Kleiner Unterschied - noch aktuell?

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Etwa zwanzig Jahre zuvor hatte ich in Griechenland eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht. Dort war Der kleine Unterschied, ganz wie in Spanien, Anfang der 80er Jahre eines der ersten feministischen Bücher gewesen, die nach dem Ende der rechten Diktaturen übersetzt worden waren. Nach einem Vortrag in Athen sprach mich eine Soziologin an und erzählte: „Auf Zypern treffen sich einmal in der Woche die Fischersfrauen und diskutieren über dein Buch. Ihr Code bei diesen Gesprächen lautet: Ich bin Fall 2 – oder Fall 5 – oder Fall 9...“

Als ich 1974 das Buch konzipierte, da habe ich alle 17 Fälle in der Tat so ausgewählt, dass eine Mehrheit der Frauen sich darin wiedererkennen konnte: in Bezug auf Alter, Bewusstsein, soziale Situation, sexuelle Identität usw. Der Kalkül ging auf. Der kleine Unterschied löste Mitte der siebziger Jahre in Deutschland eine Art kollektiven Aufschrei aus: der Zustimmung oder der Ablehnung, dazwischen gab es wenig. Die meisten Frauen (wenn auch nicht alle) waren dafür, die meisten Männer (wenn auch nicht alle) waren dagegen. Folge: die Hexenjagd auf die Überbringerin von der schlechten Nachricht von der Misere der Geschlechter, auf „Schwanz-ab-Schwarzer“.

Die internationale Rezeption des Kleinen Unterschiedes und Übersetzung in 13 Sprachen bestätigt meine politische Überzeugung, dass die scheinbar so individuellen „weiblichen Schicksale“ strukturell und universell sind. Sicher, es gibt Unterschiede zwischen Frauen, die gibt es schon innerhalb der 17 exemplarischen Fälle. Und es kann nicht darum gehen, diese Unterschiede zu glätten oder gar zu negieren; schon gar nicht von der privilegierten Position aus, in der wir Frauen im Herzen Europas uns heute befinden. Aber: Es gibt auch Gemeinsamkeiten – und die sind größer als die Unterschiede. Egal, wie arm oder reich, wie weiß oder schwarz, wie gebildet oder ungebildet eine Frau ist: Da, wo es um Liebe und Gewalt, Männer und Kinder geht, da sind alle Frauen in einer ähnlichen Lage. Die Indizien dafür sind überwältigend. So vermeldeten zum Beispiel vor einigen Jahren amerikanische ForscherInnen, dass die Träume weißer Amerikanerinnen und die australischer Aborigines-Frauen sich ähnlicher sind als die weißer amerikanischer Frauen und Männer.

Die Zuweisung der Geschlechterrollen ist universell, und auch ihre Folgen sind es. Darum muss auch der Feminismus universell sein. Vor dreißig Jahren trat in der westlichen Welt die Neue Frauenbewegung erneut in die Arena. Seither gibt es einen Fortschritt und einen Rückschritt zugleich, auch im Bereich von Liebe und Sexualität. Denn die Grundprobleme bestehen für Frauen weiterhin: der Zwang zur Wahl zwischen Freiheit und Liebe, zwischen Selbstbehauptung und Mitgefühl, zwischen Beruf und Familie. Und es verstärkt sich, dank Werbung und Medien, weltweit der Druck für Frauen, „sexy“ zu sein. Begehrenswert oder nicht? Das ist noch immer die Gretchenfrage. Doch ob eine Frau als begehrenswert gilt, das bestimmt weiterhin die Männerwelt. Und nichts macht Frauen in den Augen der Machos garstiger als Emanzipation.

Gleichzeitig klaffen die öffentliche Darstellung und das persönliche Leben von Frauen und Männern immer stärker auseinander: Gelebt wird zunehmend Gleichheit, dargestellt wird zunehmend Unterschiedlichkeit. Real ist heute jeder dritte Mann bereit, an der Seite seiner Freundin/Frau ein echter Partner zu sein. Gleichzeitig wird der kleine Unterschied wieder groß geredet. Die Mauern, die von der Frauenbewegung in den siebziger Jahren niedergerissen wurden – Das Private ist politisch! –, werden vor allem von den Medien Stein für Stein wieder hochgezogen. Und hinter ihnen verbirgt sich erneute Isolation und Vereinzelung. Liebe ist wieder Privatsache. Und als erstrebenswert gilt nicht objektive Gerechtigkeit, sondern subjektives Glück.

Wir erleben öffentlich eine umfassende Sexualisierung aller Lebensbereiche durch Werbung, Medien und Kultur; aber privat eine zunehmende sexuelle Zurückhaltung und die Flucht von Männern in den anonymen Sex. Gummipuppen sind eben geduldiger als lebendige Frauen. „Dabei ist das Symptom ‚Lustlosigkeit‘ vermutlich nur die klinifizierte Spitze eines erotischen Eisberges“, schreibt der Hamburger Sexualtherapeut Gunter Schmidt. Ironie der Geschichte: Klagten Frauen früher über zuviel Sex, klagen sie heute über zu wenig.

Schlittern wir also auf eine sexuelle Eiszeit zu? Ganz so schlimm wird es nicht werden, aber es ist spürbar kühler geworden. An den Frauen liegt das nicht, die haben eher mehr Lust als früher. Sie spielen nur bei Unlust keine Lust mehr vor. Und sie sind auch nicht länger bereit, jeden Preis für Zärtlichkeit zu zahlen.

Es waren wir Frauen, die die gute alte Oben-unten-Weltordnung aufkündigten, öffentlich wie privat. Männer müssen lernen, den Frauen in die Augen zu sehen. Und das fällt so manchem nicht immer leicht. Und die Angst vor der körperlichen Potenz der Frauen erhöht die Verunsicherung des Mannes, der sich so lange im alleinigen Besitz des Phallus wähnen konnte. Die amerikanische Sexualforscherin Mary Anne Sherfey hatte schon 1973 in Die Potenz der Frau akribisch bewiesen, dass der männliche und der weibliche Körper bis hin in die Sexualorgane gleich gebaut sind und dem männlichen Penis die Klitoris entspricht, die sich bei Erregung durch Blutstau nicht minder versteift.

Es sollte noch ein Vierteljahrhundert dauern, bis Der Spiegel im Februar 2002 in einer Titelgeschichte über „Die Chemie der Lust“ ähnliches zu vermelden wusste: 1999 hatte die australische Chirurgin Helene O'Connell zehn weibliche Leichen seziert und die inneren Ausmaße der weiblichen Sexualorgane dokumentiert. Ergebnis: »Der Schwellkörperanteil ist sogar größer als beim Mann« (O'Connell). Die zwei Fortsätze der Klitoris reichen bis zu neun Zentimeter in die Tiefe des weiblichen Körpers, verbunden durch zwei weitere zwiebelförmige Schwellkörper, die sich an die Vorderwand der Vagina schmiegen.

Sind also Frauen das potentere Geschlecht? Körperlich ja, seelisch jedoch scheinen sie komplizierter als Männer. Das sexuelle Zentrum liegt bei beiden Geschlechtern ja nicht in der Klitoris/dem Penis - sondern im Kopf. Und wie eng das Begehren der Frauen mit dem Leben der Frauen zusammenhängt, das zeigen nicht nur neuere wissenschaftliche Untersuchungen, das haben wir Feministinnen schon in den 70ern bewiesen.

Bei dem Männern ist es nicht anders. Auch ihnen kann die Lust vergehen. Starken Frauen ist der sexuelle Entzug von Männern zum Beispiel als "strafe" für zu viel Emanzipation schon seit längerem ein bekanntes Phänomen. Eigentlich ist eine solche sexuelle Verweigerung ja ein traditionell weibliches Mittel im Clinch der Geschlechter. Es ist vielleicht darum keineswegs nur negativ, dass jetzt auch Männer danach greifen. Vor der Neuorientierung steht eben Irritation und Besinnung.

In der Sexualforschung ist inzwischen von einem neuen „Sexualkodex“, einer „Konsensmoral“ die Rede. „Der sexuelle Umgang wird friedlicher, kommunikativer, berechenbarer, rationaler und verhandelbarer“, sagt Gunter Schmidt, eben „herrschaftsfreier“. Dabei scheint sich der heute 63-jährige Sexualforscher noch nicht so recht entscheiden zu können, ob er das gut finden soll oder nicht. Nur eines ist auch für ihn klar: Es war die „feministische Debatte“, die das alles ins Rollen gebracht hat.

In der Tat. Und die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Es ist selbstverständlich alles andere als ein Zufall, dass ab Mitte der 70er Pornografie verstärkt propagiert und salonfähig wurde. Pornografie propagiert die Verknüpfung von Lust an Erniedrigung und Gewalt mit Lust auf Sex und zerstört so nicht nur ihre Opfer, die Kinder und Frauen, sie tötet auch die Erotik.

In einer Zeit, in der die Geschlechterhierarchie ins Wanken gerät, scheint es nötig, dass wenigstens in der Sexualität der Mann noch ein „Herr“ und die Frau noch eine „Sklavin“ ist – oder auch die vom Mann bestellte und bezahlte „Herrin“ auf Zeit, solange es ihm gefällt. Angeblich ist sexueller Sadomasochismus bei jungen Leuten heute „total in“. Aber stimmt das wirklich? Umfragen und Forschungen geben ein ganz anderes Bild. So gaben bei einer Umfrage von Psychologie heute im Sommer 2000 nur ein Prozent aller Männer und Frauen an, sadomasochistische Praktiken in der Sexualität zu haben. Und in dem Kinsey-Nachfolge-Report von 1996 sagt gar nur eine von 1000 jungen Amerikanerinnen, sie fände es „reizvoll“, zum Sex gezwungen zu werden. Der angebliche Trend zum Sadomasochismus scheint also eher Propaganda als Realität. Zumindest bei Frauen.

Bei einem Tel der Männer allerdings zeichnet sich durchaus ein sadistischer Trend ab. Seit Jahren klagen professionelle Prostituierte zunehmend darüber, dass vor allem die jungen Freier immer brutaler werden. War SM früher ein Special, so werden heute von quasi jeder Prostituierten Sadomaso-Praktiken erwartet – und die Freier wollen dabei immer die Sadisten sein.

Die Entwicklung des Verhältnisses der Geschlechter ist heute Fortschritt und Rückschritt zugleich, auch in der Sexualität. Ein Teil der sexuellen Beziehungen wird gleicher, ein Teil noch ungleicher.

aus "Alice im Männerland - eine Zwischenbilanz" (Kiepenheuer & Witsch, 2002).

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