Alice Schwarzer in anderen Medien

Meine Trans-Schwestern

Alice Schwarzer mit Conchita Wurst bei Maischberger. - Foto: Horst Galuschka/IMAGO
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Mit 79 Jahren könnte sich Alice Schwarzer damit begnügen, eine Institution zu sein. Sie ist seit den 1970er Jahren die bekannteste Feministin Deutschlands, gerade läuft ein Dokumentarfilm über sie in den Kinos. Doch die Gründerin der Zeitschrift EMMA, die nie vor einer kontroversen Position zurückschreckt, engagiert sich auch in der Trans-Frage. In dem im Frühjahr erschienenen Buch „Transsexualität“ (KiWi), das sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Chantal Louis herausgegeben hat, stellt Alice Schwarzer ihren Standpunkt als "radikale Feministin" dar:Sie tritt für absolute Freiheit in Bezug auf die Geschlechterrollen ein, aber vor der explosionsartigen Zunahme der Geschlechtsumwandlungen bei jungen Menschen wendet - ein Phänomen, das sie auf die Geschlechterstereotypen zurückführt, denen insbesondere junge Mädchen entfliehen möchten. Die Journalistin sprach sich gegen den Gesetzentwurf des „Selbstbestimmungsgesetzes“ aus, der es Personen ab 14 Jahren erlauben würde, ihr Geschlecht selbst festzulegen, und der eine Gesetzgebung ersetzen soll, nach der Personen, die ihr Geschlecht ändern wollen, bislang ein Gerichtsverfahren durchlaufen und zwei Gutachten von Psychotherapeuten vorlegen müssen. Was ihr den Vorwurf der "Transphobie" einbringt.

L'EXPRESS Nach Ihrem Bestseller "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen" (1975), in dem Sie die Auffassung vertraten, dass die Geschlechterrollen sozial konstruiert sind, wollten Sie bereits ein Buch über das Thema Transsexuelle schreiben. Warum?
Alice Schwarzer Damals gab es für das Phänomen der Transsexualität noch kein öffentliches Bewusstsein. Nach den ersten Begegnungen mit Transsexuellen war ich frappiert davon, dass die Psyche stärker sein kann als der Körper, man also biologisch männlich ist, sich aber als Frau fühlen kann und umgekehrt. Das schien mir die feministische These zu bestätigen, dass das biologische Geschlecht (sex) nur ein Vorwand ist für die Zuweisung der kulturellen Geschlechterrolle (gender).

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1984, als transsexuelle Frauen in Frauenzentren nicht willkommen waren, veröffentlichten Sie in Ihrer Zeitschrift EMMA ein Plädoyer für Toleranz, in dem Sie diese Trans-Frauen als "Schwestern" bezeichneten. Warum sind Sie heute eine Kritikerin des Transaktivismus?
Toleranz ist immer richtig. Zu der Zeit gab es laut einer sozialwissenschaftlichen Erhebung von 1991 in ganz Deutschland nur 1.100 registrierte Transsexuelle. Diese Menschen hatten oft eine lange Leidensgeschichte hinter sich und haben trotzdem darauf bestanden, „in einem falschen Körper“ zu sein. Sie waren untherapierbar – also wirklich transsexuell. Wenn sie diesen schweren Weg gegangen sind, sollten wir sie auch akzeptieren.

Heute haben wir es mit einem ganz anderen Phänomen zu tun. Nämlich mit in der ganzen westlichen Welt hunderttausenden sehr jungen Menschen, meist Mädchen, die glauben, transsexuell zu sein und deren Anzahl rasant und epidemisch wächst. In den letzten Jahren um das 40fache! Es scheint sich jedoch bei den meisten dieser jungen Frauen um ein Unbehagen an der Geschlechterrolle zu handeln – was ich als Feministin bestens verstehen kann. Aber statt ihnen zu sagen: Wenn du keine „Frau“ werden willst, ist das sehr verständlich. Aber deswegen bist du noch lange kein Mann, werden sie mit Pubertätsblockern und Hormonen traktiert, die seelisch wie körperlich schwer gesundheitsschädigend sind, oder gar mit Amputationen verstümmelt. Wir sollten diesen jungen Frauen ganz einfach sagen: Du bist ein freier Mensch, unabhängig von deinem biologischen Geschlecht. Du kannst sogenannt „weibliche“ bzw. „männliche“ Gefühle und Ambitionen haben ohne das andere Geschlecht werden zu müssen.

Das biologische Geschlecht ist eine wissenschaftliche Tatsache, die aber dennoch heutzutage von bestimmten Aktivisten bestritten wird…
Als Feministin bin ich schon immer für die heute sogenannte Dekonstruktion der Geschlechterrolle gewesen. Aber das biologische Geschlecht ist ein Fakt, die Geschlechterrolle ist Ideologie. Zum Beispiel können nur Frauen Kinder bekommen, sind aber deswegen noch lange nicht die geborenen Mütter. Und Männer können keine Kinder bekommen, aber durchaus gute „Mütter“ sein. Wie übrigens in meinem persönlichen Fall: Ich bin von meinem Großvater großgezogen und „bemuttert“ worden. Das sind die Geschlechterrollen. Aber gibt es viele biologische Geschlechter? Das ist natürlich Unfug!

EMMA hat gerade ein Interview mit der Biologin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard veröffentlicht, die klarstellt: Biologisch gibt es nur zwei Geschlechter, auch wenn kulturell und körperlich eine große Bandbreite von sogenannter „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ existiert. Und sie selber räumt ein, mit 14 wäre sie lieber ein Mann gewesen, ganz einfach wegen ihres als „männlich“ geltenden Interesses an Naturwissenschaft. Die Folge: Die Nobelpreisträgerin ist von dieser hochideologisierten Trans-Community beschimpft worden: Sie habe keine Ahnung, sie sei zu alt und solle den Nobelpreis zurückgeben. Unglaublich! Als seien solche wissenschaftlichen Tatsachen Meinungsfragen. Fehlt nur noch, dass diese Leute demnächst behaupten, die Erde sei keine Kugel, sondern eine Scheibe – und jeden, der das nicht so sieht, auf den Scheiterhaufen bringen wollen.

Wie Sie betonen, ist die Zahl der Menschen, insbesondere der Jugendlichen, die an "Geschlechtsdysphorie" leiden, in den letzten Jahren stark angestiegen. Ist dies Ihrer Meinung nach darauf zurückzuführen, dass die Gesellschafoffener geworden ist, oder erleben wir ein Phänomen der "sozialen Ansteckung", wie es die amerikanische Forscherin Lisa Littman beschrieben hat?
Beides. Die Minderheit der echten, untherapierbaren Transsexuellen hat es heute leichter, und das ist gut so. Die Mehrheit dieser neuen Transsexuellen, deren Motive für ihr Unbehagen in Zukunft gar nicht mehr hinterfragt werden sollen, hat nur ein Unbehagen an der Geschlechterrolle. Und dieses Unbehagen kann man gerade bei Mädchen sehr gut verstehen. Nie war die Message „Sei eine echte Frau“ so allgegenwärtig, siehe zum Beispiel die Botschaften der Influencerinnen, und widersprüchlich wie heute. Ich sehe das also ganz so wie Lisa Littman.

Ihrer Meinung nach gibt es einen grundlegenden Gegensatz zwischen der Queer-Bewegung, die für fließende Geschlechter steht, und der Transsexuellen-Bewegung, die Ihrer Meinung nach eine Rückkehr zur Binarität der Geschlechter zwischen Männern und Frauen markiert. Sie gehen sogar so weit, diese Bewegung als "reaktionär" zu bezeichnen. Übertreiben Sie da nicht?
Nein, keineswegs. Die ursprüngliche Idee von Queer suggeriert ja etwas sehr Richtiges und Sympathisches: Kümmere dich nicht um dein biologisches Geschlecht, du kannst sein, was du willst – soweit die Umstände es erlauben (bei den Taliban zum Beispiel wurde die Erklärung einer biologischen Frau, sie sei ein Mann, auf taube Ohren stoßen). Die Trans-Ideologie aber suggeriert: Wenn du dich nicht wie ein „echter Mann“ oder eine „echte Frau“ fühlst, bist du eben das gegenteilige Geschlecht. Binärer geht es nicht. Denn da gibt es ja nur zwei Schubladen: Mann oder Frau! Aber genau aus diesen Schubladen wollten wir uns doch befreien, die Feministinnen wie die Queeren - und haben das auch schon ein ganzes Stück erreicht. Im Gegensatz dazu ist die binäre Trans-Ideologie total rückschrittlich. Das Unbehagen am eigenen Geschlecht jedoch bei wirklich Betroffenen nicht nur zu tolerieren, sondern den Geschlechterwechsel auch juristisch möglich zu machen, ist etwas anderes und selbstverständlich.

Der Psychiater Alexander Korte, der in Ihrem Buch zu Wort kommt, ist der Ansicht, dass "die Trans-Ideologie ein regelrechtes ‘Homosexualitäts-Verhinderungs-Programm‘ist". Seiner Meinung nach kann ein Mädchen, das als "Tomboy" oder "verpasster Junge" bezeichnet wird, lesbisch werden, während es durch eine Geschlechtsumwandlung zu einem heterosexuellen Mann wird. Teilen Sie diese Analyse?
Ja, denn diese Analyse des erfahrenen Jugendpsychiaters und Vaters zweier Töchter ist keine Meinung, sondern eine reale Erfahrung in seiner Praxis. Korte hört bei Nachfragen bei Mädchen, die sich für „trans“ halten, nicht selten, dass der wahre Grund ihres Geschlechter-Unbehagens die Homosexualität ist oder sexueller Missbrauch zum Beispiel. Die Trans-Community behauptet aber, es sei fortschrittlich, nicht nach den Gründen des Gefühls zu fragen. Sie verlangt die rechtliche Möglichkeit des Geschlechterwechsels ohne psychologische bzw. medizinische Prüfung. Das ist unverantwortlich! Gerade bei jungen Menschen in der Pubertät. Denn es kann sehr gut sein, dass die schon wenig später feststellen: Es ist nicht das falsche biologische Geschlecht, sondern die falsche Geschlechterrolle. Aber dann wäre es bei diesen angeblich fortschrittlichen Gesetzen zu spät. Die gefährliche Hormonbehandlung wäre schon im Gange und die Brustamputationen oder gar Geschlechts-OPs, die oft lebenslange Wunden hinterlassen, wären schon passiert.

Wie J.K. Rowling oder die britische Philosophin Kathleen Stock wurden auch Sie beschuldigt, eine "TERF" ("trans-exclusionary radical feminist ") zu sein. Der größte deutsche LGBT-Verband, der "Lesben und Schwulenverband in Deutschland", dem auch Ihre Co-Autorin Chantal Louis angehörte, bezeichnete das Buch als "gefährlich und unverantwortlich"...
Was soll ich sagen? Die intellektuelle Begrenztheit solcher Argumente und diffamatorische Absicht ist ja offensichtlich. Ausgerechnet Rowling, die ein Universum geschaffen hat, in dem Mädchen intelligent und Jungen lieb sein dürfen und die Familie relativ ist… Außerdem: Die Idee der Dekonstruktion der Geschlechterrolle kommt doch von uns radikalen, also universalistisch Feministinnen! Aber deswegen leugnen wir noch lange nicht die wissenschaftlichen und sozialen Fakten. Wir ziehen nur andere Schlüsse daraus.

Hinzu kommt: Diese totale Negierung der Existenz von zwei biologischen – und sozialen! – Geschlechtern verschleiert die Realität. Wenn das Gesetz würde, wäre die Kategorie „Frau“ abgeschafft. Mit schwerwiegenden Folgen. Es gäbe keine geschlechterspezifischen Statistiken mehr und damit zum Beispiel keine gendergerechte Medizin oder auch keine Erkenntnisse über die Femizide. Wir Frauen wären unsichtbar gemacht. Und biologische Männer hätten freien Zugang zu Frauen-Domänen und Frauen-Schutzräumen. Das ist ja jetzt bereits in Amerika so. Vom bereits viel zitierten Frauensport, in dem die neuen Wunschfrauen, die biologisch irreversibel männlich sind, ganz zu schweigen.

Gibt es bei diesem Thema nicht einen Generationenkonflikt unter den Feministinnen, wie man ihn bereits bei der Kopftuchfrage beobachten konnte?  
Ja. Was aber nicht heißt, dass alle Jüngeren so denken und alle Älteren anders. Das sind falsche Verallgemeinerungen. Aber in den vergangenen 20 Jahren ist vor allem die akademische Jugend durch eine Schule gegangen, das identitäre Denken, das ihnen suggeriert, Gruppenzugehörigkeiten wögen schwerer als das Individuum und Meinungen seien Fakten. Dahinter stecken Gurus der Post68er und des politischen Islam. Das hat einige Verwirrung in den Köpfen der jungen Akademiker und Akademikerinnen angerichtet. Und mit diesen abstrusen Ideen sind sie jetzt in den Schulen, Universitäten und Medien angekommen. Ja, sogar schon in der Politik.

Denn es ist doch bemerkenswert, dass die Politik in Frankreich wie in Deutschland und im ganzen Westen bisher geschwiegen oder diesen ganzen haarsträubenden Unsinn gar mitgemacht hat. In einigen Ländern wacht die Politik allerdings gerade auf. So in England, wo man das geplante Gesetz im letzten Augenblick verhindert hat. Und gerade wurde Tavistock, eine ursprünglich fortschrittliche psychiatrische Klinik für Jugendliche, geschlossen, weil sie ohne Überprüfung an Tausende Jugendliche die gefährlichen Pubertätsblocker und Hormone verabreicht, ja sogar operiert hatte. Auch in Frankreich werden gerade kritische Stimmen laut, wie die Wissenschaftlerinnen von Les Petites Sirenes. Ich bin zu hundert Prozent derselben Meinung. Und wir haben auch schon in EMMA über die Französinnen berichtet.

"Transsexualität - Was ist eine Frau? Wsa ist ein Mann?" Das Buch zur Debatte im EMMA-Shop.
"Transsexualität - Was ist eine Frau? Was ist ein Mann?" Das Buch zur Debatte im EMMA-Shop.

In Deutschland will die regierende Koalition ein Gesetz einführen, das Menschen ab 14 Jahren ermöglichen soll, ihr Geschlecht zu ändern. Was halten Sie davon?
Es sind vor allem die Grünen, die die Trans-Ideologie einer radikalen Minderheit offensiv zu ihrer Sache gemacht haben. Und es ist die SPD, die, wie so oft in gesellschaftspolitischen Fragen, den Grünen hinterherstolpert. Die grüne Frauenministerin und der liberale Justizminister haben für den Herbst tatsächlich ein Gesetz angekündigt, nach dem Jugendliche ab 14 Jahren ihr Geschlecht wählen können sollen – ohne dass die Motive für den Wunsch nach dem Geschlechterwechsel auch nur hinterfragt werden dürfen. Einmal ganz davon abgesehen, dass die meisten Menschen eigentlich gar nicht wissen, worum es bei so einem Gesetz wirklich geht, und bisher auch noch keine gesellschaftliche Debatte zu dem Problem stattgefunden hat. Genau die fordern wir jetzt!

Unsere Forderung ist: eine Altersgrenze von 18 Jahren für den Geschlechterwechsel und nicht ohne angemessene psychologische und medizinische Prüfung der Motive. Wir werden alles versuchen, das geplante Gesetz zu verhindern! Zum Schutz der pubertierenden Jugendlichen wie auch der Frauen. Das Gesetz sieht auch vor, dass man einmal im Jahr das Geschlecht wechseln können soll, hin und zurück. Wäre es nicht so folgenreich und tragisch, wäre es zum Lachen. Es ist schon bemerkenswert, wie eine terroristische, hoch ideologisierte Minderheit die Mehrheit, inklusive Medien und Politik, zum Narren hält.

„Endlich männlich und weiblich in einer Person sein können und dürfen! Dafür kämpfe ich", schreiben Sie. Sie scheinen die Idee zu vertreten, dass es in einer idealen Gesellschaft ohne zugewiesene Geschlechterrollen und in der Männer und Frauen sein können, was sie wollen, viel weniger Geschlechtsumwandlungen gäbe. Ist das wirklich so?  
Ja. Denn in einer idealen Gesellschaft wären Frauen und Männer vor allem Menschen. Und ihr biologisches Geschlecht wäre ein Faktor von vielen, die sie prägen. Außerdem: Was ist überhaupt eine Frau? Und was ist ein Mann? Das lässt sich beliebig interpretieren, wie wir wissen.

Das Interview führte Thomas Mahler, es erschien am 4. Oktober 2022 im EXPRESS. - Hier das Interview auf französisch.

 

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