Was aus dem Fall K. zu lernen ist

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Dieser Freispruch mangels Beweise war kein Freispruch, auf den der Angeklagte stolz sein kann. Denn die Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters klang über weite Strecken wie die Begründung für einen Schuldspruch. Sie hat mich in meiner Haltung, nicht nur die Unschuldsvermutung für den Angeklagten ernst zu nehmen, sondern auch die Aussage der Nebenklägerin, mehr als bestätigt. Vielleicht habe die Ex-Freundin gelogen, erklärte Richter Seidling abschließend – „vielleicht aber ist Herr Kachelmann auch ein Vergewaltiger“.

Es ist nicht leicht, das nach neun Monaten Verhandlung und einer Serie von Gutachtern – die sich alle widersprachen und nichts gebracht haben – zu akzeptieren. Doch dieses seit Monaten von allen Seiten traktierte Gericht ist offensichtlich an die Grenzen seiner Wahrheitsfindung gestoßen – und hat wohl auch vor dem enormen Druck der Medien kapituliert.

Das Gericht ist offensichtlich an die Grenzen gestoßen

Von einer echten Entscheidungsfreiheit der Richter konnte unter solchen Umständen kaum noch die Rede sein. Und entsprechend halbherzig ist das Urteil ausgefallen. Da ist es eigentlich keine Überraschung, dass sowohl die Staatsanwaltschaft wie auch die Ex-Freundin als Nebenklägerin Widerspruch eingelegt und die Möglichkeit einer Revision angekündigt haben. Ob das dann wirklich geschieht, wird sich nach Vorlage der schriftlichen Urteilsbegründung wohl im Laufe des Oktobers klären. Und es kann bis zu einem Jahr dauern, bis der Bundesgerichtshof entscheidet, ob die Revision angenommen wird. Wenn ja, gibt es einen zweiten Kachelmann-Prozess in Mannheim – und alles geht von vorne los.

Es gibt also sehr wenig Grund zum Triumph für diejenigen unter den JournalistInnen, die von Anbeginn an auf eine unverantwortliche Weise Partei ergriffen hatten: für den Angeklagten und damit gegen die Ex-Freundin. Manche redeten gar von einem „Justizirrtum“. Und sie verhöhnten die zahlreichen Geliebten Kachelmanns, die sich auch noch eingebildet hätten, er wolle sie heiraten, als gutgläubige Tussen.

Führend dabei waren Sabine Rückert in der Zeit und Gisela Friedrichsen im Spiegel. Ihre Berichterstattung artete streckenweise in Frauenverachtung, ja Frauenhass aus. So hatte Rückert in der Zeit bereits im Juni letzten Jahres, also Monate vor Eröffnung des Prozesses, gleich ein ganzes Zeit-Dossier geschrieben, in dem sie die sehr kühne Behauptung aufstellte, Kachelmann sei unschuldig und die Frau habe sich nur an ihm rächen wollen. Dem Dossier war unschwer zu entnehmen, dass die Journalistin bereits zu diesem Zeitpunkt in Intimkenntnis des Falles sein musste. Von wem sie diese Informationen wohl hatte? 

Es gibt eine minutiös abgestimmte Verteidigungs-Strategie

Es ist also keine Überraschung, dass zehn Tage nach dem Freispruch in Kachelmanns Hamburger Hausblatt ein neckisch pseudokritisches, rührseliges Exklusiv-Interview mit diesem Opfer eines „Justizirrtums“ erschien. Und drei Mal dürfen Sie raten, wer das Gespräch in dem kleinen, bescheidenen, versteckt liegenden Häuschen im Grünen geführt hat? Genau, Sabine Rückert! Zusammen mit ihrem Kollegen vom Zeit-Dossier, Stefan Willeke. Da darf der nur mit sehr großem Zweifel freigesprochene „potenzielle Vergewaltiger“ (so Richter Seidling) über drei Seiten über seine Befindlichkeiten plaudern, inklusive fünf Werbepausen: 

1. Seine Wetterfirma, 2. seine neuen Radiosendungen, 3. sein billiger Verteidiger Schwenn, 4. sein Haus am See in Kanada, das für nur eine Million zum Verkauf steht – und 5. sein Buch mit dem Titel „Mannheim“ als „Sinnbild des Elends“. Schade eigentlich. Schade, dass Kachelmann das Buch nicht „Schwetzingen“ nennt – als Sinnbild eines anderen Elends, das vermutlich bedeutend aufschlussreicher wäre.

Der Mediendienst meedia.de nimmt das Interview zum Anlass, noch mal spöttisch an die fragwürdige Rolle der so distanzlosen Gerichtsreporterin Rückert zu erinnern. Die hatte noch vor Prozessbeginn bereits dem ersten Kachelmann-Anwalt Birkenstock eine „Zusammenarbeit“ angeboten und bei der Gelegenheit den zweiten, Schwenn, ins Spiel gebracht. Wie so eine „Zusammenarbeit“ zwischen einer Gerichtsberichterstatterin der liberalen Zeit und dem Anwalt eines sexueller Verbrechen Angeklagten funktionieren kann, das erläuterte die Journalistin dem Anwalt frank und frei schriftlich: Am Beispiel zweier von Schwenn erfolgreich betriebener Wiederaufnahmeverfahren für wegen sexuellen Missbrauchs Verurteilte, über deren wiederhergestellte „Unschuld“ Rückert dann gleich ein ganzes Buch schrieb.

Die Zeit-Journalistin laut meedia damals an Birkenstock: „Am Tage des Erscheinens der Zeit lag den Richtern des Landgerichts Osnabrück der 300 Seiten starke Wiederaufnahmeantrag Ihres Kollegen Schwenn vor. Das hat dafür gesorgt, dass sich die Richter des Landgerichts Osnabrück und die Nebenklage gehütet haben, presserechtliche Schritte zu ergreifen.“ Und sie fügt noch hinzu: „Denken Sie darüber nach …“ – über dieses so reibungslos funktionierende Modell der Einschüchterung eines deutschen Gerichts.

Wer hierzulande die Schwachen ernst nimmt, kann sich warm anziehen

Da gab es also eine zeitlich minutiös abgestimmte Verteidigungsstrategie zwischen einer Journalistin und dem Anwalt eines verurteilten Sexualverbrechers. – Und was passiert nun nach all diesen wahrlich ungeheuerlichen Enthüllungen? Muss Frau Rückert den Beruf wechseln? Nein, sie macht weiter. Entschuldigt sich die Zeit bei ihren LeserInnen für diese Art von „Journalismus“? Nein, im Gegenteil, sie brüstet sich sogar noch damit. Geht ein Aufschrei der Empörung durch die deutschen Medien und Medienwärter? Sieht nicht so aus.

Der Richter hatte in seiner Urteilsbegründung nach neun Monaten Verhandlung noch einmal unmissverständlich dargelegt, Kachelmann habe ein geradezu „seismographisches Empfinden“ dafür, wie er Frauen „tief im Innern manipulieren“ könne. Auch Journalistinnen sind Frauen.

Während der für ihn sehr beschämenden Urteilsbegründung guckte Kachelmann stoisch in die Luft. Und die Ex-Freundin bewahrte mit versteinertem Gesicht bis fast zuletzt die Fassung. Erst als der Richter auf den Scherbenhaufen zu sprechen kam, der in dieser Nacht nach einer elfjährigen Beziehung vor ihr lag, kämpfte die Frau mit dem so entschlossen wie verletzt wirkenden Gesicht sichtbar mit den Tränen.

Die Identifikation mit dem Stärkeren liegt nahe. Doch wer hierzulande die Schwachen ernst nimmt, kann sich warm anziehen. Der wird selber zum Opfer gemacht. Das haben wir im Kachelmann-Prozess mal wieder drastisch vorgeführt bekommen: vom Therapeuten über die Staatsanwälte bis hin zu mir.

Frauen müssen misstrauischer werden und wehrhafter

Nein, das war kein fairer Prozess und schon gar kein tröstliches Urteil. Eher das Gegenteil. Doch daraus ist viel zu lernen. Und nicht nur, dass Frauen misstrauischer werden müssen und wehrhafter, wollen sie nicht weiterhin Gefahr laufen, tief beschädigt auf der Strecke zu bleiben.

Es wurde auch deutlich, wie problematisch die Stellung des Angeklagten im deutschen Recht ist. Sie ist sehr stark – und geht in einem solchen Fall eben auf Kosten der (mutmaßlichen) Opfer. Diese Konstellation hat ihre Wurzeln im Unrechtsstaat der Nazis. In Reaktion darauf stärkte die deutsche Justiz die Position des Angeklagten.

Doch wenn es um Sexualverbrechen geht, muss das unweigerlich auf Kosten der Opfer gehen. Denn die Täter sind in der Regel Männer, die den oft gebrochenen Opfern, meist Frauen oder Kinder, sozial wie ökonomisch häufig überlegen sind. Der Angeklagte hat das Recht zu schweigen, die Opfer müssen reden, reden, reden, müssen sich rechtfertigen. Kein Zweifel: Das deutsche Recht ist strukturell täterorientiert. Auch das muss sich ändern. Und die Position der Opfer muss dringend gestärkt werden.

Vor allem bei Sexualverbrechen gibt es naturgemäß fast nie Zeugen, bei Gewalt innerhalb von Beziehungen schon gar nicht. Sind die Spuren also nicht eindeutig – und auch das ist in hohem Maße eine Interpretations-, also Ermessensfrage, kommt es auf die Glaubwürdigkeit an. Für den Angeklagten gilt, wie wir mantramäßig gehört haben, die „Unschuldsvermutung“. Im Prinzip ist das richtig. Nur: Was gilt für das mutmaßliche Opfer?

Die 37-jährige hat ihr ganzes Leben offen gelegt

Im Fall Kachelmann zum Beispiel hat die Frau nicht nur immer und immer wieder bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht ausgesagt. Sie hat sogar der Überlassung an das Gericht ihrer intimen Therapieprotokolle zugestimmt – und damit dem Blick in ihre Seele. Und sie hat sich freiwillig auf ihre „Glaubwürdigkeit“ begutachten lassen. Um diese für eine Nacht in ihrem Leben unter Beweis zu stellen, hat die 37-Jährige sich bis auf die Knochen ausgezogen und ihr ganzes Leben offengelegt.

Das „Glaubwürdigkeitsgutachten“ von Prof. Luise Greuel umfasst über 130 Seiten: von der Geburt über die erste Periode, vom Verhältnis zu den Eltern und sich selbst, bis hin zu den Beziehungen etc. Resultat? Keines. Nur ein Kann-sein-kann-nicht-sein … Denn  so ein „Glaubwürdigkeitsgutachten“ hat überhaupt nicht den Anspruch, etwas über den Wahrheitsgehalt der Beschuldigung auszusagen, sondern nur über die grundsätzliche Glaubwürdigkeit der Person. Doch auch Lügnerinnen können vergewaltigt werden. Kurzum: Glaubwürdigkeitsgutachten sind völlig überflüssig, eine Qual für die Befragten und richten sich im Zweifelsfall schon beim geringsten Widerspruch gegen dieselben.

Auch die sich seit Jahren abzeichnende fatale Tendenz deutscher Richter, die Verantwortung an Gutachter zu delegieren, ist in diesem Prozess lehrreich gescheitert. Letztendlich müssen die Richter richten – und nicht, wie im Fall Kachelmann, Gutachter, die auch noch von der Verteidigung bezahlt sind. Abgesehen davon, dass die Wahrheit nicht immer eindeutig ist, ist so ein Prozess auch ein Machtkampf. Und da war diese Frau von Anbeginn an auf der Verliererseite. Schwach, verletzt und schlecht beraten.

Ein traumatisier-
ter Mensch kann Lücken in der Erinnerung haben

Hingegen wurde jeder Gutachter oder Experte, der nur in Ansätzen erwog, die Frau könnte die Wahrheit sagen, niedergemacht. So musste der Therapeut der Frau, der anerkannte Traumatologe Prof. Günter Seidler, sich als „Scharlatan“ vorführen lassen, als er auf eine psychologische Evidenz aus der internationalen Opferforschung hinwies: Dass nämlich ein von einer Gewalttat traumatisierter Mensch durchaus Lücken in der Erinnerung haben könne. Auch da hat niemand den gezielten Diffamationen des Verteidigers Schwenn Einhalt geboten.

Von der Verteidigung hatte die Frau selbstverständlich keine Gnade zu erwarten. Denn die Verteidigung eines Menschen, der eines Sexualverbrechens bezichtigt wird, dieses jedoch kategorisch abstreitet, kann nur auf Kosten des mutmaßlichen Opfers gehen. 

Doch auch unabhängig vom Wahrheitsgehalt der fraglichen Nacht – der ungeklärt blieb – wurde deutlich, dass das Verhältnis von Kachelmann zu Frauen offensichtlich nicht nur skrupellos, sondern regelrecht sadistisch ist. Mit dem arroganten, menschenverachtenden Hamburger Anwalt Schwenn hatte der Angeklagte sich also einen kongenialen Verteidiger einbestellt. Es ging brutalstmöglich auf die Frau. Und das so öffentlich wie möglich. 

Nun geht es grundsätzlich um die Frage, wie unsere Gesellschaft zukünftig mit Sexualgewalt innerhalb von Beziehungen umgeht. Erst 1997 trat das Gesetz in Kraft, nach dem die Vergewaltigung in der Ehe nicht länger eine Erfüllung der „ehelichen Pflicht“, kein Männerrecht mehr ist. Und das galt – und gilt! – in den Köpfen der Menschen selbstverständlich auch für eheähnliche Beziehungen. Für Beziehungen wie die von Jörg Kachelmann mit seiner Ex-Freundin.

Zurück zur guten alten Zeit: dem straflosen sexuellen Verbrechen?

Und auch heute noch wäre die Vergewaltigung in der Ehe „einvernehmlicher Sex“, hätten sich damals nicht die weiblichen Bundestagsabgeordneten aller Parteien, von rechts bis links, zusammengeschlossen. Nach 20 Jahren vergeblichen Bittens und Argumentierens brachten die Politikerinnen das Gesetz mit vereinten Kräften durch. 

14 Jahre, das ist nicht viel Zeit. Da spukt noch in vielen Köpfen, dass die Anschuldigung der eigenen Frau bzw. Freundin doch gar nicht bewiesen werden könne. Eine Anzeige bzw. einen Prozess könnten wir uns also gleich sparen. Die zwei hätten das also gleich „unter sich regeln“ sollen, wie Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen vorschlug. Womit wir wieder bei den guten alten Zeiten wären: dem straflosen sexuellen Verbrechen. 

Alice Schwarzer

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