Interview LVZ

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Leipziger Volkszeitung, 30.5.2005

Das Volk ist reif für einen weiblichen Kanzler

Einer der Bestseller von Alice Schwarzer heißt "Alice im Männerland". Die Herausgeberin und Chefredakteurin der EMMA versteht also, wie sich "Angela im Männerland" fühlt. Merkel müsse 200prozentig das leisten, was ein Mann kann, analysiert die engagierte Frauenrechtlerin Schwarzer. Gleichzeitig werde man von der CDU-Chefin verlangen, doch "ganz Frau" zu bleiben.

Ist die Kür von Angela Merkel zur Kanzlerkandidatin der Union ein später Sieg der Frauenbewegung?

Alice Schwarzer
Es hat zwar dreißig Jahre gedauert - aber selbstverständlich gäbe es heute keine weibliche Kanzlerkandidatin ohne die Emanzipationsbewegung. Damals gab es im Kabinett maximal eine Ministerin: für Familie und Gedöns - parallel zu der einen Alibifrau im ZK.

Ist Angela Merkels Ost-Herkunft auf dem Weg zur Kanzlerschaft ein Vor- oder Nachteil?


Beides zugleich. Das gelassene Selbstbewusstsein einer qualifizierten Wissenschaftlerin aus dem Osten ist ein Vorteil. Die nicht mitgelebte Erfahrung, dass es sich lohnt, sich als Frau offen gegen die Männerbünde zur Wehr zu setzen, ist ein Nachteil. Doch es ist auf jeden Fall eine besondere Herausforderung: Es zum einen dem Westen zu zeigen, dass auch eine Ossi das kann - und zum anderen dabei die Ossis nicht zu vergessen.

Muss sie in dem Haifischbecken CDU die Weiblichkeit ablegen und agieren wie ein Mann?


Ja, sie muss 200prozentig alles können, was Männer können. Gleichzeitig aber wird man von ihr verlangen, "ganz Frau" zu bleiben - was immer das heißen mag. Das beides gleichzeitig zu leisten, ist quasi unmöglich. Und eines ist sicher: Auch wenn sie noch so tüchtig ist, werden Politiker und Medien sie mit anderen Augen ansehen, an anderen Maßstäben messen, als ihre Vorgänger an der Staatsspitze. Sie wird eine Frau bleiben. Das ist ihr Dilemma - aber vielleicht auch eine Chance.

Verschreckt sie die konservativen männlichen Wähler der Union?


Ich glaube, dass die Wähler und Wählerinnen fortschrittlicher sind als die Medien. Für das Volk ist die Zeit reif für einen weiblichen Kanzler.

Kann sie Solidaritätsstimmen von Frauen bekommen, die sonst eigentlich andere Parteien wählen?


Natürlich lässt es keine Frau unberührt, wenn nach über einem halben Jahrhundert erstmals eine Frau in Deutschland für das wichtigste politische Amt kandidiert. Gleichzeitig werden die Erwartungen der Frauen an eine Kanzlerin höher sein als an einen Kanzler - zumindest, was die Fraueninteressen angeht. Denn sie ist ja selber eine. Ich denke also, dass eine Kanzlerkandidatin ihren Geschlechtervorteil über die eigenen Stammwählerinnen hinaus nur dann wirklcih umsetzen kann, wenn sie auch tatsächlich die Frauen nicht vergisst. Ob sie sich da oben noch an die anderen Frauen erinnern wird, das werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.
Die Fragen stellte Anita Kecke. Leipziger Volkszeitung, 30.5.2005

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