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Trauerrede für Margarete Mitscherlich

Margarete Mitscherlich. - © Bettina Flitner
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Margarete Mitscherlich-Nielsen ist am 12. Juni im Alter von 94 Jahren, aber dennoch überraschend gestorben. Sicher, sie war realistisch genug, mit dem Tod zu rechnen. „Jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe, rechne ich damit, morgens nicht mehr aufzuwachen.“ Das pflegte sie in den letzten Jahren öfter zu sagen. Aber sie hatte Pläne. Für ein nächstes Buch zum Beispiel. Darin sollte es um das ihr so vertraute, eternelle Thema Liebe gehen. Doch dann ging alles auf einmal ganz plötzlich.

„Wenn man tot ist, ist man weg“, hatte sie in der ihr eigenen Anti-Kitsch-Diktion noch jüngst erklärt. Ja, sie ist weg. Doch für uns, die wir sie lieben, bleibt sie da. Mit Kopf und Körper. Wie unbändig sie lachten konnte... Wie sie, wenn sie nachdachte, die Hände hinter dem Kopf verschränkte und den Blick ins Irgendwo schweifen ließ... Wie sie, wenn sie eines Themas müde war, einfach sagte: Undsoweiterundsoweiter und zum nächsten hüpfte...

Sie bleibt da. Nicht nur, weil sie eine große Persönlichkeit war, deren Werk lebendig bleiben und weiterwirken wird. Sondern auch, weil sie mit ihrer Einfühlsamkeit, ihrer Lebenslust und ihrem Charme ein ganz besonderer Mensch war. Nein, Margarete hat sich nie einschränken lassen. Sie hat sich weder verstümmeln noch teilen lassen. Dieser Wildfang in Frauenhaut hat lebenslang auf Kopf und Herz bestanden, auf Natur und Politik, auf Liebe und Beruf.

Ihre Ganzheitlichkeit und damit Unangepasstheit, das war es wohl, was viele so mitgerissen - aber manche auch provoziert hat.

Es gab im Leben von Margarete nach ihren eigenen Worten zwei große Aha-Effekte: die Begegnung mit der Psychoanalyse und die mit dem Feminismus. Beide haben nicht nur sie geprägt, sondern beide hat auch sie geprägt. Die Psychoanalyse bedeutete für Margarete das „Streben nach Wissen, Erkenntnis und Glück“. Und der Feminismus, der ihr quasi in die Wiege gelegt worden war, stand für ihre selbstverständliche Erwartung der Gerechtigkeit und Chancengleichheit auch für Frauen. Sicher, sie kannte den real existierenden Unterschied zwischen den Geschlechtern nur zu gut. Aber der war für sie nicht angeboren, sondern gemacht. Was ihren Widerspruch provozieren musste. „Mein Lebensziel war und ist die Befreiung von Denktabus, Vorurteilen und Ideologien“, hat sie einmal gesagt – und damit ernst gemacht.

Unter welchen Bedingungen kann so ein Mensch wachsen? Margarete Nielsen wird am 17. Juli 1917 im deutsch/dänischen Grenzgebiet geboren. Als sie auf die Welt kommt, ist ihr Heimatort noch deutsch und heißt Gravenstein, vier Jahre später wird er dänisch und heißt Gråsten. Doch die Grenze verläuft weiterhin mitten durch ihre Familie. Die Mutter, eine resolute Schuldirektorin, ist deutsch-national gesinnt.
Sind dänische Nationalfeiertage angesagt, bekommt sie Migräne und verdämmert den Tag hinter zugezogenen Gardinen. Und sie hisst frohgemut die Flagge, sobald es eines deutschen Tages zu gedenken gibt. Der Vater hingegen, ein sanftmütiger Landarzt, ist ein nationalbewusster Däne. Doch duldet er diese Art von Demonstrationen seiner geliebten Frau.

Die kleine Margarete orientiert sich an der Mutter. Ihr Herz schlägt deutsch, ihr Alltag ist dänisch. So hat sie lebenslang vergnügt die Geschichte vom dänischen König erzählt, der Fahrrad fuhr und den sie als junges Mädchen mal am Briefkasten getroffen hatte. König? Na und! Hierarchien bleiben ihr lebenslang verhasst. Sie ist zutiefst antiautoritär, lange bevor das Wort erfunden wird.

Als Kind ist Margarete ein Tomboy, also ein eher jungenhaftes Mädchen, das auf Bäume klettert und erklärt: „Ich will Kinder – aber heiraten werde ich nie!“ Es sollte dann anders kommen, wie wir wissen. Die Schule mit ihren festen Zeiten und Disziplinarvorschriften ist ihr ein Gräuel. Also unterrichtet die Mutter ihren Wildfang zunächst ein paar Jahre lang zuhause. Was nicht gerade zu Margaretes Zähmung beigetragen haben wird.

Ihren Vater entdeckt Margarete erst spät. Eigentlich erst wenige Jahre vor ihrem Tod, als ihr ein Packen seiner Liebesbriefe an seine so geliebte Frau in die Hände fällt. Die rühren sie sehr und nähren ihren Verdacht: „Vielleicht war er der Einfühlsamere, Sensiblere von beiden.“ Die Mutter war auf jeden Fall die Tatkräftigere... Sie war eine geborene Leopold und ihre Mutter eine geborene Freudenthal. Ihr Vater hatte ein Pelzgeschäft. Margarete ging davon aus, dass ihre Mutter jüdischer Herkunft war, die Familie dies aber verschleiert hatte, um sich den zu erwartenden Ärger zu ersparen.

Die Ehe ihrer Eltern war für den Witwer mit vier Kindern eine Liebesheirat – für seine zweite Frau jedoch eine Vernunftehe. Die trauerte einem früh verstorbenen, lebenslang idealisierten Verlobten nach und frequentierte weiterhin eifrig ihre frauenrechtlerisch engagierten Freundinnen. Was aber ging wirklich vor in ihr? „Ich bin Psychoanalytikerin geworden, um meine Mutter zu verstehen“, hat Margarete einmal gesagt. Und hinzugefügt: „Ich wollte meine Mutter glücklich machen.“

Auf Geheiß der Mutter geht Margarete in Flensburg auf ein Mädchenlyceum, wo sie sich prompt in die nächste "Mutter" verliebt: in ihre Lehrerin. Alle ihre Freundinnen schwärmen für diese Lehrerin. Sie ist „gar nicht schön, sie war dick und watschelte“, aber sie bringt den Mädchen die Leidenschaft für die Literatur und ein kritisches Denken nahe. Von dieser Lehrerin hat Margarete in den letzten Lebensjahren immer wieder gesprochen. Auch ihr scheint sie lebenslang nachsinniert zu haben.

Kein Zweifel, Margarete erhält von ihren Müttern drei „Aufträge“, wie es in der Psychologie heißt: 1. Verstehe mich! 2. Liebe Deutschland! 3. Sei emanzipiert! Alle drei Aufträge hat sie erfüllt. Und wie! Doch noch ist sie auf der Suche.

Sie wird in Heidelberg studieren. Zunächst Literatur, dann Medizin, weil ihr das Fach weniger ideologielastig schien, hat sie immer erklärt. Vielleicht aber auch, weil der Vater Arzt war? Margarete verkehrt in einem Kreis von Kommilitonen, denen die Nazis verhasst sind und die Radio London hören. „Ich habe die Kristallnacht erlebt“, erzählte sie. „Wir wussten auch, dass Geisteskranke umgebracht wurden. Und wir wussten von den Vergasungen. Aber wir ahnten nicht das Ausmaß…“

Kurz vor Kriegsende kehrt Margarete Nielsen nach Dänemark zurück, erlebt eine erste, unglücklich verlaufende Liebe und geht als junge Ärztin 1946 ins Tessin, an eine anthroposophische Klinik. 1947 begegnet ihr das Schicksal in Gestalt von Alexander Mitscherlich. Der ist verheiratet und hat sechs Kinder. Die beiden verlieben sich dennoch. 1948 wird Margarete schwanger. „Ich hätte abtreiben können, alles war vorbereitet. Aber ich habe mich dafür entschieden, das Kind zu bekommen“, sagte sie im Rückblick. Und fügte entschlossen hinzu: „Das war die richtigste Entscheidung meines Lebens!“

Die 31-Jährige bekommt das Kind allein in Konstanz, unterstützt nur von einer Freundin. Auf dem Standesamt gibt sie den Namen des Vaters nicht an. Die Lebensbedingungen sind hart und ein uneheliches Kind ist damals in Deutschland noch eine große Schande. In Dänemark sieht man das zum Glück lockerer. Margarete und Alexander werden erst 1955 heiraten, da ist ihr gemeinsamer Sohn Matthias schon sechs Jahre alt.

Ab Anfang der 50er Jahre arbeiten Margarete und Alexander zusammen. Er leitet in Heidelberg die von ihm gegründete Psychosomatische Klinik, an der nun auch sie als Ärztin tätig ist. Sein Interesse ist sozialpsychologischer Natur, ihres zunächst vor allem individualpsychologischer. Das ergänzt sich. In den ersten Jahren in Heidelberg sind sie noch nicht verheiratet und müssen ihre Beziehung verheimlichen. Was sehr demütigend ist, vor allem für Margarete.

Beide sind auf ihre Art Rebellen. Er, der Großbürger und Arzt, hatte 1949 "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" veröffentlicht. Darin prangerte er die Kollaboration der Ärzte mit den Nazi-Folterern an – und katapultierte sich so mit einem Schlag aus der eigenen Kaste. Sie war ledige Mutter und promovierte Ärztin, beides nicht selbstverständlich für eine Frau in dieser Zeit.

1959 geht Margarete zusammen mit Alexander für ein Jahr nach London, um sich zur Psychoanalytikerin auszubilden. Sie macht, nach zwei Anläufen in Deutschland, ihre Lehranalyse in London bei Michael Balint. Und sie lernt sie alle, alle kennen, die von den Nazis Vertriebenen: Anna Freud, Melanie Klein, Margret Mahler… Eine aufregende, eine inspirierende Zeit.

Matthias ist in dieser frühen Heidelberger Zeit vier Jahre lang bei Margaretes Mutter und in der Familie ihres Halbbruders in Dänemark. Er ist das uneheliche Kind eines illegitimen Paares, dessen Vater nicht nur noch mit einer anderen verheiratet ist, sondern auch der Vorgesetzte dieser Frau, die ein Kind von ihm hat. Es hätte beide ihre Stelle kosten können...

Matthias, du weißt nur zu gut, dass deine Mutter noch lange ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie dich zu ihrer Familie gegeben hatte. So sind sie, die Mütter. Und du hast als junger Mann dieses schlechte Gewissen so manches Mal auch noch geschürt. So sind sie, die Kinder.

Aber das konnte eure Liebe zueinander nicht ernsthaft trüben. Und sie, die so Emanzipierte – weil leidenschaftlich berufstätig und der Welt zugewandt – sie war in den letzten 20 Jahren sehr, sehr glücklich darüber, dass ihr, du und Milli, ein anderes Modell gewählt hattet. So konnte Margarete jubelnd vier Enkelkinder und zwei Urenkel begrüßen. Und jedes jeweils Neugeborene war immer wieder das Schönste und Klügste. Zuletzt die inzwischen zweieinhalbjährige Pina, von der sie mir bei meinem letzten Besuch im Mai mit unverblümtem Stolz einen Stapel von Fotos hingeblättert hat.

Doch zurück zu Margaretes Lauf des Lebens. 1960 gründen Alexander und Margarete Mitscherlich das Freud-Institut und ziehen 1967 nach Frankfurt. Margarete wird Leiterin des Unterrichtsausschusses der Psychoanalytischen Gesellschaft. Jetzt praktiziert sie nicht nur, sondern lehrt auch. In dieser Funktion wird sie Generationen von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern in Deutschland prägen.
Als Analytikerin ist und bleibt sie Freudianerin. Freuds unübersehbarer Phallozentrismus ist für sie kulturbedingt. Doch kritisiert sie sein Konzept von Weiblichkeit und Sexualität und steht damit in der Tradition der ersten Freud-Rebellin, Karen Horney. Und sie entwickelt die analytische Theorie weiter. Sie analysiert das Zusammenspiel der inneren (verinnerlichten) und äußeren (gesellschaftlichen) Hürden, vor allem bei den Frauen.

In Frankfurt schließen die Mitscherlichs nun Freundschaft mit den Vätern der Frankfurter Schule, mit Adorno und Horkheimer. Und auch Habermas stößt dazu. 1963 veröffentlicht Alexander Mitscherlich unter seinem Namen den Bestseller „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, an dem Margarete maßgeblich mitgearbeitet hatte. 1967 folgt „Die Unfähigkeit zu trauern“, diesmal und erstmals unter dem Namen beider. Es geht darin um die Folgen der Nichtverarbeitung von Schuld. Und wie die Naziideologie, dieses Schwarz/Weiß-Denken und Abwerten des „Anderen“, bis ins Innerste der Menschen gekrochen war und in ihnen fortlebte. Der Titelaufsatz war maßgeblich von ihr geprägt, der deutschen Dänin, die dazugehörte und zugleich daneben stand. Eine solche Distanz schärfte den Blick. Margarete hat einfach mehr gesehen als die meisten.

Auch für die 68er war dieses Buch über eine „deutsche Art zu lieben“ ein entscheidender, wenn auch nicht zuende gedachter Impuls. Und die Mitscherlichs? Die sympathisierten zwar mit den 68ern, gleichzeitig aber waren sie ihnen unheimlich. Denn genau das, was sie analysiert hatten, wurde nun reproduziert. Vor allem Margarete fühlt sich von dem Freund/Feind-Denken der Genossen und deren Selbstgerechtigkeit (Im Namen der gerechten Sache ist alles erlaubt) fatal an die gehorsamen Väter & Mütter dieser protestierenden Söhne & Töchter erinnert. Vom Sexismus der 68er und ihrem obsessiven Protest gegen das „imperialistische Israel“ ganz zu schweigen. Das muss in der Zeit Thema gewesen sein in Margaretes Analysestunden mit KZ-Überlebenden und deren Kindern.

Anfang der 70er Jahre gehen die Mitscherlichs für ein Jahr nach Palo Alto. Dort begegnet Margarete dem neuen Feminismus – den alten kannte sie ja schon, dank ihrer Mutter und deren emanzipierten Freundinnen. 1972 veröffentlicht sie ihr erstes Buch unter eigenem Namen: „Müssen wir hassen?“, eine kenntnisreiche und lebenskluge Einführung in die Psychoanalyse. Empathiefähigkeit sowie Bereitschaft zum Verzicht auf Machtausübung seien die beiden Grundvoraussetzungen für einen guten Analytiker, schreibt sie. Beides erfüllte sie selber in höchstem Maße.

Und übrigens: Auf die Frage „Müssen wir hassen?“ antwortete Margarete manchmal durchaus mit einem entschiedenen: Ja! Sie war keineswegs die „friedfertige Frau“, die sie in ihrem 1985 erschienenen Bestseller als gesellschaftlich erzwungen und unterschwellig aggressiv analysiert hatte.

Wir begegnen uns 1974 zum ersten und im Herbst 1975 zum zweiten Mal. Es ist Sympathie auf den ersten Blick, gegenseitig. 1975, nach dem Erscheinen vom „Kleinen Unterschied“, hatte das TV-Magazin TTT ein Gespräch zwischen uns in der Wohnung der Mitscherlichs arrangiert. Dabei war man wohl davon ausgegangen, dass die Analytikerin mich in der Luft zerreißen würde. Denn erstens hatte ich mit dem Buch auf ihrem Terrain gewildert. Und zweitens hatte ich – so ganz en passant – sowohl ihrem verehrten Lehranalytiker Balint wie auch ihrem geliebten Ehemann Alexander vors Schienbein getreten.

Doch siehe da. Margarete saß da, strahlte mich an und erklärte: „Ich bin ganz und gar Ihrer Meinung!“ Die Irritation war groß. Nicht nur beim Team, auch bei Alexander, der im Hintergrund hin und hertigerte. Mit steigendem Unbehagen sah er seine eigene Frau so fröhlich und einvernehmlich schwatzen mit dieser militanten Feministin. Ein Unbehagen, das er leider nie mehr verlieren würde – was unserer innigen Freundschaft jedoch keinen Abbruch tat.

1977 veröffentlicht Margarete in der ersten Ausgabe von EMMA ihr spektakuläres Bekenntnis: „Ich bin Feministin.“ Na, da war was los! Jetzt auch noch die! Margarete Mitscherlich ist weltweit die erste Analytikerin von Rang, die sich offen zum Feminismus bekennt (Was in Deutschland bis heute für eine Wissenschaftlerin quasi undenkbar ist – aber zum Beispiel in Amerika längst selbstverständlich). Die Provokation war Margarete durchaus bewusst. Mehr noch: Sie war beabsichtigt. Für sie war es, wie sie einmal gesagt hat, ein „richtiger Befreiungsschlag“.

Eine wie Margarete konnte sich eben einfach nicht wohl fühlen im Establishment. Aber exakt da war sie inzwischen gelandet: im intellektuellen Establishment, das in der Zeit den Ton angab. Also katapultierte sie sich mit einem Schlag wieder raus – ganz wie einst Alexander aus seiner Kaste. Der Skandal des Feminismus – und eben auch der Freundschaft mit mir – hängt der „grande Dame der Psychoanalyse“ bis heute nach. Und er schlägt sich gerade mal wieder in so manchem Nachruf nörgelnd nieder. Musste sie denn auch noch Feministin sein? Musste sie sich denn immer einmischen? Konnte sie nicht endlich mal Ruhe geben? Nein, sie konnte nicht.

Ein so unangepasster, kreativer und mitfühlender Mensch wie Margarete Mitscherlich hat alle Angepassten sowie Bürokraten und Bürokratinnen ganz einfach zum natürlichen Feind. Die Rechnung dafür wurde ihr präsentiert nach dem so frühen Tod von Alexander, 1982. Es folgte, wie sie selber konstatierte, eine „wahre Witwenverbrennung“.

Die Jagd auf die Unangepasste, die längst auch die Verbürokratisierung und Verschulung des eigenen Berufsstandes offen kritisierte, war eröffnet. Jetzt wird nicht nur mit ihr abgerechnet, sondern indirekt auch mit Alexander, den man nicht gewagt hatte anzugreifen.

Margarete Mitscherlich gleitet in dieser Zeit in ein tiefes Loch, aus dem sie nur mit Mühe wieder herausfindet. Der Verlust des so zärtlich wie spöttischen geliebten Gefährten plus der Ächtung aus den eigenen Reihen – das war einfach zu viel. Doch irgendwann ist sie wieder da: strahlend und lebendig wie zuvor.

Ja, sie konnte heftig sein. Ja, sie konnte auch ungerecht sein. Aber: Sie war immer mutig. Und jederzeit bereit, Fehler einzugestehen. Vor allem: Sie war ganz und gar unrepressiv. In den fast 40 Jahren, in denen wir befreundet waren, habe ich nicht einmal erlebt, dass sie ihre Macht als Analytikerin ausgespielt oder gar missbraucht hätte, mich oder andere interpretiert oder manipuliert. Hat man sie doch mal als Expertin nutzen wollen und gefragt: Margarete, ich habe so was Bizarres geträumt – was soll das bedeuten?, dann hat sie gelacht und gesagt: Das musst du schon selber wissen! Sie war eine Aufklärerin durch und durch.

Es gibt eine Episode, die ich mit ihr erlebt habe und die mir so charakteristisch scheint, dass ich sie Ihnen nicht vorenthalten will. Wir schreiben das Jahr 1985 und machen zu sechs Frauen eine Chinareise, auf der Frauenschiene. In Peking, Shanghai oder Kanton – überall empfangen uns am Gate oder auf dem Bahnsteig die örtlichen Frauendelegationen, allesamt Parteikader. Die stürzen auf Margarete zu, die eindeutig Älteste in unserer Gruppe, und das Ritual beginnt: Ehre, Sie kennenzulernen… Begegnung der Völker… Solidarität der Frauen der Welt… Voneinander lernen… Undsoweiterundsoweiter. Nach dem dritten Mal erklärt Margarete: „Ich mach das nicht mehr!“ Ich verstehe sofort, worauf das rausläuft und sage: „Was soll das heißen, Margarete?“ – „Ich mach das nicht mehr!“ – „Aber du weißt schon, dass du es machen musst? Denn du bist, mit Verlaub, die Älteste unter uns.“ – „Egal, ich mach das nicht mehr!“ – „Und wer soll es machen?“ – „Du!“

Dabei bleibt es. Und wenn jetzt die Delegationen auf Margarete zustürzen, schiebe ich mich vor und nehme, zur Irritation unserer chinesischen Schwestern, ihren Platz ein. So weit, so problematisch. Aber Margarete - der es nach ein paar Tagen gründlich reicht mit den erstarrten, autoritätshörigen Chinesen - kennt da noch eine Steigerung. Sie schiebt sich mit der zweiten Anarchistin in unserer Gruppe, Franziska, immer wieder mal hinter die Reihen der Chinesinnen und macht – während wir routiniert die Solidarität der Frauen der Welt beschwören – Grimassen. „Ich wollte nie so langweilig erwachsen werden“, hat Margarete mal gesagt. Ich kann bestätigen, dass ihr das gelungen ist.

Sie alle wissen, dass Margarete Mitscherlich bis zuletzt geschrieben und Interviews gegeben hat – und bis fast zum Ende auch Patienten behandelt oder verzweifelten Ex-Patienten beigestanden hat. In ihren letzten Lebensjahren machten der so Bewegungssüchtigen allerdings die körperlichen Einschränkungen zu schaffen. Ihre geistige Beweglichkeit jedoch blieb ihr bis zuletzt erhalten. Und sie hatte Glück: Ihre so großzügige, helle, moderne Wohnung im Herzen des Westends war einfach ideal für eine, die nicht mehr allein in die Welt gehen konnte.

Am Morgen des 12. Juni ist Margarete Mitscherlich gestorben. Ohne Schmerzen und im Kreis ihrer Familie, so wie sie es sich gewünscht hatte.

Alice Schwarzer

Alice Schwarzer hielt die Trauerrede am 27. Juni in Frankfurt. Sie erschien am 30. Juni in der Frankfurter Allgemeine Zeitung.
 

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100 Jahre Margarete Mitscherlich

Margarete Mitscherlich im Mai 2010. Foto © Bettina Flitner
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Die 1917 in Dänemark geborene Tochter einer deutschen Lehrerin und eines dänischen Landarztes ist in den ersten Jahren nicht zur Schule gegangen, sondern zu Hause unterrichtet worden. Der normale Anpassungsprozess blieb ihr also erspart. Das hat sich ein Leben lang gehalten.

Ihre anarchische Lebendigkeit war bis zu ihrem Tod mit 94 Jahren ungebremst. Wofür viele Menschen sie liebten, manche aber sie auch fürchteten. Denn Margarete war unberechenbar. Und im Zweifelsfall immer auf der anderen Seite des Establishments.

Zusammen mit ihrem Mann Alexander hatte Margarete die Psychoanalyse in den 1960er Jahren aus dem Exil zurück nach Deutschland geholt, das Freud-Institut in Frankfurt gegründet und ab Mitte der 70er Jahre zahlreiche feministische Bestseller geschrieben.

Mit der 1967 veröffentlichten „Unfähigkeit zu trauern“, die Margarete und Alexander Mitscherlich zusammen geschrieben haben, stieß das Paar eine Debatte zur deutschen Vergangenheitsbewältigung an, die bis heute andauert. Alexander Mitscherlich starb 1982 – was sie nun ungeschützt der Häme ewig Gestriger und der Anti-FeministInnen dazu auslieferte.

Aber Margarete Mitscherlich stand es durch; lebte, lernte, dachte, arbeitete weiter. Noch kurz vor ihrem Tod plante sie ein Buch über die Liebe.

Margarete Mitscherlich war von der ersten Ausgabe 1977 an bis zu ihrem Tod eine treue Begleiterin von EMMA und eine inspirierende Autorin. Nachfolgend das letzte Interview, das ich im Jahr 2010 für EMMA mit ihr führte.

Und gerade plane ich, zusammen mit ihrem Sohn Matthias Mitscherlich, zwei Gedenktage am 4. und 5. November 2017, an denen WeggefährtInnen, KollegInnen und weitere Persönlichkeiten erzählen werden, warum das Werk von Margarete Mitscherlich weiterlebt.

Alice Schwarzer

www.margarete-mitscherlich.de
 

 

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