Eine stolze Bilanz

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Ich schreibe diese Zeilen an einem lichten Dezembertag des bald vergangenen Jahrtausends. Fern aller Milleniums-Euphorie und -Hysterie kann auch ich mich nicht ganz der Versuchung entziehen, Bilanz zu ziehen. Was haben wir Frauen erreicht? Und was erwartet uns?

Wir haben unerhört viel erreicht! Innerhalb einer einzigen Generation hat es eine Revolution in den Köpfen gegeben. Die Hälfte der Welt für uns, die Hälfte des Hauses für die Männer - dieser Anspruch wäre noch vor 30 Jahren eine Lachnummer gewesen. Stimmt, er ist auch noch lange nicht Realität - aber wir werden für die Forderung nicht länger verlacht.

Und die Post-Frauenbewegungs-Generation setzt mit großen Schritten nach. Die viel zitierten jungen Frauen, die angeblich so unpolitisch und rückschrittlich sind, denken in Wahrheit fortschrittlicher als ihre Mütter. Bei einer aktuellen Umfrage reagierten 70 Prozent der 16- bis 29jährigen "spontan positiv" auf die Emanzipation - und 52 Prozent sagen sogar Ja zu dem viel geschmähten Feminismus.

Sicher, die jungen Frauen sind weniger kämpferisch. Aber warum sollten sie auch gleich wieder kämpfen? Sie wollen die neuen Freiheiten erst einmal einfach genießen. Und sie ahnen (noch) nicht, dass auch bereits Erreichtes wieder zurückgenommen werden kann. Doch sie werden es rascher lernen, als es uns lieb sein kann.

Denn die wachsenden Widerstände gegen die Emanzipation der Frauen - von der Propagierung des sexualisierten Frauenhasses durch die Pornografie bis hin zur völligen Entrechtung der Frauen im Kreuzzug der "Gotteskrieger" - sind eine direkte Reaktion auf den aufrechten Gang der Frauen. 5000 Jahre Patriarchat lassen sich eben nicht so einfach abschaffen. Und wie bei jedem Machtverhältnis ist auch bei dem der Geschlechter die Gewalt der harte Kern der Herrschaftssicherung. Das ist in Diktaturen so, zwischen Völkern oder Klassen - wie auch zwischen Männern und Frauen.

Am friedlichsten ist das Zusammenleben der Geschlechter bezeichnenderweise in Gesellschaften, in denen das Verhältnis zwischen Männern und Frauen maximal gleich - oder maximal ungleich ist. Am höchsten eskaliert die (Sexual)Gewalt immer in Zeiten, in denen das (Ungleich)Verhältnis zwischen den Geschlechtern erschüttert wird. In einer solchen Zeit leben wir.

Zwischen der Salonfähigkeit von Pornografie und der Undurchdringlichkeit der "gläsernen Decke", die Frauen nicht in die oberen Etagen von Karriere und Macht durchlässt, gibt es einen direkten Zusammenhang. Denn der pornografisierte Blick - die Verknüpfung von Begehren mit Erniedrigung und Gewalt in der männlichen Phantasie - bleibt ja nicht vor dem Hörsaal oder dem Büro. Die Frau, die in der Phantasie von Freund, Chef oder Untergebenem jederzeit in ein wimmerndes Objekt verwandelt werden kann, kann natürlich nicht ernst genommen werden - und ist selbstverständlich auch weniger wert. In jeder Beziehung.

Nach 20 Jahren recht einsamen Kampfes gegen diese Entwicklung sehen wir Feministinnen unsere Warnungen aufs Dramatischste bestätigt. Die Saat der Propagierung von Menschenverachtung und Sexualgewalt geht auf. Freier, die nur noch auf sadomasochistische Praktiken stehen. Vergewaltiger, die sich einen Gruppenspaß daraus machen. Schüler, die auf ihre Mitschülerinnen ballern und ihre Lehrerinnen erstechen. Nette Familienväter, die auf dem Nachhauseweg Mädchen zerstückeln. Das ist der Stoßtrupp der Reaktion. Seine Munition ist die Pornografie.

Gleichzeitig aber gibt es einen wachsenden Stolz bei den neuen Frauen - und ein wachsendes Verständnis bei den neuen Männern. Jeder dritte junge Mann ist für die Frauenemanzipation und jeder vierte findet sogar den Feminismus gut. Das sind die Gefährten, mit denen Frauen eine Zukunft haben.

Doch werden die neuen Männer ihr Versprechen wirklich wahrmachen und auf liebgewordene Privilegien verzichten? Und werden die neuen Frauen die zu erwartenden Widerstände und den drohenden Liebesverlust aushalten? Werden beide sich nicht verunsichern und einschüchtern lassen von der Wucht der Reaktion?

Wie auch immer. Der Fortschritt ist nicht mehr aufzuhalten. Das Problem ist nur, dass wir es mit einem Fortschritt und Rückschritt zugleich zu tun haben. Beides ist übrigens keineswegs in den klassischen politischen Lagern angesiedelt. So ist so mancher Konservative besorgter über die steigende Sexualgewalt als so mancher Linke, der den Kampf gegen Pornografie als "prüde" und "Zensur" abtut. Und auch der Blick auf den im Weltmaßstab drohenden neuen Faschismus, den Kreuzzug des islamischen Fundamentalismus, ist links noch blinder als rechts.

Die Männer scheinen sich heute, 30 Jahre nach dem (Wieder)Aufbruch der Frauenbewegung, in zwei Hälften zu teilen: die eine Hälfte ist mehr oder weniger für uns, die andere mehr oder weniger gegen uns. Den harten Kern unserer Gegner können wir nicht überzeugen, ihn können wir nur schachmatt setzen. Den harten Kern unserer Freunde können wir bestärken. Und die schwankende Mehrheit werden wir weniger durch große Töne, gutes Zureden oder Bittebittemachen gewinnen, sondern eher durch gelebte Vorbilder: starke Frauen und menschliche Männer.

Es gibt heute Männer (und vor allem Frauen), die den Feminismus aufteilen in einen Funfeminismus und einen Opferfeminismus. Fun sind sie, Opfer sind wir. Das sind die, die die präfeministischen Verhältnisse, die von vor der Frauenbewegung, wieder herstellen wollen. Verhältnisse, in denen mißbrauchte Mädchen sich schämten und schwiegen. Verhältnisse, in denen geschlagene Frauen glaubten, sie seien die einzigen, denen so was passiert; Verhältnisse, in denen doppelbelastete Frauen mit schlechtem Gewissen versuchten, allein mit Kindern und Küche fertig zu werden; Verhältnisse, in denen die Männer nach ihrem Gusto die Frauen zu teilen pflegten in "begehrt" und "nicht begehrt" (je nach Bequemlichkeitsgrad); Verhältnisse, in denen die wenigen erfolgreichen Frauen stolz darauf waren, Ausnahme- und Alibifrauen zu sein; Verhältnisse, in denen Männern die Welt gehörte und den Frauen das Haus.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Wir Frauen wissen um unsere Ohnmacht, aber wir wissen auch um unsere Macht. Wir wissen um unsere Verletzungen, aber wir wissen auch um unsere Stärken. Wir lassen uns nicht länger in Objekt und Subjekt spalten. Wir fügen beide Hälften zusammen: zu ganzen Menschen.

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