Alice Schwarzer in anderen Medien

Mein Jahr 1964 in Paris

Artikel teilen

28. April 1964. Ich bin auf der Flucht. Ich sitze im Zug von München nach Paris und bleibe gleich in Straßburg erstmal für ein paar Stunden stecken. Streik. Der erste von vielen französischen Streiks, die ich erleben werde. Aber das kann mich nicht aufhalten. Ich bin entschlossen. Entschlossen, meiner beruflichen Perspektivelosigkeit zu entkommen und meinem ersten Freund. Der existiert seit zwei Jahren, und ich werde zwar von meinen Freundinnen heftig um ihn beneidet, aber für mich ist er einfach nicht der Richtige. Zu wenig Humor und zu entschlossen, mir Verlobungsringe anzustecken.

Ich bin 21 Jahre alt. Es ist das Jahr, in dem ich erwachsen werde. An meine beste Freundin Barbara schreibe ich zu Jahresbeginn: "Da ist dieses überdeutliche Wissen, dass ich ganz allein bin. Dass ich allein zu entscheiden und zu verantworten habe." Anfang März entscheide ich, zwei Monate später handle ich.

Auslöser ist ein Abend in Schwabing, wo ich seit einigen Monaten wohne, mich im Sekretariat eines Verlages anöde und abends in dem angesagtesten Jazzkeller, der Nachteule, Empfangsdame spiele: im (imitierten) Chanelkostüm mit lang baumelnden Ketten. Gleich nebenan, in der Schwabinger Sieben, treffen wir uns bei matschigen Spaghetti mit einem Bekannten. Er erzählt, dass er auf die Journalistenschule geht. Mich trifft es wie ein Schlag. Stundenlang bleibe ich vor meinem Glas mit dem sauren Kalterer See sitzen und frage ihn aus. 

Das ist es! Ich werde Journalistin!

In der darauffolgenden Nacht sitze ich aufrecht im Bett. Das ist es! Ich werde Journalistin! Wie hatte ich nur vergessen können, dass ich schon immer die besten Aufsätze schrieb?! Dass ich mich nicht nur leidenschaftlich für Politik interessiere - initiiert von meiner Großmutter -, sondern schon früh eine nicht minder leidenschaftliche Zeitungsleserin war?! Ab 15/16 verschlang ich den Spiegel (Augstein war mein Held, vor allem seit seiner Verhaftung in der "Landesverrat"-Affäre), die Zeit (wo mir die ungewöhnlich vielen weiblichen Autorennamen nicht entgingen: Marion, Nina, Gerda). Und natürlich Twen, mit dem coolen Layout und den kühnen Themen (Sex, Abtreibung, Swinging London). Plus Polska, eine großformatige Avantgarde-Kulturzeitschrift aus Warschau, die ich schon wegen meines Faibles für den polnischen Film (wie "Asche und Diamant" von Wajda) abonniert hatte.

Das also war meine Welt. Nur - ich hockte als Sekretärin im Büro. Warum also sollte ich nicht Journalistin werden! Allerdings: Die Voraussetzungen waren denkbar ungünstig. Nach einer planlosen Schulzeit - meinen chaotischen Familienverhältnissen wie meinem Geschlecht geschuldet - hatte ich noch nicht einmal Abitur und sah auch keine Chance, das nachzuholen. Mittellos, wie ich war. Was also tun?

Ich werde nach Paris gehen - schon lange mein Sehnsuchtsort -, die Sprache und die Welt kennenlernen und mich von da aus bewerben. In der Tat: Ich setze den Plan um. Noch nicht einmal zwei Jahre später, am 1. Februar 1966, werde ich mein Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten antreten.

Doch noch sitze ich im Zug nach Paris, spreche drei, vier Worte Französisch und habe 350 Mark in der Tasche. In den ersten Tagen schlafe ich auf der Luftmatratze einer jungen Deutschen, die als Aupair-Mädchen ein winziges Zimmer unterm Dach bewohnt. Und gleich am allerersten Tag melde ich mich bei der Alliance Francaise an, wo ich von nun an täglich zwei Stunden lang Französisch lerne. Es ist die Zeit, in der von Quick bis Stern über das Olàlà-Leben der "verlorenen Töchter in Paris" berichtet wird. Die Realität sieht natürlich ganz anders aus. Hauptthema in der Sprachenschule ist, nicht nur unter den deutschen Mädchen, "Madame". Wie Madame ihr "Aupair-Mädchen mit Familienanschluss" triezt und ausbeutet. Nur ein Thema ist schlimmer als Madame: das ist "Monsieur". Das zumindest bleibt mir erspart.

Ich werde nach Paris gehen - mein Sehnsuchtsort

Einige Monate später werde ich genau darüber meinen allerersten Artikel schreiben. Er erscheint im Wuppertaler Generalanzeiger und beginnt mit den sich schon recht professionell gerierenden Worten: "Seit Soraya zur 'ständigen Begleiterin' wurde und auch das Thema Kilius-Bäumler erschöpft ist, beunruhigt ein Teil der deutschen Presse ihre Leser mit der 'Wahrheit' über Deutschlands verlorene Töchter in Paris. Von der von Verführern belagerten Alliance Francaise kann man da lesen, von wilden Dolce-Vita-Partys, Rauschgiftorgien - kurzum, es ist der berüchtigte Pariser Sumpf, in den unsere braven Gretchen, die im Grunde wohl mit guter Absicht kamen, sinken.

Das "süße Leben" sieht so aus: Für 150 Francs im Monat und ein Logement arbeiten die Aupair-Mädchen oft sechs bis acht Stunden an sechs Tagen in der Woche. Auch ich habe ein paar Wochen lang so eine Madame. Eine bürgerliche Hausfrau, deren Mann Karriere macht und die heillos überfordert scheint mit ihren drei kleinen Kindern. Sie kann ein wenig Deutsch und erzählt mir von ihrem immer wieder kehrenden Alptraum: Nämlich dass der Kleinste, der zweijährige Vincent, aus dem Fenster fällt. Davon also träumt sie.

Vincent bindet sich rasch an mich. Und als er einmal vom zweiten Stock der Dienstbotentreppe, über die ich den Müll runterzuschaffen habe, hinter mir herruft, Aaaaalies, da flippt Madame aus. Sie beschuldigt mich, ihr Kind umbringen zu wollen und nennt mich ein "elendes Naziweib".

Wenige Stunden später ziehe ich aus. Ich wechsle das Modell. Von nun an bin ich kein Aupair-Mädchen mehr, sondern jobbe für ein "Studio", eine Einzimmerwohnung, und meinen Unterhalt: 55 Francs für die Schule, 25 Francs für die Metro und im Schnitt drei Francs zum Leben am Tag. Mal gibt es Reis mit Ei, mal Ei mit Reis. Mich stört das nicht. Ich bin stolz, dass ich es schaffe.

Nach einer Odyssee durch diverse Logements ziehe ich das große Los: Von Herbst an habe ich ein Studio mit Rosentapete, fließendem Wasser und zwei Pariser Fenstern im alten, inzwischen plattgemachten Montparnasseviertel. Die Gemeinschaftstoilette ist im Zwischenstock, im Cafe Charbon gegenüber kann man Kohlen kiloweise kaufen und zwischen den Häusern soll es unter der Straße her noch die alten Geheimgänge aus der Zeit der französischen Revolution geben. Das Viertel ist arm, aber die Märkte sind reich. Austern zum Wochenende sind eine Selbstverständlichkeit.

Nebenher putze ich oder betreue Kinder

Das Einzige, was ich für diesen Traum von Wohnung zu tun habe, ist, einmal am Tag die zwei kleinen Jungen meiner Gastfamilie von der Schule abholen. Die liegt direkt auf meinem Weg. Mit Madame und ihren Kindern bin ich bis heute befreundet. Der Älteste, Francois, hat seine Tochter Alice genannt. Und der Jüngste, Patrick, war neulich mit seinen vier Kindern bei mir zu Besuch: zwei lernen Deutsch und die Älteste soll demnächst ein Praktikum bei EMMA machen. Das fände er gut.

Doch zurück nach Paris im Jahr 1964. Nebenher putze ich oder betreue Kinder. Später, mit besseren Französischkenntnissen, mache ich Büroarbeiten - und gerate rasch mitten rein in die Emigranten-Szene. Dass ich Deutsche bin - blond, blauäugig - ist unübersehbar. Und es spielt im Frankreich der 1960er Jahre auch durchaus noch eine Rolle. Was mich bedrückt. Denn meine Großeltern, bei denen ich aufgewachsen bin, waren entschiedene Nazi-Gegner. Sie haben Zwangsarbeiter durchgefüttert, Radio London gehört, schon aus Prinzip niemals "Heil Hitler" gesagt und sehnlichst auf das Ende gehofft. Mit der Aufklärung über die Verbrechen der Nazis und den Holocaust (ein Wort, das es noch nicht gab) bin ich aufgewachsen - und mit der Verbitterung meiner Großmutter darüber, dass auch nach 1945 viele Nazis auf Posten blieben.

So wie Staatssekretär Globke in Adenauers Kanzleramt. An dem hatte der Alte auch dann noch festgehalten, als öffentlich geworden war, dass dieser Globke Mitautor der antisemitischen Rassengesetze gewesen war. Gleichzeitig allerdings war Kritikern des Adenauer-Regimes, wie meiner Familie, damals kaum bewusst, dass Adenauer selber als Nazi-Gegner im Lager gesessen hatte und nur knapp der Deportation entkommen war. Es schien nur Gute und Böse zu geben, auch Jahrzehnte nach Kriegsende noch.

Mir ist es also schmerzlich bewusst, was es für manche Menschen in Frankreich noch 1964 bedeuten konnte, dass ich Deutsche bin. Sicher, die Emigranten lassen es mich nicht spüren. Im Gegenteil, sie sind oft gerührt, wieder Deutsch sprechen zu können. Wie Maître Müller, ein Elsässer Anwalt und traditioneller jüdischer Patriarch mit schwarzem Käppi auf dem schlohweißen Haar. Seine Kanzlei liegt an der Avenue de l'Opera. Bei ihm tauche ich tief in die Schicksale von Überlebenden, denn Maître Müller bearbeitet Wiedergutmachungsklagen.

Eines Tages verlasse ich seine Kanzlei gleichzeitig mit einer seiner Klientinnen. Ihr Dossier kenne ich nur allzu gut: Jede Nacht Alpträume, jede Nacht wieder zurück ins Lager... In dem käfigkleinen Aufzug, in dem wir vom vierten Stock nach unten rasseln, versuche ich eine Konversation mit ihr. Auf Deutsch, denn Maître Müller spricht nur Deutsch mit mir, und ich spreche noch schlecht Französisch. Die Frau, eine Deutsche, antwortet mir nicht. Sie sieht mich nur an. Vier Stockwerke lang. Meine Scham ist tief.

Ich lerne, mich zu wehren

Der zweite Weltkrieg, der Naziterror, die Konzentrationslager, all das ist in diesen Jahren noch sehr präsent in Frankreich. Lebendig präsent, keine Geschichte. Die Betroffenen schweigen. Doch es gibt auch Selbstgerechtigkeit und Missbrauch. So passiert es mir manchmal, dass Männer auf der Straße hinter mir herrufen: "Hallo Fräulein" (Es sind die Jahre des deutschen "Fräuleinwunders"). Reagiere ich abweisend, kann es vorkommen, dass sie mich als "Nazi" oder "SS" beschimpfen. Ich lerne, mich zu wehren.

Ich kann stundenlang über die Boulevards und durch die Gassen schlendern, im Jardin du Luxembourg sitzen, am Seineufer die Schiffe vorbeiziehen lassen. Metro fahre ich ungern, am liebsten fahre ich Bus. Bis heute kenne ich die meisten Buslinien auswendig. Es gibt noch die Busse mit offenem Peron, auf die man während der Fahrt auf- und abspringen kann. Ganz wie in Raymond Queneaus "Zazie in der Metro", eines meiner Lieblingsbücher aus der Zeit.

Noch gibt es auch die Hallen, diesen Großmarkt mitten in Paris, wo man nach durchtanzter Nacht am frühen Morgen den geschäftigen Händlern zusieht und eine wärmende Zwiebelsuppe löffelt. Die alten Jugendstilhallen wurden später, gegen alle Bürgerproteste, abgerissen und durch ein Beton-Laden-Labyrinth ersetzt. Das wird gerade wieder abgerissen. Einfach zu scheußlich. Man darf gespannt sein, was folgen wird.

Im Juli 1964 fahre ich mit einer der Familien, für die ich jobbe, an die Côte d'Azur. Er ist Schauspieler und spielt auf den Festivals von Avignon und Arles. Sie begleitet ihn. Und ich bleibe mit den beiden kleinen Jungen im Ferienhaus in Roquebrune zurück und koche Tag für Tag Nudeln mit Ketchup. Sie wollen einfach nichts anderes essen. Ihre Mutter hat sie daran gewöhnt. Auch das ist Pariser Küche.

Ich begegne meiner ersten großen Liebe

Als die Eltern zurückkommen, mache ich ein paar Tage Ferien am Meer. Ich wohne bei einer Jugendfreundin, die für zwei Wochen in einer Art Jugendherberge in Saint Maxime ist - gleich gegenüber von Saint Tropez, wo ich zusammen mit zwei Freundinnen im Sommer davor so übermütige Tage verbracht hatte. Genau da war der Grundstein zu meiner Liebe zu Frankreich gelegt worden: An diesem Abend in den Bergen von St. Trop, wo ich mit einer Clique junger Franzosen spätabends beim Essen saß. Das Tischtuch war übersät mit Brotkrumen und Weinflecken, durch das weit offene Fenster zirpten die Grillen und unsere Gespräche und unser Gelächter zog sich bis in die tiefe Nacht. So will ich leben, dachte ich. Und so lebe ich. Bis heute. Zumindest zeitweise.

Ein Jahr später wird der Sommer zu meinem Schicksalssommer. Ich begegne meiner ersten großen Liebe, Bruno. Er sitzt am Strand, allein, und liest: eine Studie über Marx, wie ich erspähe. Aber er hätte meinetwegen auch Micky Mouse lesen können (was ebenfalls nicht ausgeschlossen gewesen wäre, wie sich später herausstellen wird). Egal. Er ist es einfach! An meine Mutter werde ich ein paar Wochen später schwärmerisch schreiben: "Er ist die vollkommene Verkörperung meines Typs: groß, dunkel, mit einem sehr ausdrucksstarken Gesicht. Und er ist so geistreich, so charmant und höflich - und trotzdem irgendwie schüchtern." Und er lacht gerne.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch sagt meine deutsche Freundin, die in Paris lebt, trocken zu mir: "Den kannst du vergessen. Diese Art von Parisern würde niemals eine Frau ansprechen. Und schon gar keine Ausländerin. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie arrogant die sind." Denn auch das ist gleich klar: So ein Mann kann nur aus Paris kommen.

Alice mit Lebensgefährten Bruno 1965 in Venedig.
Alice mit Lebensgefährten Bruno 1965 in Venedig.

Am dritten Tag spricht er mich an, danach sehen wir uns täglich. Und ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen, an das Gespräch an unserem ersten Abend: Wir debattierten passioniert über die Chancen des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater. Der forderte Lyndon B. Johnson heraus, der nach der Ermordung von Präsident Kennedy 1963 dessen Nachfolger geworden war und kurz zuvor gewagt hatte, die Anti-Rassismus-Gesetze gegen die Rassentrennung zu verabschieden.

Goldwater war gut rechts. Er plädierte für die Wiedereinführung der Rassentrennung und machte Sprüche wie: Mit der Atombombe könne man "prima den vietnamesischen Dschungel entlauben". Da steht der Vietnamkrieg, der meine Generation politisiert hat, schon auf der Agenda. Doppelt in Frankreich, das vor den Amerikanern versucht hatte, in "Indochina" (wovon Vietnam ein Teil ist) in guter kolonialer Tradition die Stellung zu halten - und das 1962 nach langen, schweren Konflikten Algerien aus der Abhängigkeit entlassen musste. Die Unterdrückung der algerischen Resistance und der Terror der ewig gestrigen OAS ist noch allgegenwärtig (die Organisation Armée Secrète, eine Untergrundorganisation der Armee, die militant und mörderisch gegen die Unabhängigkeit von Algerien kämpfte). So mancher aus Brunos Generation hatte Militärdienst in Algerien leisten müssen und kam verletzt an Seele und Körper zurück. In seiner Generation ist Algerien das Trauma. Bruno interessiert sich so leidenschaftlich für Politik wie ich. Auch das verbindet uns von Anbeginn an. 

Am 31. Juli 1964 steige ich in Arles in den dritten Waggon des Zuges nach Paris. Da wartet er auf mich. Unsere Beziehung wird sehr bald sehr innig. In den kommenden zehn Jahren werde ich mein Leben mit ihm teilen: mal einen Kilometer entfernt von ihm, mal 500 oder 800 Kilometer, aber immer im täglichen Austausch. Die rund tausend Briefe, die wir geschrieben haben, werden eine Hauptquelle für meine Lebenserinnerungen sein, den 2011 erschienen "Lebenslauf".

Erst später, als ich zwischen 1969 und 1974 als Korrespondentin in Paris arbeite, werden wir eine gemeinsame Wohnung haben. Doch noch wohnt er, der Student und Sohn aus gutem Hause, im sechsten Stock des Gebäudes auf dem Montparnasse, in dem auch seine Eltern und die drei Schwestern leben. Die Familie wird nicht aufhören, die hergelaufene Deutsche zu bekämpfen, bis zum bitteren Ende. Sie hatten sich für ihren Prinzen etwas anderes vorgestellt. Aber er hält zu mir. Eva Joly, die Anti-Korruptions-Richterin aus Norwegen, die ihren französischen Mann als Aupair kennenlernte, beschreibt in ihren Memoiren eine ganz ähnliche Geschichte. Sie scheint also durchaus nicht untypisch zu sein.

Ein Ball auf dem Pont Neuf & Feuerwerk am Arc de Triomphe

Am 26. August 1964 feiert Paris den 20. Jahrestag der Befreiung von den Deutschen. Ein Ball auf dem Pont Neuf, Feuerwerk am Arc de Triomphe und vor dem Rathaus eine feierliche Ansprache von Präsident de Gaulle, dem einstigen Chef der militärischen Resistance in London: "Francaises, Francais..." Der Zwei-Meter-General breitet seine langen Arme weit aus. Er versteht sich auf Pathos. Mitten in der Menge stehen wir, der Franzose und die Deutsche. Unser Verhältnis zu de Gaulle ist eher kritisch, wir finden ihn viel zu konservativ, um nicht zu sagen reaktionär. Wir sympathisieren eher mit dem Sozialisten Mendès France. Aber dennoch. Wir sind gerührt. Vor allem ich. Und als de Gaulle mit seiner sonoren Stimme die Marseillaise anstimmt, bekomme ich feuchte Augen.

Viele Jahre später, im Jahr 2009, wird der französische Präsident und De-Gaulle-Fan Nicolas Sarkozy Hand in Hand mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel am 11. November am Arc de Triomphe an das "Grab des unbekannten Soldaten" treten, um dort gemeinsam Blumen niederzulegen. Anlass: Das Ende des Ersten Weltkrieges vor 91 Jahren. Beim Mittagessen in der EMMA-Redaktion erzähle ich meinen jungen Kolleginnen tief gerührt von dem Event. Die gucken mich gelangweilt an. Ja und? Was ist daran so bemerkenswert? Das!

Ich erinnere mich nur zu gut an die Geschichten meiner Großeltern, beide später überzeugte Pazifisten. Wie meine Großmutter, über sich selber den Kopf schüttelnd, erzählte, dass sie als junges Mädchen ihren Schmuck für den Krieg gegen den Erzfeind Frankreich gab: "Gold für Eisen." Und mein so friedliebender Großvater gestand, dass er sich als 19-Jähriger übereifrig freiwillig gemeldet hatte, um "allen Franzosen in die roten Hosen zu schießen". An der Front begriff er dann schnell, dass auch Franzosen Menschen sind und welches Grauen der Krieg ist. 

"Aber Papa, warum hast du das denn getan?!"

Er war in Verdun. Und er hat mir, dem kleinen Mädchen, immer nur auf Nachfrage davon erzählt. Zwischen seinen selbst erfundenen Märchen und Kasper-Geschichten. Ich konnte es kaum fassen: "Aber Papa, warum hast du das denn getan?!" Zum Beispiel auf Befehl des Unteroffiziers den beim Transport auf dem Feld verloren gegangenen Deckel der Gulaschkanone im Kugelhagel gesucht. "Weil ich sonst standesrechtlich erschossen worden wäre", hat er geantwortet. Und dann hat er erzählt. Wie sie knietief im Wasser des Grabens standen und ganz nah gegenüber den Franzosen, die sie erschießen sollten, in die Augen gesehen haben.

Und noch etwas hat er mir gesagt, das ich so nie wieder gehört habe. "Was meinst du, wie oft Offiziere in den Rücken erschossen wurden." Aus Rache für Schikanen. Papa, wie ich meinen Großvater nannte, hat nie gezielt erschossen,  nicht von vorne und nicht von hinten. Und er hat mir seine tiefe Verzweiflung vor dem Grauen des Krieges unausrottbar weitergegeben.

Jetzt sind meine Großeltern verhalten stolz, dass ich in Paris bin. Auf meiner Seite herrscht Einverständnis mit dem französischen Schwiegersohn. Doch mir wird es manchmal gar zu französisch. Dann sehne ich mich inmitten der im Lichte der Aufklärung munter parlierenden Franzosen nach deutschem Tiefsinn und deutschem Nebel. Ich lasse mir von meinem Großvater Päckchen mit Schwarzbrot und Leberwurst schicken. Und ich nehme die Metro nach Pigalle, um meinem geliebten Heinrich Heine einen Besuch auf dem Cimetière Montmartre abzustatten. Onri Ein, wie die Franzosen sagen, diese Banausen.

"Simone de Be... die Gefährtin von Sartre"

Neben den französischen Klassikern - Baudelaire, Rimbaud, Flaubert - lese ich, versteht sich, auch Camus und Sartre. Letzterer erhält im November den Literatur-Nobelpreis - und lehnt ihn ab. Was mir damals imponiert, mir heute allerdings leicht arrogant scheint. In einem Brief an meine beste Freundin in München frage ich sie, was sie denn von der Ablehnung hält und erwähne in dem Zusammenhang Simone de Beauvoir. Aber ich weiß noch nicht einmal ihren Namen richtig. Ich schreibe: "Simone de Be... du weißt schon, wen ich meine, die Gefährtin von Sartre." Zu dem Zeitpunkt liegt Beauvoirs Essay über die relative Existenz der Frauen, "Das andere Geschlecht", dieses feministische Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, seit 15 Jahren vor. Und ihre meisten Bücher sind bereits erschienen: ihre Romane, Essays, Memoiren. Im Jahr 1964 veröffentlicht sie einen ihrer ergreifendsten Texte: "Ein sanfter Tod", die Reflexion über den Tod ihrer Mutter.

Und sie wohnt sozusagen bei mir um die Ecke, Rue Schoelcher; gleich neben dem Friedhof Montparnasse, auf dem ich, auf den Treppen der alten Mühle, zu lesen und zu lernen pflege. Wir müssen oft durch dieselben Straßen gegangen sein: über den Boulevard Montparnasse, durch die Rue Delambre und den Boulevard Edgard Quinet entlang. Mein Stammcafé, das Select, befindet sich quasi direkt neben dem Haus, wo sie aufgewachsen ist, und ihr Stammlokal, die Coupole, gleich gegenüber. Dennoch: Ich weiß fast nichts von ihr. In den Medien spielt zwar Sartre eine Rolle, aber sie kommt kaum vor. Oder übersehe ich sie?

Da ahne ich noch nicht, dass ich einige Jahre später mit ihr und Sartre befreundet sein werde, und wir so manches Mal zu dritt in der Coupole oder im Dome zusammen essen. Wobei unsere Lieblingsbeschäftigung das Lästern ist, wir sind uns so wunderbar einig bei der Beurteilung von Menschen: von den Nouveaux Philosophs (oberflächlich) bis zu den neuen Strukturalisten (unleserlich).

Als ich Paris Anfang 1966 verlasse, breche ich wiederum auf zu neuen Ufern. Doch ich werde zurückkommen. Deutschland ist meine Heimat - aber Paris bleibt meine Heimatstadt.

Alice Schwarzer - Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeine Zeitung in der FAZ-erie "Vor 50 Jahren".

Zum Weiterlesen
Alice Schwarzer: Lebenslauf. Die Autobiografie (Kiepenheuer & Witsch). Im Shop bestellen 

 

Artikel teilen
 
Zur Startseite