, tritt mit Soon-Yi die Verantwortung der modernen, sozialen Vaterschaft mit Füßen. Die Sache sei doch gar nicht so schlimm, sagte nicht nur er, schließlich sei Soon-Yi doch gar nicht seine "richtige" Tochter. Von Dylan redet inzwischen niemand mehr. Beide "falschen" Töchter hatten, ganz wie Mia Farrow, Woody Allen jahrelang für den richtigen Vater gehalten.

Nach der Woody-Allen-Affäre war die Lolita-Renaissance quasi vorprogrammiert. 1997 wurde der berühmte Roman von Vladimir Nabokov neu verfilmt. Er hatte bereits in den 50ern Furore gemacht, der Zeit der Rückkehr der müden Kriegshelden und Brechung der starken Frauen, die in deren Abwesenheit ihren Mann gestanden hatten. Nabokovs Held ist, ganz wie der Autor, Literaturprofessor von Beruf, und er ist ein Frauenhasser von Passion. Es ekelt ihn vor "massigen Menschenweibern" mit ihrem "schalen Fleisch", er treibt sich lieber auf den Spielplätzen dieser Welt herum, um sich an "Nymphchen" aufzugeilen. Mit 40 macht er sich an eine dieser "Mutterkühe" ran, meint aber in Wahrheit deren 12-jährige Tochter. Während er noch auf Mutters Mord sinnt, entdeckt die sein aufschlussreiches Tagebuch und läuft verwirrt unters Auto. Der Weg zu Lolita, dem „kleinen Biest", ist frei. Die muss nun täglich ran, ein-, zwei-, dreimal, das Taschengeld gibt's erst danach. Das Verhältnis des erwachsenen Mannes zu dem Kind wird im Roman schließlich so obsessiv, dass die zunehmend verstörte Lolita irgendwann abhaut.

Der Name Lolita steht bis heute für das frühreife Biest, das die armen Männer verführt - obwohl der Roman von Nabokov durchaus auch das Quälende und Abgründige der Affäre für den "Täter" thematisiert. In Amerika gab es in den 90ern starke Proteste gegen eine verharmlosende und romantisierende Wiederverfilmung ("vor dem Hintergrund der Missbrauchshysterie", wie die unnachahmliche taz damals schrieb). In Deutschland aber schwadronierte Literaturclown Reich-Ranicki darüber, er habe bei der Lektüre des Buches immer nur "an den armen, unglücklichen Menschen gedacht, der Lolita verfallen war".

Apropos Lolita. Auch die Forschung vergangener Jahre ergab, dass missbrauchte Kinder ihren Missbraucher oft stark idealisieren und versuchen, dessen wirkliche Zuneigung und Achtung durch überangepasste Höchstleistungen in der Familie oder Schule zu erringen. Ein zwanghaftes Sexualverhalten ist typisch für missbrauchte Kinder - sie haben eben einfach zu früh lernen müssen, Liebe mit Sex zu erkaufen. (Das heißt, wenn sie zu den Privilegierten gehören, die ohne körperlich-brutale Gewalt genommen werden. Was keineswegs immer so ist. So manches Mal landen die blutenden und zerfetzten Körper der Opfer auf den Tischen der Gynäkologen - oder der Pathologen.) Irgendwann kriecht es dann trotz aller Verdrängung bei den Opfern hoch, das Grauen. "Ich bin voll von schwarzem Schleim. Wenn ich den Mund aufmache, kommt alles raus. Ich sehe mich als schlammiges Abwasser, in dem die Schlangen brüten", sagte ein erwachsenes Inzest-Opfer im Gespräch mit Judith Herman in Narben der Gewalt. Oder: "Ich fühle mich innerlich eiskalt, und meine Oberfläche ist hüllenlos. Ich scheine zu fließen und überzulaufen, als ob mich nichts mehr zusammenhält. Angst packt mich, und ich verliere das Gefühl, gegenwärtig zu sein. Ich bin weg."

Heute wissen wir: Nur das Benennen des Schmerzes macht seine Verarbeitung möglich. Und damit haben die Frauen jetzt angefangen, Frauen wie die Rapperin Alina. Für ihre Generation ist es erstmals möglich, sich nicht länger im Selbsthass zu zerstören, sondern den Hass gegen die Täter zu wenden. So rappte Alina 1997: "Du bist ein Schwein und bleibst es auch / Darum stirbst du heut auf dem Bauch / Du bist ein Arsch so warst du halt / Doch deine Reste sind jetzt kalt / Früher warst du übergroß in deiner Hose war viel los / Und nach der Arbeit wunderbar / Strichst du mir gerne durch das Haar / Ich war zu klein und ich hab es nicht begriffen / Hast deine Schiesser an mir angestriffen / So hast du alles mir zerstört / Und meine Schreie nie gehört / Behalt es für dich denn es ist geheim / Summst du es mir im Schlafe ein / Mutti hat's nicht mitgekriegt / Weil so was sich halt gar nicht schickt / So passiert es immer schlimmer / In meinem kleinen Kinderzimmer / Doch heute aber bist du tot / Zu lang gelabt an meiner Not / Deine Tage sind vorbei / Doch ich - ich werde nie mehr frei."

Alina und ihre Leidensgenossinnen sind jetzt so frei. Aber sie haben weiterhin sehr ernst zu nehmende Gegner. Das sind nicht nur die very Old Boys, sondern auch so manche mittelalten 68er, die seither nicht geschlafen haben. Im Gegenteil, sie haben sich zu "Kinderexperten" profiliert. Seit 1980 warnt - nicht nur, aber doch fast nur - EMMA vor dieser Kinderfreunde-Connection: ein Netz von Wissenschaftlern, die die "Kinderliebe" verharmlosen, ja propagieren.

Dazu gehören Intellektuelle wie der Berliner Pädagoge Prof. Reinhardt Wolff, Gründer des Kinderschutzzentrums und Erfinder des Slogans vom "Missbrauch des Missbrauchs"; der Bremer Soziologe Prof. Rüdiger Lautmann, Initiator der Homo studies und Autor der Phänomenologie sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern; oder auch der Hannoveraner Psychologe Prof. Helmut Kentler, verantwortlich für das Projekt Leihväter. Bei diesem Projekt wurden auf seine Anregung schwer erziehbare Jugendliche von der Justiz in die "Obhut" vorbestrafter Pädosexueller vermittelt.

Mit zu der illustren Runde gehörten zeitweise der inzwischen verstorbene Gründer der österreichischen Gesellschaft für Sexualforschung, Prof. Ernest Bornemann, der in der Neuen Revue schwärmen durfte: "Wer nie erlebt hat, wie ein launisches Püppchen von zehn Jahren einen gestandenen Mann von 40 herumkommandiert, der weiß wenig über Sexualität." Über Sexualität! Oder auch der Wiener "Aktionskünstler" Otto Mühl. Der saß zuletzt wegen Vergewaltigung und Folterung von Mädchen und Frauen jahrelang im Gefängnis. In den 70ern hatte Mühl die Friedrichshof-Kommune bei Wien und die AA-Kommune auf Gomera gegründet, deren Credo der ganz "freie Sex" war, natürlich auch mit Kindern. Beide AA-Kommunen galten als in bei Post-68ern und wurde eine Art Durchlauferhitzer für Pädophile und solche, die es noch werden wollten.

Der Pädagoge und Alt-68er Wolff kann sich zugute halten, dass sein 1990 lanciertes Schlagwort vom "Missbrauch des Missbrauchs" seither Furore in den Medien macht. Wolff plädiert unter anderem für den so genannten "familienorientierten Ansatz", was heißt, dass der Missbraucher in der Familie bleibt, und Täter und Opfer zusammen "therapiert" werden. Wolff will so "die Normen einer desexualisierten Kindheit wieder aufrichten". Aufrichten! Und Professor Lautmann erhielt 350.000 DM öffentliche Gelder für eine "Forschungsarbeit", für die er mit 60 praktizierenden (!) Pädosexuellen sprach, aber mit keinem einzigen Kind. Immerhin empörte sich Focus über die "faktenjonglierende Propagandaschrift", und rügte Sexualforscher Martin Dannecker diese Art von "Verleugnung und Beschönigung der Realität".

All diese netten Kinderfreunde treffen sich immer wieder in der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS), die davon überzeugt ist, dass "pädosexuelle Kontakte (...) partnergleichberechtigt und einvernehmlich gestaltet werden" können. Der Meinung ist auch das langjährige AHS-Kuratoriumsmitglied Kentler, der über sein "Leih-Väter-Projekt" verlauten ließ: "Mir war klar, dass die drei Männer vor allem darum so viel für 'ihre' Jungen taten, weil sie mit ihm ein sexuelles Verhältnis hatten." Aber keine Sorge: "Sie übten keinerlei Zwang auf die Jungen aus, und ich achtete bei meiner Supervision besonders darauf, dass sich die Jungen nicht unter Druck gesetzt fühlten." (EMMA 2/1997) - Gemeinhin heißt so etwas Kuppelei und nicht Supervision.

Assistiert wurde Kinderfreund Rentier von Kinderfreund Wolff, der im Juli 1994 in Psychologie heute schrieb: "Über Pädophilie wird hierzulande viel dummes Zeug geredet. Von Gewalt kann bei der Pädophilie in der Regel überhaupt keine Rede sein."

Überhaupt werde viel zu viel von patriarchaler Gewalt geredet. Wolff: Nicht "alle Väter, die ihre Kinder sexuell missbrauchen, sind mächtige Männer. Sie sind eher Männer, die am Ende sind." Das mag sein, am Ende vielleicht in der Welt - aber nicht in "ihrer" Familie.

Mit im Bunde der Kinderfreunde ist eine Kinderfreundin. Das heißt, eigentlich ist sie eine Männerfreundin. Die gelernte Lehrerin gibt sich gerne als „Freudianerin" aus und ist seit langem die Frau vom Dienst überall da, wo es sexuelle Gewalt zu leugnen und Opfer zu diffamieren gilt. Es ist ja seit 20 Jahren in den Medien üblich, Frauen in die Schlammschlacht gegen Feministinnen zu schicken - kluge Männer sind sich schon lange viel zu schade für so was. In den deutschen Medien gibt es dafür eine Hand voll Frauen, die mit dem Antifeminismus regelrecht Karriere gemacht haben. Keine große Karriere, aber immerhin. Es ist müßig, alle Namen zu nennen, sie sind austauschbar. Aber eine soll doch stellvertretend für alle genannt werden, denn sie gilt zu allem Überfluss neuerdings auch noch als Kronzeugin in Frauenfragen und Expertin in Sexualität: Es ist Katharina Rutschky.

Aufgefallen ist mir Rutschky zum ersten Mal, als EMMA 1988 ein neues Gesetz gegen Pornografie forderte, das Pornografie nicht länger als Verstoß gegen die "guten Sitten", sondern als Verstoß gegen die Menschenwürde definiert. Damals durfte Rutschky über eine ganze Seite in der Frankfurter Rundschau ausholen und schrieb unter anderem Sätze wie diesen: "Das Interesse von Frauen und -auch das muss mal gesagt werden - von Männern an Pornografie ist in unserer Gesellschaft ziemlich gering."

Vier Jahre später veröffentlichte Rutschky dann gleich ein ganzes Buch über den "Missbrauch des Missbrauchs", Titel: Erregte Aufklärung. Darin erregte sich die Autorin nicht etwa über die Täter, sondern über die Opfer und ihre Helferinnen. Das neumodische Geschwätz über den Kindesmissbrauch sei hemmungslos übertrieben und nichts als "dogmatischer Männerhass", eine Art von "Hexenwahn", nur diesmal von Frauen gegen Männer. O-Ton der Expertin: "Was soll daran politisch oder aufklärend sein, wenn mit Aplomb Dinge vorgetragen werden, über die wir uns doch längst einig sind? Inzest, also Beischlaf zwischen Blutsverwandten, ist ein uraltes Verbrechen, also verboten und im Paragraf 173 entsprechend mit Strafe bedroht."

Die schriftgläubige Freud-Anhängerin geht noch heute von einem männlichen "Sexualtrieb" aus. Von Organisationen wie Wildwasser und Zartbitter, die missbrauchten Kindern Zuflucht bieten, behauptete Rutschky dreist, sie wollten sich lediglich bereichern (die Frauen dort arbeiten meist ehrenamtlich).

Und über das neue Gesetz gegen Kinderpornografie hämte die Kinderfreundin: "Hoffentlich wissen dann auch alle, denen die Ausführung der Gesetzesneuerung obliegt, was unter Kinderpornografie zu verstehen ist und was als Nacktfoto vom niedlichen Nachwuchs noch durchgehen kann." - Na, Hauptsache, Rutschkys Kinderfreunde können das noch unterscheiden ...
Im Anhang ihres Buches, das sie übrigens in demselben Verlag veröffentlichte wie Lautmann sein Pädo-Pamphlet (im Hamburger Ingrid Klein Verlag), bedankt Rutschky sich bei Reinhard! Wolff. So schließen sich die Kreise.

1998 veröffentlicht der Vilar-Aufguss im Taschenformat dann ein Buch mit dem Titel Emma und ihre Schwestern (wohl in der richtigen Annahme, dass sich für Katharina und ihre Brüder niemand interessiert). Inzwischen war die Dame laut Klappentext des Verlages zur "Quereinsteigerin in den Feminismus" avanciert. Reichlich quer. Das Pamphlet ist eine pseudogelahrte Abrechnung mit der Frauenbewegung, die in der „Kanonisierung reaktionärer und restaurativer Politik" geendet sei.

Nicht zuletzt an einer solchen Figur sehen wir, wie die Dinge zusammenhängen. Heute können wir das erkennen - wenn wir nur wollen. Aber es gab Zeiten, da waren die Zusammenhänge und Ursachen tief verschüttet. Und diese Zeiten sind noch gar nicht so lange her.

Was eigentlich waren zum Beispiel die wahren Motive der Terroristinnen der 70er Jahre, die das Gewehr auf die Vätergeneration richteten? Was waren die innersten Motive? Einer Ulrike Meinhoff, die sich jahrelang von ihrem Ehemann Klaus Rainer Röhl hatte demütigen lassen (und diese Tradition dann mit Bandenchef Baader fortsetzte)? Einer Inge Viett, die als Mädchen von Pflegeeltern zu Pflegeeltern geschoben wurde? Einer Großbürgerstochter wie Susanne Albrecht, die den eigenen Onkel, den Bankier Ponto, ans Messer lieferte?

Wieweit haben diese Frauen in Wahrheit nicht nur den Vater Staat gemeint, sondern auch die eigenen Väter, Männer, Onkel? Und das nicht etwa aus einer "unerfüllten inzestuösen Vaterliebe" (wie in den 70ern Psychologe Hofstätter räsonierte) - sondern ganz im Gegenteil aus einer zu erfüllten "Vaterliebe"?

Auzug aus "Der große Unterschied" (2000, Kiepenheuer & Witsch)

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Wie es geschehen kann
"In der Vergangenheit liegt die Gegenwart" (EMMA 3/2001)
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