Alice Schwarzer für die Weltwoche:
Den vorletzten Silvester habe ich in Algier gefeiert. In meiner „algerischen Familie“. Wir haben bis nachts um vier getanzt, nach arabischen wie westlichen Klängen, klar. Wir, das war auf der algerischen Seite: Meine Kollegin Djamila, die fünf Jahre lang bei mir in Köln Zuflucht gesucht hatte, weil sie in ihrer Heimat in Lebensgefahr war; als unverschleierte Frau und kritische Journalistin stand sie ganz oben auf den Todeslisten der marodierenden Islamisten in den so genannten Années Noires, die über 100.000 Menschen das Leben kosteten. Neben ihr rockte ihre gläubige, unverschleierte Schwester Zohra mit Ehemann Zahar; ein Händler, der in die Moschee geht und gerne Wein trinkt. Und die Töchter Lili und Mounia, die es in den Schwarzen Jahren gewagt hatten, jeden Tag ohne Kopftuch zur Uni zu gehen, und die so manchesmal nur knapp überlebt haben. Nicht dabei war Djamilas alte Mutter, die jedes Jahr nach Mekka pilgert (und dort auch für mich betet).
Doch am ausdauerndsten tanzte der Sohn des Hauses, Ganoud, tief gläubig und tief lebenslustig. Wenn er mit uns durch die Stadt und an der Küste lang streifte, lautete jeder dritte Satz, mal ernst, mal lachend: „Alice, le prophet a dit…“ Natürlich habe ich ihn damit aufgezogen. Aber ich habe ihn auch ernst genommen. Und er ist bis heute mein Maßstab. Ganoud ist sauer über die „Arroganz und Hegemonie des Westens“. Und wenn ich mal wieder die Islamisten angreife, frage ich mich: Was würde Ganoud wohl dazu sagen? Es würde mich tief beschämen, wenn er eines Tages auch mich in einen Sack mit den „arroganten Westlern“ stecken würde. Bisher ist das nicht geschehen. Ganoud und ich, wir bleiben im Dialog. In einem echten Dialog.
Denn der falsche Dialog und die so lange praktizierte falsche Toleranz haben allen geschadet, nicht nur uns Westlern, sondern allen voran der Mehrheit der nicht-fundamentalistischen Menschen im muslimischen Kulturkreis, Gläubigen wie Ganoud und Ungläubigen wie Djamila.
Diese falsche Toleranz hat den Westen 30 Jahre lang wegsehen lassen: beim Iran, wo die Menschenrechte seit 1979 mit Füßen getreten werden; in Afghanistan, wo die Taliban mit Unterstützung Amerikas die sowjetischen Besatzer verjagten und 1992 die Terrorherrschaft übernahmen; in Tschetschenien, wo nicht nur die russische Soldateska von übel ist, sondern auch die Islamisten ein Problem sind, die bereits 1996 (!) die Scharia einführten; in Algerien, wo die so genannten „Afghanen“, die aus dem Krieg zurück gekehrten Söldner, das bis heute tief traumatisierte Land in den 1990er Jahren erzittern ließen; in Schwarzafrika, wo der von den Gotteskriegern gezündelte Flächenbrand unaufhaltsam um sich greift – und in Europa, wo wir es zugelassen haben, dass mitten unter uns Menschen als „die Anderen“, als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt werden. „Die Kulturfalle“ nannte das die Fatwa-verfolgte Khalida Messaoudi-Toumi, die als Mathematiklehrerin jahrelang auf der Flucht war und heute algerische Kulturministerin ist.
Dabei war alles von Anfang an klar. Als ich 1979 zusammen mit einer kleinen Gruppe französischer Intellektueller wenige Wochen nach Machtergreifung Khomeinis im Iran war – dem Hilferuf entrechteter Frauen folgend – haben wir mit zahlreichen Verantwortlichen des neuen Regimes gesprochen: mit Ministerpräsident Bazargan (der wenig später ins Exil floh), mit Ober-Ayatollah Talegani (der später ermordet wurde) und mit den neuen Führerinnen der Iranischen Frauenunion (von denen bald viele spurlos verschwanden). Diese in Granit gemeißelten „Heldinnen der Revolution“ hatten den Schah mit der Kalaschnikow unter dem Tschador verjagt oder waren aus dem Exil zurück gekehrt.
Sie alle waren aufgeklärte und hoch gebildete Menschen. Und sie alle antworteten auf unsere Fragen: Ja, wir wollen den Gottesstaat! Ja, wir werden die Scharia einführen, das ist Allahs Wille! Ja, selbstverständlich steht dann Tod durch Steinigung auf Homosexualität oder Ehebruch (der Frau)! Und dabei lächelten sie liebenswürdig.
Nein, die Islamisten haben nie einen Hehl aus ihren Absichten gemacht. So wenig wie einst die Nationalsozialisten. Auch in „Mein Kampf“ stand ja schon alles drin. Auch damals hätten wir es wissen können, ja müssen. Und auch die fortschrittlichen Muslime haben lange, zu lange geschwiegen aus Angst, des „Verrats“ bezichtigt zu werden. Die ersten, die redeten, waren die Töchter, die sich nicht länger wegsperren und zwangsverheiraten lassen wollten.
Als ich damals nach drei bewegenden Tagen Iran wieder verließ, schrieb ich: „Sie alle waren gut genug, für die Freiheit zu sterben – sie werden nicht gut genug sein, in Freiheit zu leben.“ Und seither habe ich nicht aufgehört, in EMMA über den weltweiten Kreuzzug der Islamisten zu berichten und vor den Folgen zu warnen.
Mit der Folge für mich, dass mir das Etikett einer „Schahfreundin“ und „Rassistin“ angehängt wurde. Zahllose Artikel, ja ganze Bücher sind über die angebliche „Islamfeindin“ Alice Schwarzer veröffentlicht worden; meist kamen sie aus dem universitären, linken Milieu. Und oft von KonvertitInnen. Denn da hatte längst ein Schulterschluss stattgefunden zwischen Alt-Linken und Neu-Islamisten. Die alten Götter – Mao, Che Guevara, Pol Pot – sind tot, es lebe der neue Gott: Allahu akbar!
Seit Mitte der 1980er Jahre haben wir im Westen eine gezielte Unterwanderung der muslimischen Communities durch die Islamisten zu verzeichnen. Ausgebildet werden die Agitateure in Iran, Ägypten oder Afghanistan, das Geld kommt aus Saudi-Arabien (mit dem auch wie gerne Geschäfte machen). Diese Rattenfänger erzählen den arbeitslosen jungen Männern, sie seien die Größten – und hätten das Recht, ihre sprachlosen Mütter ins Haus zu sperren und ihre freiheitsliebenden Schwestern unter den Schleier zu zwingen.
Zu den Fanatischsten gehören die KonvertitInnen, die eine große Rolle im pädagogischen und juristischen Bereich spielen. Auch innerhalb unseres Rechtssystems ist seit Anfang der 1990er Jahre eine systematische Unterwanderung zu verzeichnen. Ziel: Die „Islamisierung“ des Rechtsstaates, im Klartext: die Einführung der Scharia mitten in Europa. Partiell ist das bereits gelungen.
Ja, ich werde immer wieder gefragt, ob ich keine Angst hätte, die Islamisten zu kritisieren. Angst wovor? Selbstverständlich müssen wir handeln! Und ich schätze mich glücklich, wenn es mir gelungen sein sollte, zur Aufklärung über diese Dunkelmänner (und ihre Gehilfinnen) beigetragen zu haben. Und ich freue mich über die vielen freundlichen Gesichter in aufgeklärten Ausländervierteln, wo Frauen wie Männer mir zustimmend zuwinken.
Doch auf einem bestehe ich als Nicht-Muslimin auch weiterhin: Mir geht es nicht um den Islam als Glauben – dessen beunruhigenden Reformstau sollen die MuslimInnen bitte unter sich regeln, und zwar möglichst bald. Mir geht es ausschließlich um den Missbrauch des Islams als politische Strategie. Denn eines ist klar: Das ist der Faschismus des 21. Jahrhunderts. Und diesmal im Weltmaßstab.
Alice Schwarzer, für die Weltwoche, 12.10.2009
Mehr von der Autorin über Islamismus auf emma.de, Gotteskrieger und Schleier auf aliceschwarzer.de und in „Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“ (KiWi).