Visa-Affäre

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Interview - Der Spiegel, 7. März 2005

Blanker Zynismus

Publizistin Alice Schwarzer über den Zusammenhang von grüner Visapolitik und Zwangsprostitution.

SPIEGEL
Frau Schwarzer, hat die rotgrüne Visapolitik für Osteuropa die Zwangsprostitution befördert?

Alice Schwarzer
Davon müssen wir ausgehen. Nicht zuletzt dank der leichtfertigen Visapraxis von Rot-Grün ist der Frauenhandel zum risikoärmsten Geschäft der Organisierten Kriminalität geworden. Die Menschenhändler mussten ihre Opfer nicht mehr illegal nach Deutschland schmuggeln, sondern sie konnten die Ware Frau legal verschachern.

SPIEGEL
Die Grünen sagen, es gebe keine Anhaltspunkte für einen Anstieg des Menschenhandels.

Schwarzer
Es ist eine Dreistigkeit und blanker Zynismus, wenn die Grünen mit gesunkenen Verfahrenszahlen argumentieren. Warum gibt es denn immer weniger Prozesse gegen Menschenhändler? Weil die Rot-Grünen mit der Reform des Prostitutionsgesetzes seit Januar 2002 die Verfolgung von Frauenhändlern erschwert haben. Prostitution gilt seither nicht mehr "sittenwidrig", sondern als "anerkannte Dienstleistung" - und damit gibt es keinen Vorwand mehr für Razzien in Bordellen. Die aber sind die einzige Möglichkeit, die eingeschüchterten, gefangenen Zwangsprostituierten überhaupt aufzuspüren. Die Einzigen, die von dem neuen Gesetz profitiert haben, sind Zuhälter und Menschenhändler.

SPIEGEL
Die Grünen haben immer für sich in Anspruch genommen, dass sie Prostituierten helfen.

Schwarzer
Mit ihrer Politik erreichen sie aber genau das Gegenteil. Es geht ihnen nicht darum, Frauen den Ausstieg aus der Prostitution zu erleichtern. Sie reden stattdessen von "selbstbestimmten Prostituierten" und vom "Wirtschaftszweig Sexindustrie". Sie wollen aus der Prostitution einen "Beruf wie jeden anderen" machen. Für mich ist es eine Frage der Menschenwürde, dass eine Frau nicht in der Prostitution ihr Geld verdienen muss. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen den Grünen und einer Feministin wie mir.

SPIEGEL
Die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn sagt, für eine Prostituierte aus Osteuropa sei die Situation leichter, wenn sie ein gültiges Visum habe.

Schwarzer
In welcher Welt leben Politkerinnen, die so argumentieren? Die Menschenhändler nehmen den hilflosen, oft sprachlosen Frauen fast immer die Pässe ab, foltern sie, halten sie gefangen. Die meisten wissen gar nicht, ob sie mit einem Visum nach Deutschland gekommen sind.

SPIEGEL
Bundesaußenminister Joschka Fischer meint, die Grünen hätten keinen Grund, sich zu verstecken - schon gar nicht für ihr Bekenntnis zu Weltoffenheit. Geht es darum überhaupt?

Schwarzer
Die Selbstgerechtigkeit der Grünen in der Visa-Affäre ist schockierend. Was die für "Weltoffenheit" halten, ist im besten Fall Weltfremdheit. Außerdem ist ihre Verteidigungsstrategie unmoralisch, weil sie auf Kosten der Opfer geht.

SPIEGEL
Die Grünen sind allem Anschein nach eine ganz normale Partei geworden.

Schwarzer
In einem Punkt scheinen sie mir allerdings anders als die anderen: Die Grünen haben inzwischen fast Sektencharakter. Ihre Glaubwürdigkeit scheint unerschütterlich und geschlossene Reihen ein höchster Wert. Es scheint aber auch ihre Wählerinnen und Wähler bisher nicht zu stören, dass Reden und Handeln bei den Grünen immer stärker auseinander klaffen.
Interview: Jan Fleischhauer

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