Gewalt im Verhältnis der Geschlechter

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Ich habe einen Traum. Ich bin eine Frau. Es ist eine laue Sommernacht. Ich schlendere durch die Straßen. Bleibe stehen. Schaue in eine Auslage. Beachte kaum, dass sich jemand neben mich stellt. Gehe weiter. Biege in einen Park ein. Setze mich auf eine Bank. Schaue in die Sterne. Erschrecke nicht, als sich jemand mit raschen Schritten nähert. Als der Mensch sich neben mich setzt, wende ich mich ihm zu. Auf seine Begrüßung antworte ich gelassen. Zu Misstrauen habe ich keinen Grund. Der Mann neben mir ist nicht mein Feind. Vielleicht wird er sogar ein Freund. Ich bin eine Frau. Ich kann überall hingehen. Ohne Angst. Die Welt steht mir offen.

Ich habe einen Traum. Ich bin ein kleines Mädchen. Nachts stört niemand meinen Schlaf. Keiner schiebt sich in mein Bett. Ich nässe nicht in meine Laken und kaue nicht meine Nägel. Wenn ich etwas sage, hören mir die anderen zu. Wenn meine Mutter die Hand hebt, zucke ich nicht zusammen. Wenn mich mein Vater auf seinen Schoß zieht, stockt nicht mein Herz. Wenn mir Gefahr droht, eilen die anderen mir zur Hilfe. Wenn ich teile oder tröste, werde ich dafür gelobt. Wenn ich stolz bin, werde ich darin bestärkt. Wenn ich verwegen bin, werde ich zu mehr ermutigt. Ich bin ein kleines Mädchen. Ich freue mich auf morgen.

Ich habe einen Traum. Ich bin eine junge Frau. Gestern war meine letzte Prüfung. Mein Leben liegt vor mir. Ich bin stolz auf mich und gespannt, was kommen wird. Ich werde einen Beruf ergreifen. Einen, für den ich geeignet bin, und der Sinn und Spaß macht. Ich habe Freundinnen, denen ich vertraue, und Freunde, die mich ermutigen. Vielleicht verliebe ich mich eines Tages. Dabei wird nicht das Geschlecht ausschlaggebend sein, sondern Ausstrahlung und Persönlichkeit. Es wird mein Leben nicht verändern, aber bereichern. Vielleicht bekomme ich ein Kind. Sollten wir zu zweit sein, werden wir beide Eltern sein und alles teilen. Das ist machbar, denn wir leben in einer Gesellschaft, die uns darin unterstützt. Vielleicht aber werde ich auch kein Kind haben. Für mein Selbstverständnis und mein Lebensglück spielt das eine so geringe oder eine so große wie für einen Mann. Ich bin eine Frau. Doch das ist eigentlich egal.

Ich habe
einen Traum...

Ich habe einen Traum. Ich bin eine Künstlerin. Hinter mir liegt eine stolze Tradition weiblicher Künstler. Aber das spielt keine Rolle mehr. Mein Werk wird an seiner Eigenheit und Qualität gemessen, nicht an meinem Geschlecht. Niemand erwartet von mir, dass ich vor allem attraktiv bin. Ich habe auch nicht Jahrzehnte auf meine Entdeckung warten müssen. Ich arbeite. Ich arbeite hart. Ich bin nicht unsicher, weil ich eine Frau bin. Aber manchmal zweifle ich oder verzweifle. Ganz wie mancher Kollege. Ich bin eine Frau. Und Kreativität hat kein Geschlecht.

Ich habe einen Traum. Ich lebe in einem fremden Land. Ich muss nicht hungern. Ich muss mich nicht prostituieren. Ich bin nicht wie Vieh verkauft, nicht wie eine Sklavin verstoßen, nicht wie ein Hund lebendig verscharrt worden. Ich bin auch nicht der Besitz eines Mannes, der mich im Namen Allahs bis zur Unsichtbarkeit unter den Schleier zwingt. Mir sind nicht die Genitalien mit einem Rasiermesser verstümmelt, mir ist nicht die Vagina zugenäht worden. Ich spüre nicht Schmerz, sondern Lust. Ich habe mich auch nicht mit Versprechungen oder Drohungen in ein reiches Land verschleppen lassen, Endstation Bordell. Ich bin eine Frau. Und im vollen Besitz meiner Menschenrechte.

Ich habe einen Traum. Ich bin ein Mann. Nachts schlendere ich durch den Park und setze mich neben einen fremden Menschen. Es ist eine Frau. Ich beginne, über mich zu reden. Meine Mutter ist eine unabhängige, stolze Frau und mein Vater ein sensibler, fürsorglicher Mann. Geld und Macht sind für mich keine Ziele an sich, sondern Mittel zum Zweck. Ich hasse es, jemanden zu demütigen - oder gedemütigt zu werden. Ich verachte Gewalt. Nicht Ungleichheit, sondern Gleichheit zieht mich an. Frauen sind mir so vertraut - oder so fremd - wie Männer. Ich mache da keinen Unterschied. Dass ich biologisch männlich bin, ist eigentlich nebensächlich. Denn ich lebe in einer Zeit, in der Menschen nicht nach Männern und Frauen unterschieden werden, so wenig wie nach Weißen und Schwarzen oder Dünnen und Dicken. Ich bin ein Mensch. Ein Mensch mit Gefühl und Verstand, mit Stärken und Schwächen, mit Ängsten und Hoffnungen.

Gewalt ist der dunkle Kern
der Macht

Diesen Traum habe ich vor zehn Jahren geschrieben. Ist er also überholt? Leider nicht. Ich fürchte, er ist sogar aktueller denn je. Nicht unbedingt, weil die Gewalt gegen Frauen und Kindern steigt – das lässt sich schwer beurteilen bei den weiterhin existierenden hohen Dunkelziffern. Nein, eher, weil die Gewalt zwischen den Geschlechtern, die so lange ein Tabu war, endlich sichtbar wird.

Es hatte den Opfern die Sprache verschlagen. Doch wer sind die Opfer? Das ist heute jede zweite Frau und jedes dritte bis vierte Mädchen (plus jeder zehnte Junge). Doch die potenziellen Opfer, das sind wir alle, wir Frauen und Kinder. Und genau das ist etwas, was der Mensch sich nicht gerne eingesteht: Zur Klasse oder, wie in diesem Fall, zur Kaste der Opfer zu gehören.

Wir sind eine Gesellschaft der Sieger. Und der Siegerinnen, der Spitzen- und Karrierefrauen. Wer mag da noch von Gedemütigten und Vergewaltigten reden? Jüngst sagte ein bekannter Traumatologe zu mir: Opfer stinken. Und in der Tat: Angst, das ist längst wissenschaftlich bewiesen, Angst kann man riechen. Und Menschen, die sich um Opfer kümmern, die stinken sozusagen gleich mit. Die Genderstudentinnen und –studenten unter Ihnen werden den herabwürdigend gemeinten Begriff „Opferfeministinnen“ kennen. Darunter werden Feministinnen verstanden, die Opfer nicht ignorieren, sondern thematisieren. Und die wissen, dass Täter kein individuelles Missgeschick sind, sondern ein strukturelles Problem.

Meine Kernthese lautet: Machtverhältnisse – egal ob zwischen Völkern, Ethnien oder Geschlechtern – sind nur aufrecht zu erhalten durch angedrohte oder ausgeübte Gewalt.

Zwischen den Geschlechtern handelt es sich in der Regel um sexualisierte Gewalt, vom frühen Missbrauch über die Vergewaltigung bis hin zum Frauenmord. Diese Sexualgewalt ist der dunkle Kern des Machtverhältnisses zwischen Männern und Frauen. Ohne ein Ende der Sexualgewalt keine wirkliche Gleichberechtigung: keinen gleichen Lohn und keine gemeinsame Elternschaft. Die Hälfte der Welt kann nur von Nicht-Opfern erobert werden – und die Hälfte des Hauses wird nur von Nicht-Tätern mitgetragen.

Auf den Fortschritt folgt der Backlash

Auf dem noch recht weiten Weg dahin haben wir Frauen in den letzten 40 Jahren jedoch überwältigend viel erreicht! Die feministische Kulturrevolution war in der westlichen Hemisphäre die bedeutendste Revolution nach 1945 und hat auch durchaus die ex-sozialistischen Staaten sowie die Dritte Welt ergriffen. Forderungen und Hoffnungen, die für Sie – für fast alle jungen Frauen und meisten jungen Männer hier im Saal – heute selbstverständlich sind, galten für meine Generation in Ihrem Alter noch als völlig überspannt, ja verrückt.

Dass Frauen im Prinzip alles können, was auch Männer können – und umgekehrt – das war keineswegs selbstverständlich. So konnte zum Beispiel bis zum Jahr 1976 ein deutscher Ehemann noch die Stelle seiner Frau kündigen, ohne diese auch nur zu fragen, Argument: Meine Frau macht ihren Haushalt nicht ordentlich. – Wie schön, dass uns so was inzwischen sehr, sehr gestrig vorkommt! Sind wir also auf dem richtigen Weg? Ja und Nein zugleich. Denn wo Fortschritt ist, droht immer auch Rückschritt. Die Profiteure der bestehenden Verhältnisse sind nur selten bereit, ihre Privilegien freiwillig und kampflos aufzugeben.

Wir reden vom Backlash. Der rollt eigentlich schon seit Mitte der 1970er Jahre. Er begann mit der Proklamation einer so genannten „neuen“ Weiblichkeit und Mütterlichkeit, setzte sich fort im kräftig geschürten Schwesternstreit und mündete in der Beliebigkeit des Feminismus: Anything goes. Denn das besondere bei der Frauenemanzipation ist, dass die Gefahr nicht nur von außen kommt. Auch die Frauen selbst haben ihre Minderwertigkeit – euphemistisch genannt: ihr Anderssein – über die Jahrtausende verinnerlicht. Und Solidarität ist ihnen traditionell fremd: Die andere Frau waren für sie immer nur eine Bedrohung in bezug auf die einst so überlebenswichtige Gunst eines Mannes, von der sie abhängig waren.

Dabei wäre Solidarität bitter nötig, denn der Fortschritt der Emanzipation ist keineswegs gesichert, sondern wird heute von drei Gefahren im Weltmaßstab bedroht.

Die Gefahr Nr. 1 ist der religiöse Fundamentalismus, angeführt vom islamischen, doch der christliche folgt auf dem Fuße (Darüber werden wir bei meiner zweiten Vorlesung im Januar reden.).

Die Gefahr Nr. 2 ist die Hypersexualisierung, bzw. Pornografisierung unserer Kultur, die nicht zuletzt dank der Neuen Medien grenzenlos und allgegenwärtig geworden ist. Mit „Pornografie“ meine ich nicht Erotik, sondern die Verknüpfung von sexueller Lust mit Lust auf Erniedrigung und Gewalt. Schon heute haben wir es mit zwei Männergenerationen zu tun, die quasi zwangspornografisiert sind.

Die Gefahr Nr. 3 ist die direkte sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder. Die Pornografie ist ihre Ideologie. Und die Verharmlosung und Legalisierung der Prostitution ein Teil dieser sexuellen Gewalt. Um die Rolle der Gewalt soll es heute gehen.

Der Fall Kachelmann
& die Falsch-
anschuldigungen

Gerade in diesen Tagen erleben wir zu dem Thema einen der spektakulärsten Schauprozesse der Nachkriegszeit: den Fall Kachelmann. Der erregt nicht nur Aufsehen, weil einer der Protagonisten ein fernsehbekannter, scheinbar netter Mann ist, sondern auch und vor allem, weil mit diesem Fall der harte Kern der Sexualgewalt ans Licht gezerrt wird: die sexuelle Gewalt innerhalb von Beziehungen.

Die Frau beschuldigt den langjährigen Geliebten, sie vergewaltigt und ihr mit dem Tode gedroht zu haben, als sie ihn wegen seiner zahlreichen weiteren Geliebten verlassen wollte. Der Mann sagt: Ich bin unschuldig. Die Medien scheinen überwiegend parteilich für den Angeklagten zu sein, die Stimmung bei den Menschen scheint gemischter. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt in diesem speziellen Fall ist die öffentliche Meinung eine Frage der Identifikation: mit dem mutmaßlichen Täter oder dem mutmaßlichen Opfer. Oder mit der Verdrängung.

Tatsache ist, dass heute in Deutschland jeder zweite Vergewaltiger der eigene Freund oder Ehemann, bzw. Ex-Ehemann ist. Und dass nur jede 100. Anzeige wegen Vergewaltigung auch zu einer Verurteilung des Täters führt. Gleichzeitig sind nur etwa drei von hundert Anschuldigungen wegen sexueller Gewalt, vom Missbrauch bis zur Vergewaltigung, Falschanschuldigungen. Was viele Gründe hat. Angefangen bei dem, dass der Täter oft gleichzeitig der geliebte Vater oder Mann ist – bis hin zu dem Drama, dass weibliche Opfer vor Gericht und in der Öffentlichkeit nicht selten ein zweites Mal zum Opfer werden, ja als die eigentlichen Täterinnen dastehen. Siehe auch der Fall Kachelmann.

Die Funktion der Sexualpolitik

Es ist nur knapp 40 Jahre her, dass wir Frauen - wieder einmal - begonnen haben, über das Unsagbare zu reden. Zunächst gab es kaum Worte dafür. Auch war die Scham zu groß. Doch kaum waren die Schleusen geöffnet, da schlug aus den Untiefen des Bewusstseins die dunkle Welle hoch: Sexualgewalt. Eine Gewalt, die allgegenwärtig ist und unlösbar verknüpft mit Sexualität und Liebe. Sie wird meist nicht von Fremden, sondern von Vertrauten verübt. Sie kommt nicht von den Anderen, sondern von den Eigenen. Sie trifft uns da, wo wir uns sicher und zu Hause glauben.

Das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern basiert auf dieser Sexualgewalt: von der Definition des Begehrens über das Abtreibungsverbot und die Prostitution bis hin zur Vergewaltigung und zum Frauenmord. Für diese Art von „Politik" haben Feministinnen den Begriff „Sexual­politik" geprägt - eine lange verschwiegene, lange ungreifbare Politik. Erst jetzt, nach dem Aufbruch der Frauen in die ökonomische Eigen­ständigkeit und auf ihrem Weg zur Teilhabe an der Welt können sie diese härteste Bastion der Männerwelt attackieren.

Vierzig Jahre nach dem Bruch des Schweigens der Opfer kann es nicht länger geleugnet werden: Es gibt die Sexualgewalt von Männern gegen Frauen und Kinder, und sie hat epidemische Ausmaße. Doch erst jetzt, in diesen letzten Jahren, bequemt sich die Gesellschaft, Sexualgewalt nicht länger als Vaterrecht oder Kavaliersdelikt abzutun, sondern als Verbrechen gegen Körper und Seele ernst zu nehmen.

Die Verhinderer der Wahrheit über die Sexualgewalt haben zunächst versucht, das Ganze lächerlich zu machen (Auch Ehefrauen schlagen ihre Männer), die Schuld auf die Opfer zu schieben (Das Mädchen hat den Vater verführt) - oder um die Zahlen zu streiten. Wurde jedes dritte oder nur jedes fünfte Mädchen missbraucht? Prügelt jeder dritte oder nur jeder vierte Ehemann? Ist jede dritte oder nur jede vierte Frau vergewaltigt worden? Beim Streit um die Zahlen wird Feministinnen gerne unterstellt, sie würden „übertreiben". Nur - warum sollten sie? Die inzwischen vielfach belegte Realität ist bedrückend genug. Der Schock darüber ist vor allem deshalb so groß, weil diese Realität bis vor kurzem als eine Frage der Sitten und nicht als Skandal galt.

Und wer sind die Täter? Es sind meist die eigenen Väter, Ehemänner, Brüder, Freunde. Sie schlagen, missbrauchen, vergewaltigen, ja töten. Ihre Waffe ist ihr eigener Körper - ihr Schlachtfeld sind die Kör­per der Frauen und Kinder. „Dass ein Fremder eine Frau zum sexuel­len Verkehr zwingt, ist geradezu die Ausnahme", resümiert der US-Sex-Report Sexwende. Beim Missbrauch müssen wir davon ausgehen, dass gar in drei von vier Fällen der eigene Vater/Onkel der Täter ist. Mädchen sind stärker in Gefahr in der Familie; Jungen – das zeigten die jüngsten Skandale um Internate und Vereine – sind besonders gefährdet in Institutionen.

Und auch erwachsene Frauen werden vor allem von ihren eigenen Männern geschlagen und misshandelt. Selbst bei Mord werden Frauen in drei von vier Fällen von ihrem eigenen Mann/Freund getötet. Pathologen pflegen so genannte „Beziehungsmorde" daran zu erkennen, dass die Leichen oft ganz besonders verstümmelt sind. Das kommt von der Distanzlosigkeit. Und vom Hass.

Die Täter sind zu quasi hundert Prozent männlich, und ihre Opfer zu quasi hundert Prozent weiblich. Was keine biologische Frage ist. Denn da, wo keine Frauen sind, in Männergefängnissen zum Beispiel, werden die „unmännlichsten" Männer zu Frauen degradiert. Dann sind sie es, die bei den hinter Gittern üblichen Vergewaltigungen anal oder oral penetriert werden.

Es hat mir
die Sprache
verschlagen

Die internationale Traumaforschung, die ausgelöst wurde von den Veteranen aus den Weltkriegen und Vietnam, sowie den Überlebenden der Konzentrationslager, wird seit den 1980er Jahren auch angewandt auf Frauen und Kinder. Seit 1980 ist wissenschaftlich definiert, was ein solches Trauma ausmacht. Ein Trauma entsteht angesichts einer überwältigenden Übermacht, die Hilflosigkeit, Angst und totale Kapitulation auslöst. Der gesamte komplexe menschliche Schutzmechanismus bricht zusammen. Der Mensch verliert sein Urvertrauen in sich und die Welt. Das Trauma ist der Schmerz der Ohnmächtigen.

Posttraumatische Störungen können lebenslang anhalten. Lange nachdem die Gefahr vorüber ist, erleben Traumatisierte das nicht verarbeitete Ereignis immer wieder neu und immer wieder so, als ob es gerade geschähe. Ein traumatisierter Mensch erstarrt wie ein Hase im Scheinwerferlicht. Das Opfer wird passiv, gleichgültig, depressiv, lebensmüde. 42 Prozent aller misshandelten Frauen haben laut der amerikanischen Psychiaterin Judith Lewis Herman einen Selbstmordversuch gemacht, 60-70 Prozent aller Psychiatrie-Insassinnen sind Missbrauchsopfer.

Der im Moment der Tat einsetzende Schutzmechanismus verursacht eine Persönlichkeitsspaltung: Die Seele des Opfers verlässt den gequälten Körper. Es passiert mit einer anderen. Eine vergewaltigte Frau beschrieb das so: „Ich stand drüben, neben dem Bett, und schaute dem Geschehen zu. Ich löste mich von der Ohnmacht. Ich stand neben mir, und auf dem Bett lag nur die Hülle. Wenn ich mir den Raum heute vorstelle, sehe ich ihn nicht vom Bett aus. Ich sehe ihn von der Bettkante aus. Von dort beobachtete ich das Geschehen."

Kriegsveteranen haben ganz ähnliche Worte für „dieses betäubte Starren, die weit aufgerissenen leeren Augen eines Mannes, dem alles egal ist", gefunden. Auch KZ-Insassen, die den äußersten Zustand der Entfremdung erreicht hatten, waren wie wandelnde Leichen und wurden von den anderen „Muselmanen" genannt.

Das Grundlagenbuch zu der Problematik erschien 1994 auf Deutsch: Die Narben der Gewalt von der Harvard-Professorin Judith Lewis Herman. Die klinisch arbei­tende Psychiaterin deckt darin unter anderem die Parallelen zwischen „weiblicher" Hysterie und „männlicher" Kriegsneurose auf und kommt zu dem Schluss, dass beides ähnliche Reaktionen auf ähnliche Erfahrungen sind. Herman: „Zwischen den Geschlechtern herrscht Krieg. Vergewaltigungsopfer, misshandelte Frauen und sexuell missbrauchte Kinder sind die Opfer dieses Krieges. Die Hysterie ist die Kriegsneurose des Geschlechterkampfes."

Denken wir das zu Ende, beginnen wir zu ahnen, warum so viele Frauen ein so schwaches Selbstwertgefühl haben und in einer so unberechenbaren Verfassung sind. Die Heilung ihrer äußeren und inneren Verletzungen und die Verdrängung von Erniedrigung und Schmerz absorbieren weite Teile ihrer Kräfte. Ihr Verhältnis zur Welt und zu sich selbst ist zutiefst gestört. Denn sie haben die furchtbars­te aller Erfahrungen machen müssen: Sie wurden von Menschen zerstört, denen sie vertrauten. Diese Opfer haben auch noch den letzten Rest von Urvertrauen verloren. Alles kann passieren. Jederzeit. Und mit jedem.

Frauen sind das gefolterte Geschlecht.

Das Opfersein
kriecht unter
die Haut

1971 wurde in New York das erste Zentrum für vergewaltigte Frauen eröffnet. 1977 in Berlin das erste Haus für geschlagene Frauen, heute gibt es im ganzen Land 358, in die allein im Jahr 2009 rund 40.000 Frauen mit ihren Kindern flüchteten. Hinzu kommen 120 Notrufe.

Gleichzeitig aber gibt es immer noch Versuche, die sexualisierte Gewalt zu verharmlosen, wenn nicht gar zu leugnen. Ein Teil der Medien spielt dabei eine fatale Rolle. Und ein Teil der Linken war bisher führend bei der Leugnung, ja Propagierung von Sexualgewalt und der Diffamation der Opfer. Diese Leute scheinen es noch immer nicht verwunden zu haben, dass die im Zuge der „Sexuellen Revolution" so billig gewordene Ware Frau sich wieder auf ihr Menschsein besinnt.

In Deutschland zum Beispiel machte ab den 1990er Jahren das böse Schlagwort vom „Missbrauch des Missbrauchs" die Runde - als sei es ein Spaß, sich als Opfer zu präsentieren. Tatsächlich beweisen die Gerichtsstatistiken, dass in keinem Bereich die falschen Anschuldigungen so niedrig sind wie bei den Sexualverbrechen.

Opfer sind Stigmatisierte. Das Opfersein kriecht unter die Haut. Und die Verachtung des Täters perver­tiert nicht selten zur Selbstverachtung des Opfers. Das macht es so schwer für die Opfer, darüber zu reden. Und es macht es auch schwer für die anderen, sich mit den Opfern zu solidarisieren. Denn wer sich für Verachtete einsetzt, wird selber verachtet. Es ist so einfach, wegzusehen... Und es ist so leicht, den oft mächtigen Tätern zuzustimmen, sich mit ihnen zu identifizieren.

Die Funktion
der Verge-
waltigung

Bahnbrechend für das Problembewusstsein bei Vergewaltigung war das 1977 erschienene Buch von Susan Brownmiller Gegen unseren Willen. Brownmiller wies nach: Vergewaltigung ist seit Jahrtausenden nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der typische Vergewaltiger ist kein Perverser, sondern der ganz normale Mann von nebenan. Vergewaltigung ist keine individuelle, sondern eine kollektive Strategie.

In allen Kriegen, auch in den beiden Weltkriegen, wurden systematische Vergewaltigungen zur Demoralisierung des feindlichen Mannes (seinen Besitz schänden) und Zerstörung der Kultur eingesetzt. Und der zu Beginn der 1990er Jahre relativ rasch öffentlich gewordene Protest gegen die systematischen Vergewaltigungen im Bürgerkrieg in Bosnien und im späteren UNO-Krieg im Kosovo wären ohne die wegweisende Analyse von Brownmiller so nicht denkbar gewesen.

Inzwischen haben engagierte Frauen es erreicht, dass Vergewaltigung international als „Kriegsverbrechen" eingestuft und entsprechend geahndet wird. Zumindest auf dem Papier.

Dem Buch von Brownmiller ist es auch zu verdanken, dass über 30 Jahre danach die Vergewaltigungen deutscher Frauen bei Kriegsende 1945 erstmals zaghaft zur Sprache kamen. Wir wissen heute, dass oberste Befehlshaber der Sowjetarmee regelrechte Aufrufe zur Vergewaltigung deutscher Frauen erließen. Und die Enthüllungen über die Massenvergewaltigungen nach dem Kriegsende 1945 im sowjetisch besetzten Berlin fanden erst 2008 dank der Erinnerungen von „Anonyma“ in Deutschland eine breitere Beachtung. Doch die künstlerisch wie schauspielerisch ausgezeichnete Verfilmung dieses nach dem Krieg erstmals erschienenen Tagebuches wurde vom linken und liberalen Feuilleton verrissen. Was bedeutet dieser nie wirklich ausgesprochene Schrecken für die Generation unserer Mütter und Großmütter - und was bedeutet dieses traumatische Erbe für uns Töchter und Enkelinnen?

Als wir Feministinnen Anfang der 1970er Jahre in den so genannten Bewusstwerdungs-Gruppen begannen, das Unsagbare zu sagen, glaubten wir, wir seien die Ersten, die sich endlich wehren. Mühsamst musste die verschüttete Geschichte der Frauen freigelegt werden. Schicht um Schicht, bis entdeckt wurde: Schon die historischen Frauenrechtlerinnen haben ab Mitte des 19. Jahrhunderts gegen Vergewaltigung und doppelte Moral bei Prostitution gekämpft, ja sogar gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Dabei ist es keineswegs ein Zufall, dass von der Ersten Frauenbewegung zwar die Forderung nach dem Wahlrecht und Bildung Niederschlag fand in der Geschichtsschreibung - wenn auch sehr unzureichend -, der Kampf gegen die Sexualgewalt jedoch vollständig in Vergessen­heit versank. Schlimmer noch: Dem wenigen, was erhalten blieb, wurde der Ruch der „Prüderie" verpasst.

Das unterscheidet sich übrigens nicht einen Deut von den heutigen Verhältnissen. Auch heute werden Feministinnen, die gegen Pornografie oder die Verharmlosung von Prostitution angehen, wieder als „prüde Zicken" diffamiert. Doch würde die Geschichtsschreibung die Frauengeschichte nicht in einem so umfassenden Ausmaß manipulieren oder gar negieren, hätten die heutigen Feministinnen viel Energie sparen können, indem sie von ihren Vorfahrinnen lernen: So forderten schon vor über hundert Jahren Frauenrechtlerinnen Ärztinnen, Polizistinnen und Richterinnen für Sexualopfer sowie einen effektiveren Opferschutz oder behütetKinderspielplätze. Die Neue Frauenbewegung aber hat Jahrzehnte gebraucht, bis sie sich wieder zu solchen Forderungen durchringen konnte.

Es ist sehr
viel passiert!

Im Jahr 2000 veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Ergebnisse aus einer Untersuchungsreihe in den Jahren 1967 bis 1983 an der Uniklinik in Berlin-Charlottenburg bei über 3.000 Frauen und Mädchen. Diese weltweit umfangreichste Untersuchung ergab: Rund jedes zweite Sexualopfer in Berlin war unter 16, jedes fünfte sogar jünger als 11 Jahre, das jüngste sechs Monate. Zwei von drei Tätern waren mit den Opfern verwandt oder bekannt. Über 90 Prozent der Täter waren ganz „normale" Männer, nur jeder zehnte psychisch auffällig. „Der typische Vergewaltiger ist der ,Mann von nebenan'", kommentiert der Arzt und Jurist Reinhard Wille die Studie.

Die Gesetze gegen Sexualgewalt sind unter dem Druck engagierter Frauen in den letzten Jahren verbessert worden. Die Definition von Vergewaltigung umfasst nicht länger nur den Koitus, sondern alle Arten von Penetrationen, orale sowie anale Vergewaltigung. Eine Frau muss sich nicht länger „aktiv" wehren, sondern kann sich - eingeschüchtert durch die übliche Todesdrohung des Vergewaltigers - auch passiv in die Situation ergeben und dennoch ein juristisch glaubwürdiges Opfer sein, zumindest theoretisch. Die Vergewaltigung in der Ehe ist seit 1996 strafbar, erkämpft von Politikerinnen aller Parteien, die sich zusammengetan haben. Prügelnde Männer müssen seit 2002 die gemeinsame Wohnung verlassen, statt der geprügelten Frauen und Kinder. In Deutschland wie ganz Westeuropa legten die in Regierungspositionen gelangten Politikerinnen umfangreiche „Aktionspläne gegen Gewalt" vor.

Was ist
ein Trauma?

Gleichzeitig aber wird der Abgrund, in den wir endlich den Blick wagen, immer tiefer und schwindelerregender. ExpertInnen gehen davon aus, dass das Gewalttrauma nicht nur seelische, sondern auch körperliche Folgen hat. Terror und Todesangst lösen eine Überflutung des Gehirns durch ein Stresshormon aus, das Gehirnzellen zerstört. Psychiater haben inzwischen einen Namen für das Phänomen: posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD).

Wird das Trauma nicht innerhalb von neun Monaten bearbeitet, wird seine Heilung also nicht in Angriff genommen, kann sich die Software Seele in die Hardware Körper einschreiben. Medizinerinnen fanden bei Traumatisierten „eine Reihe physiologischer und biochemischer Auffälligkeiten" wie erhöhten Blutdruck, Pulsrasen oder verhärtete Haut und Muskeln. Allen gemeinsam sind die immer „wiederkehrenden Bilder vom Tatgeschehen, Alpträume, Vermeidungsverhalten und Gefühlsabstumpfung". Je länger und je häufiger das Opfer Gewalt erlitten hat, umso tiefer ist die Verstörung und umso größer die Gefahr einer „neurophysiologischen Verfestigung". Die so erkrankten Frauen sterben im Schnitt neun Jahre früher als andere.

Diese Prägungen müssen nicht irreversibel sein, sie können bis zu einem gewissen Grad geheilt werden. Vollständige Heilung aber kann es nie geben, das sagt auch Judith Herman. Der amerikanischen Forscherin scheint die aktuelle Trauma-Diagnose für länger andauernde Foltererfahrungen von Frauen allerdings zu kurz gegriffen. Herman: „Die derzeitigen diagnostischen Kriterien für diese Störung zielen hauptsächlich auf Opfer von eng umschriebenen traumatischen Ereignissen wie Krieg, Katastrophen und Vergewaltigung. Die Opfer eines lang andauernden, wiederholten Traumas zeigen häufig eine sehr viel komplexere Somatik", nämlich „lang anhaltende Ängste, Phobien, Panikgefühle und Depressionen".

Lang anhaltende Folterungen sind bei Frauen keine Ausnahme. Herman, Tochter einer deutsch-jüdischen Emigrantin, schreibt: „Dass es politische Gefangenschaft gibt, ist allgemein anerkannt, häusliche Gefangenschaft hingegen bleibt oft unbemerkt." Die Opfer häuslicher Gefangenschaft werden durch eine Mischung von Verführung, Einschüchterung und Gewalt gefesselt. Der Täter wird in der geschlossenen Welt des Opfers zum wichtigsten Menschen, zum Halbgott. „Autoritär, verschlossen, manchmal größenwahnsinnig und sogar paranoid, hat der Täter trotz allem ein äußerst feines Gespür für reale Machtverhältnisse und gesellschaftliche Normen", schreibt Herman.

Waren Fritzl und Priklopil normale Männer?

Wir haben das gerade wieder im Fall Fritzl gesehen, der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Verließ unter der Erde gefangen hielt und mit ihr sieben Kinder zeugte. Oder im Fall Natascha Kampusch, deren Entführer sie acht Jahre lang gefangen hielt und sie behandelte, schreibt Kampusch in ihren so radikalen und klugen Erinnerungen, „wie seine Hausfrau“. Diese Männer sind nach außen unauffällig, ja oft sogar besonders liebenswürdig - was die Verunsicherung ihrer Opfer erhöht und ihren Realitätssinn schwächt. Ihre Methode ist die Willkür und Unberechenbarkeit sowie eine despotische Kontrolle des Opfers. Denn diese Gefängniswächter wollen keine Gefangenen, die sie hassen, sondern solche, die sie lieben.

George Orwell, der selbst über seinen erlittenen sexuellen Missbrauch berichtet hat, beschreibt in seinem Roman 1984 die Gesinnung dieser Despoten mit folgenden Worten: „Wir geben uns nicht mit unfruchtbarem Gehorsam, ja nicht einmal mit der hündischsten Unterwerfung zufrieden. Wenn sie sich uns schließlich ergeben, dann muss es freiwillig geschehen. Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir bekehren ihn, wir ergründen sein Innerstes, wir formen ihn um. Wir brennen ihm alles Böse und jede Illusion aus: Wir bringen ihn auf unsere Seite, nicht dem Anschein nach, sondern aufrichtig, mit Herz und Seele."

amnesty international veröffentlichte schon vor vielen Jahren eine Charta der Gewalt, erstellt auf der Grundlage der Aussagen politischer Gefangener aus den unterschiedlichsten Ländern. Darin werden im Detail die Methoden ihrer politischen Brechung beschrieben. Diese Methoden decken sich exakt mit denen der Opfer privater Gewalt. „Mit denselben Techniken werden auch Frauen gefügig gemacht - in der Prostitution, in der Pornografie und zu Hause", schreibt Herman. Die Psychiaterin schildert Mechanismen, die vielen Frauen nicht nur aus einer so zugespitzten Situation wie der „häuslichen Gefangenschaft" bekannt sind. Sie sind manchen auch ganz einfach aus Liebesbeziehungen mit besitzergreifenden bzw. tyrannischen Strukturen vertraut.

Ich bin der Überzeugung, dass diese immer wieder neue künstliche Erzeugung von Spannungen und Aggressionen eine sexuelle Stimulation für diese Männer ist. Denn oft, aber das wird selten thematisiert, geht Tyrannei und Gewalt gegen Frauen Hand in Hand mit anschließend ausgeübter Sexualität.

Man wird
nicht als Frau
geboren...

Sie haben hier an der Universität das Privileg, Wissen, Denken und Forschen zu dürfen, ja zu sollen. Sie haben Gleichstellungsbeauftragt, Frauenförderung und Genderstudies. Sie haben also das Instrumentarium und eine Stimme. Vergeuden Sie es nicht. Verlieren Sie sich nicht in den Verästelungen und vergessen dabei den Stamm.
Es scheint mir ein spezifisches deutsches Problem, dass vor allem die Gesellschaftswissenschaften manchmal nicht so dicht sind an den gesellschaftlichen Realitäten. Auch scheint die Kritik der 1960er und 1970er Jahre an der wissenschaftlichen „Herrschaftssprache“ vergessen zu sein. Auch für Lehrende und Lernende ist es eben verführerisch, in Theorien zu flüchten, wenn die Praxis nur schwer zu bewältigen oder gar unerträglich ist.

Doch ignorieren Sie bitte nicht die lange Geschichte von Wissen und Erkenntnis im Bereich des Feminismus, sondern bauen Sie darauf auf! Schon vor über 100 Jahren hat die brillante Feministin Hedwig Dohm geschrieben: „Die Menschenrechte haben kein Geschlecht!“ Und Simone de Beauvoir hat vor 60 Jahren den epochalen Satz geprägt: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“ 20 Jahre später bezeichneten amerikanische Sexualforscher den Geschlechts-Unterschied zwischen Natur & Kultur, zwischen Biologie & Prägung als Sex & Gender. Wieder 20 Jahre später machten die Begriffe Sex & Gender als feministische Neuschöpfungen von Judith Butler Furore – und seither scheint die Realität der Geschlechter im akademischen Diskurs manchmal hinter spitzfindigen philosophischen Identitätsfragen zu verschwinden.

Ich aber möchte Sie, die Studentinnen und Studenten von heute, ermutigen, sich auch dem Leben zuzuwenden. Denn die Welt von morgen braucht Sie.

Alice Schwarzer, 14. Dezember 2010

Die Videoaufzeichnung des Vortrags anschauen 

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