Alice Schwarzer in anderen Medien

"Ich halte Putin nicht für verrückt"

Foto: Michael Bause/KStA
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Frau Schwarzer, Ihr offener Brief an den Bundeskanzler hat viel Aufsehen erregt. Hat Olaf Scholz eigentlich mal darauf reagiert?
Alice Schwarzer: Nicht direkt. Aber der hat ja nun wirklich genug zu tun.  Indirekt schon, würde ich sagen. Was der Regierungssprecher zuletzt aus dem Gespräch des Kanzlers mit Putin berichtet hat, das waren original unsere Forderungen. Ich will damit nicht sagen, wir hätten den Kanzler auf die Idee gebracht. Aber wir haben den Brief ja auch geschrieben, um Scholz in seiner grundsätzlichen Position der Nachdenklichkeit und Verantwortung zu bestärken.

Welche anderen Reaktionen haben Ihnen zu denken gegeben?
Die Resonanz ist überwältigend. Das Telefon in der EMMA-Redaktion steht seit Wochen nicht still. Neun von zehn Menschen, die sich melden, bedanken sich: „Endlich eine andere Stimme!“ Auf change.org liegen wir bei mehr als 280.000 Unterschriften. Und wenn ich auf die Straße gehe, schlägt mir von Frauen wie Männern eine Welle der Sympathie entgegen, die in dem Ausmaß neu ist. Das bezieht sich alles auf den offenen Brief.

Aber die kritischen Stimmen haben Sie schon auch registriert?
Natürlich. Die waren lange ja auch die einzig vernehmlichen. Der Hauptgrund für meine Initiative war doch, dass ich gespürt habe: Es ist doch nicht ganz Deutschland dafür, immer bloß weiter Waffen zu liefern. So wenig wie ich davon ausgehe, dass die gesamte Ukraine geschlossen hinter dem steht, was Präsident Selenskyi so verkündet. Der Zweifel an diesem Kurs, die Verzweiflung auch, die hatte sich bis zu unserem Brief in der Debatte und auch in den Medien überhaupt nicht gespiegelt. Jetzt zeigen Umfragen: Wir sind in dieser Frage ein gespaltenes Land. 45 Prozent sind für die Lieferung weiterer schwerer Waffen, 45 Prozent dagegen. Deswegen war es Ziel Nummer 1 unseres Briefes, dieser Hälfte der Bevölkerung eine Stimme zu geben. Dieses Ziel ist zu hundert Prozent erreicht! Ich habe in meinem Leben ja nun schon so manches angezettelt. Aber ich muss sagen: Die Reaktionen auf diesen Brief sind einfach großartig. Und zwar nicht nur die Zustimmenden, sondern durchaus auch die noch Nachdenklichen und Kritischen. Endlich ist zu dieser für uns alle lebenswichtigen Frage eine öffentliche Debatte in Gang gekommen. Über die Gefahr einer Eskalation bis zu einem 3. Weltkrieg muss ja geredet werden!

Ihre Beschreibung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine ist eine Art Täter-Opfer-Umkehr.
Dieser Vorwurf ist mir genauso schleierhaft wie mancher andere. Es wird behauptet, wir sprächen der Ukraine das Recht ab, sich militärisch zu wehren. Absurd. Das Gegenteil ist der Fall. Weiter wird gesagt, wir seien für Kapitulation. Steht da auch nirgends. Was wir sagen, ist: So ein Krieg verursacht täglich, stündlich mehr Zerstörung, mehr vergewaltigte Frauen, mehr Tote. Also müssen wir zusehen, wie das schnellstmöglich beendet werden kann, gerade auch für die Menschen in der Ukraine. Ich hoffe, in diesem Ziel sind sich die meisten einig. Über die Wege dahin kann man natürlich unterschiedlicher Meinung sein. Das respektiere ich. Unsere Position ist: Schnellstmöglich verhandeln!

Sie gehen davon aus, dass man mit Putin verhandeln kann?
Selbstverständlich. Ich halte ihn nicht für verrückt. Er weiß selbst, dass er diesen Krieg, der von Anfang an ein Verbrechen war, nicht ewig führen kann. Was also ist der Stand der Dinge? Die Ukraine hat den Angriff auf Kiew erfolgreich abgewehrt – gut so! Das ist ein Sieg für die Ukraine. Jetzt tobt der Krieg noch in der Ostukraine, wo beide Seiten schon länger kämpfen. Eigentlich wäre das ein guter Zeitpunkt, einen Waffenstillstand auszuloten und nach Kompromissen zu suchen. Denn fast immer sind in einem Krieg die Folgen des Krieges schlimmer als die Folgen von Verhandlungen und Kompromissen. Und in diesem Fall geht es ja nicht nur um die Folgen für die Konfliktparteien, sondern um die Folgen für die ganze Welt.

Kompromisse zwischen Aggressor und Angegriffenem?
Anders geht es doch nicht. An einem Neutralitätsstatus für die Ukraine führt vermutlich kein Weg vorbei. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, dass Selenskyi weiter auf einer sofortigen Nato-Mitgliedschaft herumreitet. Das hat das ganze Drama ja vermutlich ausgelöst. Und für die Ostukraine wird es wohl einen Sonderstatus geben müssen.

Schon haben wir das Problem. Soll Putin den Gewinn von seinem Krieg haben, indem er am Ende doch Teile des ukrainischen Territoriums erhält? Der Westen lehnt das geschlossen ab. Deutschland und seine Außenministerin Annalena Baerbock mit am deutlichsten: Kein Frieden nach Putins Diktat.
Von „Diktat“ kann doch keine Rede sein. Ich frage nur: Steht ein nach Monaten erzielter leichter Verhandlungsvorteil dafür, diesen Krieg unendlich fortzusetzen? Und es geht dabei nicht nur um die Ukraine und auch nicht um unsere – im Vergleich zu den Ukrainern marginalen – ökonomischen Beschwernisse. Sondern es geht auch um die Millionen Menschen im globalen Süden, von denen wir jetzt schon wissen, dass sie infolge dieses Kriegs verhungern werden. Eine humanitäre Katastrophe unglaublichen Ausmaßes!

Sie vertreten keine pazifistische Position?
Doch. Ich sage Ihnen mal was: Ich bin Pazifistin. Immer gewesen. Aber ich bin keine absolute Pazifistin, sondern das, was der große Vordenker des Pazifismus, Bertrand Russell, eine „relative Pazifistin“ genannt hätte.

Was bedeutet hier relativ?
Nicht „friedlich unter allen Umständen“. Als ich vor vielen Jahren ehrenvollerweise mal auf so einer Schwarzen Liste von Rechtsradikalen stand, wollte die Polizei mich zur Selbstverteidigung auf dem Land mit einer Pistole ausstatten und mir das Schießen beibringen. Ich fand das toll – mit einer Waffe in der Tasche rumlaufen für den Fall eines Angriffs. Aber dann wurde mir klar: Am Ende würde ich nicht richtig abdrücken können. Und würde vermutlich mit meiner eigenen Pistole erschossen. Würde ich heute ich in der Ukraine leben, wäre ich garantiert bei denen, die sich wehren und stolz sind, dass ihr kleines Land es dem übermächtigen Angreifer zeigt.

Warum, glauben Sie, handelt Putin so?
Ich glaube nicht an die These, dass Putin seit langem plant, ein großrussisches Reich zu errichten. Ich halte mich an die realen Machtverhältnisse. Und deshalb scheint mir sein Hauptmotiv die Sorge über die immer näher rückende Nato zu sein. Russland hat mit der Ukraine eine über 2.300 Kilometer gehende gemeinsame Grenze. Was würde denn Amerika dazu sagen, wenn Russland an der mexikanischen Grenze stünde?

Eine seltsame Art der Verteidigung – das Nachbarland zu überfallen…
Allerdings. Offensichtlich ist Putin in dem Glauben, „eigentlich gehört die Ukraine uns“. Das muss man natürlich mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Wobei eine gewisse kulturelle und mentale Zusammengehörigkeit nicht zu bestreiten ist. Ich habe zu Beginn des Krieges eine junge Ukrainerin im Fernsehen gesehen. Die war völlig entgeistert über den „Genossen Putin“: „Wie kann er das denn tun? Wie kann das alles sein? Wir sind doch Brüder!“ Schwestern auch. Wirklich tragisch, dass Putin sich mit diesem Krieg so wahnsinnig ins Unrecht gesetzt hat.

Kann er über das – hoffentlich baldige – Kriegsende hinaus Verhandlungs- und Gesprächspartner für den Westen bleiben?
Was denn sonst? Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten über viele Kriege geschrieben. Darunter auch der Irak-Krieg 2001! Ich errinnere mich bestens: ein schwerer Bruch des Völkerrechts durch die USA und ihre Alliierten mit zehntausenden von Toten. Haben wir deswegen etwa nicht mehr mit George W. Bush gesprochen? Wir haben es ja nicht zum ersten Mal mit dem Gebaren einer Weltmacht zu tun, die glaubt, sich auf Kosten Schwächerer alles erlauben zu können – und in ihre Grenzen gewiesen werden muss.

Wenn Sie einen offenen Brief an Wolodymyr Selenskyi schreiben würden, was stünde drin?
Da stünde: „Herr Präsident, von mir aus könnten Sie weniger im Fernsehen auftreten und sich mehr um den Schmerz, um das Leid und die kritischen Stimmen in Ihrem Land kümmern.“ Fast noch mehr wäre ich allerdings versucht, Selenskyis Botschafter in Berlin zu schreiben, oder sollte ich sagen, seinem sogenannten Botschafter? Mir war nicht klar, dass ein Diplomat sich in seinem Gastland so aufführen darf, indem er alle, die nicht seiner Meinung sind, beleidigt und ihnen unterstellt, dass die Opfer sie kalt ließen. Dieses Maß an Selbstgerechtigkeit ist schwer erträglich.

Interessant, dass Sie das sagen. Für Selbstgerechtigkeit, heißt es, seien Sie auch selbst anfällig.
Mag sein. Aber ich habe in meinem Leben gelernt, dass man Kritik sortieren muss. Es gibt die berechtigte Kritik, die man ernst nehmen muss und von der man lernen kann. Und es gibt die nur auf persönliche Diffamierung angelegte Kritik. Gerade läuft es wieder in diese Richtung: „Frau Schwarzer, Sie vergessen die Opfer! Denken Sie an die vergewaltigten Frauen!“ Komisch: Ich bin noch nie zuvor so oft auf Vergewaltigung angesprochen worden wie zurzeit. Ausgerechnet! Als ob die Parteinahme für vergewaltigte Frauen nicht seit 50 Jahren mein Thema wäre – und seit über 40 Jahren schreibt EMMA über Vergewaltigung als Kriegswaffe.

Wie sehr hat dieser Krieg mit dem von Ihnen auch seit Jahrzehnten gegeißelten Machotum der Männer zu tun?
Sehr viel. Verletzte Männerehre ist gemeingefährlich, bei Ehemännern wie bei Präsidenten. Und die „toxische Männlichkeit“, wie man heute sagt, spielt auch hier auf beiden Seiten eine große Rolle. Von Putin kennen wir das zur Genüge. In einem Land, das bisher weder von der Frauenbewegung noch von der Schwulenbewegung spürbar tangiert worden ist, macht es immer noch was her, halbnackt auf Pferden zu reiten oder mit der Harpune auf Unterwasserjagd zu gehen. Das mögen wir bizarr finden, aber bei seinem eigenen Volk werden diese Männlichkeits-Rituale vermutlich goutiert. Doch auch Selenskyi füllt die Pose des Helden aus, der entschlossen ist, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Die Agentur, die ihn da berät, die ist wirklich Gold wert. Doch vielleicht wollen ja nicht alle Menschen in der Ukraine lieber sterben als zu verhandeln? Vielleicht auch nicht alle vom Präsidenten am ersten Kriegstag zwangsmobilisierten 18- bis 60-Jährigen, die das Land nicht mehr verlassen dürfen?

Sie nennen Putin und Selenskyi hier in einem Atemzug? Das könnte böses Blut geben!
Fakt ist: Ich sehe Selenskyi im olivgrünen T-Shirt mit muskelbepackten Oberarmen im TV mit dem immer gleichen Inhalt: Mehr Waffen! Ich habe von Selenskyi leider bisher noch kein Wort der Nachdenklichkeit gehört. Nur, dass der Krieg weitergehen muss – nicht, wie er beendet werden könnte.

Dann nehmen wir doch gleich noch ein paar „toxische Männer“ dazu. Was sagen Sie zu Gerhard Schröder?
Ich gebe zu: Ich habe Schröder zweimal gewählt. Danach hätte ich auch einen Hamster gewählt, nur nicht noch einmal so einen Macho von vorgestern.

Lägen die Dinge heute anders, wenn Angela Merkel noch Kanzlerin wäre?
Das ist nicht ausgeschlossen. Merkel hätte den Krieg vielleicht verhindern können. Ihr Ex-Militärberater Generaloberst Vad rät ja jetzt auch zu Verhandlungen. Und ihr Freund Dohnanyi nicht minder. Sie hätte vermutlich versucht, schon vor Monaten mit Putin zu reden.

Um was zu bewirken? Ein Wunder?
Nein. Nur das vielleicht noch bis Anfang des Jahres Machbare. Merkel spricht fließend Russisch, kommt aus dem für Russland stärker sensibilisierten Osten, kennt Putin seit Jahrzehnten. Und sie hat – bitteschön - 2014 ja schon einmal einen Krieg wie den jetzigen verhindert: Als Barack Obama im Krim-Konflikt Waffen liefern wollte, ist Merkel 48 Stunden lang pausenlos zwischen Minsk, Washington und Brüssel hin und her gejettet – und sie hat es geschafft, dass es nicht zu einer Eskalation kam. Mit Diplomatie! Mit Verhandeln, Verhandeln, Verhandeln!

Nochmal Männerehre: Am 15. Februar ist Scholz zu Putin gefahren. Der sagt ihm: „Krieg gegen die Ukraine? Kein Gedanke daran! Im Gegenteil: Rückzug der russischen Truppen aus dem Grenzgebiet.“ Und neun Tage später rollen die Panzer. Wie peinlich, wie verletzend war das denn für den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland!
Schofel, ganz schofel! Ehrlos! Völlig klar. Aber ich gestehe: Ich habe auch zu denjenigen gehört, die dachten: Alles Quatsch! Niemals marschiert Putin im Nachbarland ein. Dennoch habe ich bis heute nicht verstanden, warum das Wort „Putin-Versteher“ ein Schimpfwort sein soll. Gerade wenn man ihn als Gegner begreift, muss man ihn doch verstehen wollen, um etwas zu ändern. Auch jeder Fußballtrainer guckt doch: Was macht der von der Gegenmannschaft, um zu siegen?

Es geht dabei aber doch nicht um ein „Verstehen“ an sich, sondern um falsches Verständnis für etwas, was kein Verständnis verdient. Und es geht um die Folgen - etwa mit der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energielieferungen.
Gut, dass Sie darauf zu sprechen kommen! Meinen Sie wirklich, Alice Schwarzer freut sich darüber, dass Deutschland jetzt abhängig wird von autokratischen islamistischen Staaten?

Vermutlich das Gegenteil.
Wir wollen kein Gas mehr von Russland, also beziehen wir es lieber von Qatar? Das ist doch irre. Anscheinend macht der Westen in der Außenpolitik immer wieder dieselben Fehler. Beim Kampf gegen die (post)kommunistischen Gegner lässt man sich auf zweifelhafte Verbündete ein, ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen, siehe 9/11 – und die weltweiten katastrophalen Folgen des Gegenschlags. Über Qatar wird jetzt geschrieben: Die behandeln ihre Fremdarbeiter so schlecht. Stimmt. Aber Hallo!? War da nicht noch ein klitzekleines anderes Problem? Lebt dort nicht die Hälfte der Bevölkerung, nämlich die weibliche, unmündig, völlig entrechtet und willkürlicher Gewalt ausgeliefert? Zählen Frauen auch für uns überhaupt nicht mehr? Sind wir eigentlich blind geworden, dass wir das gar nicht sehen?

Also doch besser Lieferverträge mit Russland als Partner wie Qatar?
Vielleicht wäre Russland sogar das kleinere Übel. Es ist eben immer alles relativ. Zumal wir Putin mit Embargos und Lieferstopps am Ende gar nicht treffen. Er verkauft sein Öl und Gas dann halt woanders – und verbündet sich mit China. Es kann auch nicht in unserem Interesse als Europäer sein, Russland ganz zu verlieren.

Zwei Länder, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte stolz waren auf Neutralität und Blockfreiheit wollen jetzt in die Nato: Schweden und Finnland. Beide Länder werden zurzeit von Frauen regiert. Hat das eine Bedeutung?
In diesem Fall spielt das Geschlecht keine Rolle.

Ach, in dem Fall nicht?
Nein. Das Geschlecht ist nicht alles. Zwei weibliche Premiers - das ist ein historischer Zufall. Männliche Regierungschefs hätten in beiden Ländern vermutlich jetzt genauso reagiert wie Magdalena Andersson und Sanna Marin. Und ich verstehe sie. Finnland hat eine 1200 Kilometer lange Grenze mit Russland. Wäre ich finnische Präsidentin, würde ich dasselbe tun wie Marin und zusehen, dass mein Land unter den Schutzschirm der Nato kommt. Dennoch eskaliert das gleichzeitig den Konflikt mit Russland. Das hat Putin sich eingebrockt.

Wie sehen Sie Außenministerin Annalena Baerbock?
Sie macht das sehr respektabel. Dennoch würde ich mir ihren stärkeren Einsatz in der Diplomatie wünschen. Frontbesuche kann sie der Verteidigungsministerin überlassen.

Es ist schon auffallend, dass gerade die Grünen – trotz ihrer Herkunft aus der Friedensbewegung – jetzt am vehementesten für die militärische Unterstützung der Ukraine eintreten.
Das ist nicht neu. Deutschland ist 1999 im Kosovo auf Betreiben der Grünen erstmals nach 1945 wieder zur Kriegsmacht geworden – 54 Jahre nach Kriegsende. Sie erinnern sich: Joschka Fischer, seine „Nie wieder Auschwitz!“-Rede mit den hochgehaltenen Bildern aus dem Krisengebiet, die sich wenig später als manipuliert erwiesen haben. Wir haben offenbar ein sehr kurzes Gedächtnis.

Wie erklären Sie sich diese Rolle der Grünen?
Das Problem der Grünen ist: Seit es sie gibt, waren sie immer auf der „richtigen Seite“. Sie waren in allem „die Guten“: gegen Kernenergie, gegen Atomwaffen, für den Klimaschutz. Das hat ihren Habitus als Gutmenschen-Partei geprägt. Den pflegen ihre Spitzenpolitikerinnen und -politiker auch dann, wenn ihnen erkennbar die Erfahrung fehlt. Ich hatte jüngst eine TV-Diskussion mit Anton Hofreiter. Als ich anmerkte, der Ukraine-Krieg sei doch auch ein Stellvertreter-Krieg – zwischen den USA und Russland – hat er empört geantwortet, ich sei eine Verschwörungstheoretikerin. Wirklich erstaunlich. Dieser Mangel an Wissen und Durchblick bei einem Politiker. Wir haben in der politischen Argumentation jetzt ständig einen Wechsel zwischen der Ebene der Fakten und der Ebene der Befindlichkeiten. Ich bin die Letzte, die kein Verständnis für Emotionen hätte – gerade in Bezug auf die Opfer des Kriegs. Aber über dem Mitgefühl dürfen wir nicht vergessen, auch rational die Lage zu analysieren. Das nutzt den Opfern mindestens so viel wie Mitleid.

Das ist ein Vorwurf?
Vorwurf? Nein, eine kritische Feststellung: zu viel Befindlichkeit, zu wenig Analyse.

Der Ausgang der NRW-Wahl könnte Ihre These von den Grünen auf der politischen Dauer-Sonnenseite bestätigen.
Ja, ein wirklich beachtlicher Sieg. Das hat wohl auch damit zu tun, dass alle, die weder die konservative CDU noch die alte Tante SPD wählen wollen, quasi unweigerlich bei den Grünen landen. Bei uns in NRW tröstet mich ein bisschen, wie ich die Grünen-Spitzenkandidatin Mona Neubaur am Wahlabend erlebt habe.

Nämlich wie?
Eine gestandene Frau. Neubaur hat an diesem Wahlabend nicht den Fehler gemacht, den wir Frauen – ich sage bewusst wir – gerne machen: Wenn wir etwas Kluges sagen, schnell noch zweimal dümmlich lächeln, damit es uns niemand übelnimmt. Nein. Sie wirkte sachorientiert und nachdenklich.

Neubaur hat es schon beherzigt?
Man hat ihr angemerkt, dass sie überhaupt nicht mit der Außenwirkung und Selbstdarstellung beschäftigt war, sondern mit dem Versuch, mit diesem unerwarteten Sieg und der daraus folgenden Verantwortung umzugehen.

Erwarten Sie jetzt Schwarz-Grün in NRW?
Davon gehe ich aus.

Ein gutes Modell?
Ich wage mal eine These: Die SPD schielt ja immer so ein bisschen auf die Grünen als den vermeintlich moderneren, jüngeren Teil ihrer selbst. Das macht die SPD anfälliger als die CDU, auch pseudo-fortschrittliche Fehlentwicklungen bei den Grünen mitzutragen oder gar zu adaptieren – gerade in der Gesellschaftspolitik.

Woran denken Sie?
An die Identitätspolitik der Grünen zum Beispiel, den Gesetzesplan, dass schon 14-Jährige ihr Geschlecht wechseln können sollen, auch ohne Zustimmung der Eltern. Oder an die grüne Sexualpolitik: Dass für die Grünen die Prostitution „ein Beruf wie jeder andere“ ist. Von den Konservativen erhoffe ich, dass sie ihren Wertekanon fest im Blick haben. Der ist auch nicht unbedingt meiner. Aber sie könnten als Korrektiv wirken gegen nicht zu Ende gedachte Abenteuer der Grünen. Deswegen halte ich Schwarz-Grün in NRW für eine durchaus interessante Kombination.  

Das Gespräch führten Carsten Fiedler und Joachim Frank. Es erschien am 21. Mai im Kölner Stadtanzeiger.

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