Alice Schwarzer schreibt

Aufregende Tage in Burma

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Als ich im Januar 2012 von meiner letzten Reise nach Burma zurückkehrte, da schallte mir von allen Seiten nur eine Frage entgegen: „Hast du Aung San Suu Kyi getroffen?!“ Nein, habe ich nicht. Aber ich bin ihr ständig begegnet: als jugendliche Schönheit mit Blumen im Haar, in der Garküche in Bahmo, der Hafenstadt am Irrawaddy; neben ihrem Vater, dem Revolutionshelden Aung San, auf Wahlplakaten am Wahlstand ihrer Partei in Mandalay; weise lächelnd im Bilderrahmen in einer Bambushütte im Fischerdorf von Ngapali. Am Abend des 5. Januar tritt sie mir sogar entgegen: im Fernsehgerät. Im BBC erklärt die einst mit einem Engländer verheiratete „Lady“: „Ich vertraue Präsident Thein Sein - aber noch nicht der Regierung.“

Bei den Nachwahlen im April 2012 erhielt die Nationale Liga für Demokratie (NLD), die von Aung San Suu Kyi gegründete Partei, die meisten Stimmen - und es scheint inzwischen nicht mehr ausgeschlossen, dass die so lange Verfemte bei den Wahlen 2015 zur Präsidentin von Myanmar gewählt werden wird. Bei ihren Auslandsreisen wird die Lady schon heute so empfangen.

Dabei hatte die ungebrochen beliebte Tochter des früh ermordeten Staatsgründers über zwanzig Jahre lang eisern den Wirtschaftsboykott des Westens gegen Burma befürwortet. Der mag in den ersten zwei, drei Jahren richtig gewesen sein, als man noch hoffte, nach dem Vorbild Südafrikas das burmesische Militärregime in die Knie zwingen zu können. Danach jedoch waren die Folgen des Boykotts fatal, vor allem für das Volk. Das wurde immer ärmer, während sich die Cliquen um die Generäle bereicherten.

Vor allem aber trieb der Westboykott Burma in die Arme seines mächtigen Nachbarn. Heute hält China das Land in einer wirtschaftlichen Umklammerung. Der große Bruder durchschneidet heute Burma mit einer Gas/Öl-Pipeline, er überzieht es mit Häusern in seinem krude-klotzigen China-Style und mit Plastikwaren, die das traditionsreiche burmesische Handwerk verdrängen. Eine unterschwellig antichinesische Stimmung macht sich inzwischen breit. Doch ihrer Lady scheinen die Burmesen die Befürwortung des Boykotts bis heute nicht übelzunehmen.

Vermutlich verstehen zurzeit nur wenige so viel von Burma wie Thant Myint-U, 46, Enkel des früheren UN-Generalsekretärs U Thant, Berater zahlreicher NGOs und Autor kenntnisreicher Bücher über Burma. An diesem Januarmorgen sitze ich mit Thant („Nennen Sie mich Thant“) im Café des Flughafens von Rangun. Der ist im neuen Glitzerstil mit seinen aktuell nur vier betriebenen Gates auf den jetzt einsetzenden Burma-Boom gefasst. Nur von einem „Café“ kann nicht die Rede sein. Es handelt sich um drei Tische in der Katzenecke der Eingangshalle.

Wir reden über Burmas innerpolitische Probleme. „Die größten sind das fehlende Knowhow und die Abwesenheit von Strukturen“, sagt Thant. Die schimmernden goldenen Pagoden und Buddhas sind allgegenwärtig, und ich habe mich noch nie so sicher gefühlt in einem Land. Ein vergessenes Portemonnaie wird einem hinterhergetragen. Doch es gibt kein Rechtswesen. Es gibt kein Gesundheitswesen. Es gibt kein Bildungswesen. Es existiert kein Durchblick in ökonomischen Fragen, nur Naivität oder Raffgier. Burmas Öffnung, die mit Siebenmeilenstiefeln vorangeht, birgt also auch Gefahren. Große Gefahren. Auch die Sextouristen sind schon ante portas. Burma ist jetzt also bitter angewiesen auf Menschen, die es ernst und gut meinen. Und die sind rar.

Thant ist in New York geboren. Jüngere Burmesen wie er mit Welterfahrung und Liebe zu ihrem Land könnten eine Chance für Burma sein. Was Thant am meisten enerviert, ist das im Westen so verbreitete Schwarzweißdenken über Burma. Das kommt ursprünglich, erklärt er, vor allem von den amerikanischen Menschenrechtsgruppen, die sich für ihre Ideale mehr interessieren als für die Realität. „Was Burma jetzt braucht, sind keine großen Töne, sondern ist eine Politik der kleinen Schritte. Dafür ist Präsident Thein Sein der Richtige. Er ist einer der wenigen Generäle der alten Garde, die nicht korrupt sind. Er will den Fortschritt. Sein größtes Problem sind die ethnischen Konflikte.“

Diese ethnischen Konflikte schwelen seit Ende der Kolonialzeit. Burma ist als Zentralstaat ein künstliches Produkt der Kolonialherren. Das Auseinanderfallen dieses Konglomerats wäre eine Katastrophe für alle, ähnlich wie Jugoslawien. Nicht zufällig beschwor Präsident Thein Sein in der Ausgabe von „The New Light of Myanmar“ vom 4. Januar, dem Tag der nationalen Unabhängigkeit, vor allem die „nationale Einheit“. Sollte die nicht gelingen, scheitert alles.

Der jetzt aufgebrochene Konflikt mit den Rohingas ist eine deutliche Warnung. Die muslimische, staatenlose Minderheit im Norden des Landes mit etwa einer Million Angehörigen wurde schon immer als Menschen zweiter Klasse von den Burmesen behandelt, selbst von den fortschrittlich Gesinnten. Dass die schwelenden Unruhen jetzt offen ausbrachen, hat sowohl mit der Öffnung innerhalb des Landes zu tun, als wohl auch mit einer Agitation von außen. Es könnte sein, dass auch Burma die islamistische Provokation nicht erspart bleibt.

All das muss der Westen mitbedenken, wenn er Burma auf seinem heiklen Weg zur Öffnung nicht schaden und den Gegnern der Demokratie nicht in die Hände spielen will. Als Erste war im Dezember 2011 Hillary Clinton gekommen und hatte zunächst Aung San Suu Kyi und dann Thein Sein die Hand geschüttelt. Auf Clinton folgte der englische, dann der französische Außenminister. Beide wollen ihre Deutungshoheit in der Region nicht verlieren; die Briten als Ex-Kolonialherren, die Franzosen als Herren von nebenan, von „L’Indochine“. Gerade lockerten die Vereinigten Staaten die Sanktionen. Und in der EU lief der wirtschaftliche Boykott im April 2012 aus. Und nicht zufällig war Burma das erste Reiseziel des im November 2012 wiedergewählten Obama. Für den amerikanischen Präsidenten ist das Land zwischen China und Indien von entscheidender geopolitischer Bedeutung bei der Asien-Politik.

Nun ist es gefallen, das Schlüsselwort: geopolitisch. Und das ist wohl auch für den Westen von viel größerer Bedeutung als der zu erobernde Markt von Burma und die zu exportierenden Rohstoffe. Burma teilt eine 2000-Kilometer-Grenze mit der kommenden Weltmacht China. Und die Ex-Diktatur der pseudosozialistischen Generäle ist - wie Syrien - eines der letzten Länder, die eigentlich zum Royaume des alten Ostblocks gehören, und die der Westen nur zu gern auf seine Seite ziehen möchte. Nicht zuletzt wegen ihrer Nähe zu konkurrierenden Großmächten.

95 Prozent der Menschen in Burma ahnen von alledem noch nichts. Sie sind als Bauern auf dem Land oder erste sichtbare Obdachlose in den Städten kaum informiert. Das Volk, in dem die meisten Frauen und Kinder ihre Gesichter noch alltäglich mit dem weißen Tanaka bemalen und die Männer Wickelröcke tragen, dieses Volk sieht jetzt im Fernsehen nicht mehr die unbeholfenen burmesischen Nachrichten mit einem Volkeshände schüttelnden Präsidenten und sanft lächelnden Moderatorinnen. Es sieht verführerische Bilder: Frauen und Männer in amerikanischen oder koreanischen Soaps, die ganz anders aussehen und handeln als sie. Das war der Vorteil der Isolation: Burma, dieses Land mit seinen offenen und liebenswürdigen Menschen, seiner grandiosen Natur und seiner allgegenwärtigen buddhistischen Kultur, hat bis heute seine Eigenheit bewahren können. Wie lange noch?

Freitagabend, Happy Hour. Wir sitzen in der Bar vom Strand, einst das mondänste Hotel Asiens im Zentrum der in den zwanziger und dreißiger Jahren aufregendsten und intellektuellsten Stadt des Kontinents: Rangun. Dann gingen für Jahrzehnte die Lichter aus. An diesem Freitagabend in der Bar vom Strand schimmern viele Lichter. Es ist eine Bar, wie es sie nur in Metropolen gibt, mit einem coolen Barmann, den ich seit zwölf Jahren kenne. Wir saßen in den vergangenen Jahren schon oft allein hier. Doch heute ist der Laden rappelvoll. 

Das Strand liegt an der Strand Road, der Hafenmeile, die aussieht wie nach einem Bombenangriff und vor nicht allzu langer Zeit noch zur Strandpromenade ausgebaut werden sollte. Nun soll es eine vielspurige Schnellstraße für den Hafen werden. Damit der Abtransport der burmesischen Rohstoffe - Teakholz, Gold, Rubine, Kupfer und Seltene Erden - von den internationalen Konzernen noch schneller durchgezogen werden kann. Ganz wie einst bei den Engländern. Zwischen zwei Manhattan frage ich den Barmann, was er denn so erwartet in den nächsten Monaten und Jahren. Er lächelt mich diplomatisch an, wie alle Barmänner der Welt, und sagt: „Wir werden sehen. Wir hoffen ...“ - und lächelt. Noch sind die Burmesen es nicht gewohnt, offen zu sprechen.

Alice Schwarzer - Der im Januar 2013 aktualisierte Text wurde am 16.2.2012  in der FAZ veröffentlicht. Fotos: Bettina Flitner

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