"Trans zu sein, ist Mode – und die größte Provokation"

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Alice Schwarzer, 80, kommt wenige Minuten zu spät zum Interview ins Manzini, eine Brasserie in Berlin-Wilmersdorf. Der Redakteur hat schon einen Platz gewählt. Schwarzer grüßt kurz und bittet im zweiten Satz, die Stühle zu tauschen. Sie müsse mit dem Rücken zur Wand sitzen.

SPIEGEL: Frau Schwarzer, warum ist Ihnen die Sitzordnung so wichtig?
Schwarzer: Es ist offensichtlich, warum. Wenn ich die Wand nicht im Rücken habe, werde ich nervös.

Generell?
Na, wegen Ihnen persönlich doch nicht.

Vielleicht nicht meinetwegen, aber wegen des Themas unseres Interviews? Sie werden sehr angefeindet für Ihre Positionen zum Selbstbestimmungsgesetz, das nun vom Kabinett verabschiedet werden soll.
Sie glauben doch nicht etwa, dass mich das einschüchtern kann? Aber es ist in der Tat nicht zu fassen, wie sehr die Debatte ideologisiert und hysterisiert ist. Als ich hier in Berlin im Babylon aus meiner Autobiografie gelesen habe, hat die übliche Buchhandlung den Büchertisch abgesagt, die Begründung: Eine Mitarbeiterin würde kündigen, wenn sie Schwarzer-Bücher verkaufen soll. Und wenn meine Mitarbeiterinnen und ich in fortschrittlichen Kreisen recherchieren, also bei engagierten Frauen, Lesben oder was auch immer, bei karierten Menschen oder gepunkteten: Dann kriegen wir seit etwa einem Jahr immer wieder zu hören, dass sie nicht mit EMMA sprechen. Warum nicht? Weil die EMMA transphob sei. Meine Kolleginnen sind richtig bedrückt darüber. Ich weniger. Ich kenne Anfeindungen ja seit bald 50 Jahren.

Das Gesetz betrifft direkt nur wenige Menschen. Warum exponieren Sie sich in der Frage persönlich so stark?
Die Transfrage ist zurzeit allgegenwärtig, nicht nur in Berlin-Mitte. Und sie liegt seit Langem im Zentrum meines Engagements. Da geht es um Geschlecht, Geschlechterrollen und Identität. Schon 1984 habe ich gegen einige rigidere Schwestern dafür gekämpft, dass trans Frauen ins Frauenzentrum gehen dürfen. Weil ich es bemerkenswert fand, dass die Psyche den Körper sticht. Ich fand es allerdings gleichzeitig tragisch, dass Transsexuelle sich mit ihrem Körper nicht einfach alle Freiheiten auch des anderen Geschlechts nehmen können. Denn das ist die Kernaussage des feministischen Projekts: Der biologische Körper bedingt nicht die kulturelle Rolle. Die ist ein Konstrukt. Aber als Mensch war ich mit Transsexuellen immer schon solidarisch. Wer so einen steinigen Weg geht, der hat einen tiefen Schmerz.

Was ist heute anders als damals?
Es gibt einen modischen Trend für junge Leute, trans zu sein. Das ist schick.

Glauben Sie das wirklich? Wer sich als trans outet, hat in unserer Gesellschaft noch immer einen Spießrutenlauf vor sich.
Mit mir reden Sie über Fakten, nicht über Glauben. Die Zahl der Menschen, die sich für trans halten, ist innerhalb weniger Jahre in der ganzen westlichen Welt extrem gestiegen, vor allem unter Jugendlichen. Etwa 80 Prozent von denen sind Mädchen. In manchen Klassen sitzen heutzutage gleich drei oder vier, die sagen, sie seien trans.

Die Offenheit gegenüber trans Jugendlichen mag in einigen wenigen Schulen großstädtischer Szeneviertel gewachsen sein. Aber sich in anderen Milieus zu outen, bedeutet doch noch immer einen jahrelangen Kampf.
Früher haben wir sprödere Mädchen, die keinen Bock auf rosa Tüll hatten und lieber Fußball spielten, dazu ermutigt, sich einfach dieselben Freiheiten zu nehmen wie Jungen. Das sind sowieso die schlausten Mädchen: die, die keinen Bock haben, Frauen zu werden. Aber heute suggeriert man diesen Mädchen, wenn sie keine richtige Frau sein wollten, seien sie eben ein Mann. Statt der Befreiung von der Geschlechterrolle nun das totale Gegenteil: zwei Schubladen und nichts dazwischen. Binärer geht nicht. Das hat durch Corona geboomt. Die Mädchen sind in Internetcommunitys und beeinflussen sich gegenseitig.

Sie wollen wirklich behaupten, dass der Weg zu einer Transidentität heute ein Weg des geringen Widerstands ist?
Ja. Trans zu sein, ist Mode – und gleichzeitig die größte Provokation. Das macht es für Jugendliche so attraktiv. Im Internet wimmelt es von trans Cartoons. Und bei den Modenschauen laufen schon Models, die schmale Bandagen über den Brüsten haben – als seien darunter die Narben amputierter Brüste.

Man könnte fast den Eindruck bekommen, Sie wünschten sich die repressive Umgebung früherer Jahrzehnte zurück, damit die Mädchen nicht auf dumme Ideen kommen.
Ich wünsche mir das Gegenteil, für Mädchen wie Jungen: Endlich einfach Mensch sein zu dürfen. Diese ideologischen Etiketten sind ein Rückschlag, auch für echte Transsexuelle.

Was sind denn für Sie »echte Transsexuelle«?
So nenne ich Menschen, deren Geschlechtsidentität so tief verstört ist, dass sie alles geben würden, um ins andere Geschlecht wechseln zu können. Das kann bis zur Selbstverstümmelung gehen. Aber rein körperlich geht das natürlich nicht, das ist nur Maskerade. Der Mensch bleibt auch nach einer sogenannten geschlechtsangleichenden Operation biologisch männlich oder weiblich. Dem Körper kann man nicht entfliehen, nur der Geschlechterrolle. Aber ich habe den Eindruck, Ministerin Paus und ihr Staatssekretär wissen gar nicht, wovon sie reden. Sie kennen den Unterschied zwischen Sex und Gender offensichtlich nicht. Sie reden vom biologischen Geschlecht, als sei es die Geschlechterrolle.

Geschlecht ist mehr als Gene und Genitalien.
Und ob. Es gibt sehr viele Geschlechterrollen, auch je nach Lebensphase. Wir sind alle im Fluss. Aber es gibt nur zwei biologische Geschlechter.

Kritiker beschimpfen Sie wegen solcher Aussagen als reaktionär und biologistisch.
Das Gegenteil ist der Fall. Eine Feministin wie ich kämpft seit50 Jahren gegen den Biologismus und will die Menschen von den einengenden Geschlechterrollen befreien. Diese Transideologen aber sind reaktionär, sie propagieren ein tief rückschrittliches Denken. Eigentlich sollte man einem sogenannten Tomboy, also einem jungen Mädchen, sagen: Nimm Dir alle Freiheiten, die auch Jungen haben! Und nun sagt man ihm: Du bist kein ›richtiges‹ Mädchen, also bist du ein Junge. Wie absurd.

Warum sollte der Schutzmantel des Feminismus heute nicht mehr über trans Frauen ausgebreitet werden?
Weil die offensive Transideologie inzwischen die biologischen Frauen bedroht. Es gibt Sportarten, in denen können trans Frauen jeden Frauenwettbewerb sprengen. Sie sind einfach körperlich überlegen.

Als Sportfunktionärin sind Sie bislang eher nicht in Erscheinung getreten. Geht es Ihnen wirklich darum, die binäre Geschlechterlogik auf Fußballplätzen und Laufbahnen zu verteidigen?
Kommen wir zu Frauenschutzräumen, also Häuser für geschlagene Frauen, Frauentage in der Sauna, öffentliche Toiletten. All die Räume, in denen Frauen zu Recht unter sich sein möchten. Allein die Idee, dass es mehr Unisex-Toiletten geben könnte: Was für ein Quatsch! Mal ehrlich, soll ich künftig an diesen stinkenden Pissoirs vorbeigehen, an denen die Männer ihren Pimmel rausholen? Also wirklich nicht.

Ihre Bedenken sind ästhetischer Natur?
Nicht nur. Auf Unisex-Toiletten droht einem als Frau auch reale Gefahr. Wir alle kennen doch diese Kabinen mit Löchern in den Trennwänden. Und ich würde auch niemals in eine gemischte Sauna gehen.

Aber am Frauentag geht Alice Schwarzer in öffentliche Saunen?
Ich persönlich war noch nie in einer öffentlichen Sauna. Aber wenn an so einem Frauentag plötzlich eine Person mit Bart und Penis in die Sauna reinkommen würde und sagt, sie fühle sich als Frau … also nein!

Ein paar Komiker und Provokateure werden das vielleicht versuchen. Aber die Frage ist doch, wie oft es das Szenario, das Sie da zeichnen, wirklich geben wird.
Egal. Frauen haben das Recht auf Schutzräume. Ende. Wir haben mindestens 5000 Jahre Patriarchat hinter uns, und die konnten wir in 50 Jahren noch nicht ganz abräumen. Wir brauchen noch Schutzräume! Und vor allem: Mit diesem sogenannten Selbstbestimmungsgesetz relativieren wir juristisch die Kategorie Geschlecht.

Sie sorgen sich um Frauenförderprogramme?
Ja, sicher. Wenn jedes Jahr ein Geschlechtswechsel möglich ist, werden damit auch Frauenquoten ad absurdum geführt. Geschlecht wird beliebig.

Wenn Trans ein Massenphänomen wäre, würde ich Ihre Bedenken nachvollziehen können. Aber so?
Es ist leider ein Massenphänomen und schon längst Teil der Popkultur. Darum sitzen wir beide hier.

Ich kann das Prinzip Ihrer Einwände verstehen, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass es Ihnen um Prinzipienreiterei geht. Wir reden über wenige Tausend Geschlechtsangleichungen im Jahr.
Ich muss mich die ganze Zeit gegen Sie verteidigen. Warum eigentlich?

Darum sitzen wir beide hier.
Das ist Ihre Rolle als Journalist, okay. Aber Sie könnten doch auch mal fragen: Frau Schwarzer, warum haben Sie die Gefahren des Gesetzes so früh erkannt? Und wie schaffen Sie es, einerseits für trans Rechte zu plädieren und andererseits gegen das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz zu votieren? Das ist doch das Interessante an meiner Position.

Finden Sie denn das bisherige Transsexuellengesetz gut?
Die echten Transsexuellen brauchen eine Reform, die ihnen das Leben leichter macht. Aber deshalb sollte doch nicht jeder Mensch ab 14 Jahren zum Amt gehen und seinen Personenstand wechseln können. Und das jedes Jahr wieder neu! Grotesk. Ich plädiere für eine Altersschranke von mindestens 18 Jahren, besser 21.

Ein Selbstbestimmungsgesetz ab 18 hätte Ihre Unterstützung?
Ein Gesetz ab 18, das gleichzeitig zwingend eine unabhängige Beratung vorschreibt. Nicht zuletzt, damit auch die Menschen selber eine Chance kriegen, sich ihrer wahren Motive bewusst zu werden. Es muss klar sein, ob es sich um einen Fall des sehr raren Transsexualismus handelt. Oder zum Beispiel in Wahrheit um Autismus. Oder darum, dass ein missbrauchtes Mädchen seinem Körper entfliehen will. Oder auch um eine verdeckte Homosexualität. Denn Homosexualität scheint in manchen Milieus heute peinlicher zu sein als Transsexualität.

Erscheint Ihnen das plausibel?
Nein. Aber es ist so. Ich höre immer wieder, dass eine moderne junge Frau, die in sogenannten queeren Kreisen verkehrt, sich heute eher als trans denn als lesbisch bezeichnet. Das alarmiert mich. Den Staat sollte es auch alarmieren. Er hat eine Schutzpflicht. Er versucht ja auch in anderen Fällen von Hass auf den eigenen Körper zu helfen. Zum Beispiel bei Essstörungen. Und gerade Mädchen haben Gründe für diesen Selbsthass. Ihr Körper ist in Zeiten des Internets und der allgegenwärtigen Pornografie wieder mehr denn je zum Schlachtfeld geworden.

Ihr Motiv ist es, junge Frauen vor einem Fehler zu schützen. Indem Sie das so laut sagen, kränken und pathologisieren Sie aber gleichzeitig trans Personen. Sehen Sie das Dilemma?
Viele echte Transsexuelle sind selber entsetzt, dass das neue Gesetz noch nicht einmal eine Beratung vorschreibt. Die echte Transsexualität – ich formuliere das mal bedacht so – ist ein tief verstörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Das Phänomen ist wie gesagt durchaus vergleichbar mit den essgestörten Mädchen, die keinen Frauenkörper mehr haben wollen. Diese Mädchen schicken wir in Therapie und sagen ihnen: »Du bist nicht zu dick«. Denen sagen wir nicht: »Du hast recht, hunger dich ruhig zu Tode.«

Kann es sein, dass dieser Vergleich übers Ziel hinaus schießt?
Keineswegs. Die Transition ist ein sehr schwerer Eingriff in Psyche und Körper. Darum halte ich dieses Selbstbestimmungsgesetz für total verantwortungslos. Mit 14 stecken Jugendliche mitten in der Pubertät, in einer Phase also, in der viele nicht wissen, wer sie sind, ob sie drei Nasen haben oder vier Ohren. Jugendlichen in dieser größten Identitätsverwirrung ihres Lebens als vermeintliche Lösung anzubieten, lebenslang Hormone zu nehmen und sich den Körper verstümmeln zu lassen – das ist Wahnsinn. Und irreversibel.

Im Selbstbestimmungsgesetz geht es ausschließlich um eine Änderung des Namens und des Personenstandsrechts, nicht um Hormone und Operationen.
Das ist die reine Theorie. In der Regel folgen einem Personenstandswechsel auch Hormonbehandlungen, ein Riesengeschäft für die Pharmaindustrie. Und wir operieren heute in Deutschland durchaus auch schon Minderjährige. Gehen Sie einfach mal ins Internet oder gucken Sie in die EMMA.

In Deutschland sind geschlechtsangleichende Operationen bei unter Zwanzig-Jährigen bislang selten, bei unter Fünfzehnjährigen verzeichnet die Statistik in den vergangenen Jahren gerade mal zwei Fälle. Aber zurück zum Wechsel des Vornamens und Geschlechtseintrags: Bei Jugendlichen unter 18 müssen laut Gesetzentwurf die Eltern zustimmen oder alternativ das Familiengericht. Es gibt also Hürden.
Diese Hürden sind unter Umständen nicht sehr hoch. Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen modern sein wollen. Und wer modern sein will, ist zurzeit pro trans. Die Schwarzer ist natürlich »von gestern und tief reaktionär«, klar. Die Schwarzer ist »Nazi«.

Stört Sie dieses Image?
Nein!

Ihnen ist egal, ob Sie als progressiv gelten oder als reaktionär?
Ja. Ich versuche einfach immer, das Richtige zu tun, ich richte mich nicht nach Mode, Image und Etiketten. Da könnte ich ja gleich aufhören. Und es ist ja auch nicht die erste Beschimpfung in meinem Leben. Außerdem bin ich mir in dem Fall meiner Sache sehr sicher, ich denke seit 40 Jahren darüber nach, ich kenne mehr Transsexuelle als die meisten, die jetzt über das Thema schwafeln.

Ihre Hauptsorge gilt jungen Mädchen. Aber ist das auch die Sorge der anderen, die mit ihnen gegen das Gesetz anrennen?
Jetzt wollen Sie mir doch nicht mit der Nummer kommen! Wenn ich sage, die Sonne geht morgens auf und abends unter, und die AfD sagt das auch, dann stimmt das trotzdem. Egal, wer es sagt.

Warum lässt ein Gesetz, das direkt nur sehr wenige betrifft, die Gemüter von so vielen so hochkochen? Doch nicht weil sich plötzlich alle um pubertierende Mädchen und saunierende Frauen sorgen.
Weil es um den Kern der Geschlechterordnung geht. Rechte und Konservative kommen aus einer anderen Ecke als ich. Sie wollen die alte Geschlechterordnung erhalten. Eine Feministin wie ich will sie auflösen. Die Menschen sollen freie Menschen werden und sich jetzt nicht auch noch mit Hormonen und Operationen in die engen Geschlechterrollen zwängen. Und außerdem muss ich die Konservativen auch mal in Schutz nehmen. Je älter man wird, desto mehr Verständnis hat man ja für den Gegner. Die Konservativen sind zu Recht irritiert, wenn Zehnjährigen in der Schule irgendwas von nonbinär, queer und trans erzählt wird.

Würden Sie mir recht geben, dass Schule sich um die Kinder sorgen sollte, nicht um die Gefühle von konservativen Erwachsenen?
Ja, genau! Darum bin ich für sexuelle Aufklärung, aber gegen diese Propaganda für Transsexualität. Man hat Kindern zu antworten auf die Fragen, die sie stellen – und Türen zu öffnen. Aber dass Zehnjährige über Transsexualität reden sollen: Das ist keine Aufklärung und Befreiung, das ist Propaganda und Manipulation.

Warum ist es keine Aufklärung, Zehnjährigen zu erzählen, dass es trans Personen gibt?
Erstens ist das für sie noch vor dem ersten Kuss nicht relevant. Zweitens ein extrem seltenes Phänomen. Drittens völlig verwirrend. Ich bin dafür, auf alle Fragen so genau wie möglich zu antworten. Aber Kindern nichts aufzudrängen. Die Propaganda der sogenannten sexuellen Varianten hat das Bildungswesen unterlaufen. Das Schlimme ist, dass diese Propaganda auch noch unter dem Etikett fortschrittlich läuft. Und fortschrittlich: Da wollen die meisten dabei sein.

Nur Sie offenbar nicht.
Ich bin modern, nicht modisch. Die meisten Menschen wissen hingegen nicht, wovon sie reden. Sie hören, dass es ein paar arme Transsexuelle gibt, die sich diskriminiert fühlen und die sich deshalb ein neues Gesetz wünschen. Da sagt natürlich jeder anständige, aber unwissende Mensch: Gebt den armen Menschen dieses Gesetz.

Dahinter steht eine klassische liberale Haltung: Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden, solange er niemand anderem damit ins Gehege kommt.
Das klingt gut. Aber gut gemeint ist nicht immer auch gut gemacht. Man sollte sich immer auch fragen, inwieweit Menschen das Recht zur Selbstzerstörung haben. Trans ist bisher zu Recht für ein Minderheitenproblem gehalten worden. Und nun ist daraus in der ganzen westlichen Welt ein Trend geworden: in den USA, in Frankreich, Großbritannien. Überall rollt diese woke Propagandawelle. Wie konnte sie dieses Ausmaß bekommen? Diese Frage stelle ich mir auch.

Ohne eine Antwort zu haben?
Nicht wirklich … Aber es ist natürlich Teil des Rollbacks, ein Angriff gegen den universellen Feminismus. Denn plötzlich soll Geschlecht beliebig sein. Im Außenministerium hängt inzwischen sogar schon am Eingang die Transfahne. Wie ein Glaubensbekenntnis. Es scheint keinen Unterschied mehr zu geben zwischen regierenden Politikerinnen und außerparlamentarisch Protestierenden. Ministerinnen wie Frau Paus marschieren bei Pro-Trans-Demos an der Spitze mit. Das muss man sich mal vorstellen: bei einem so fragwürdigen, hochumstrittenen Gesetz. Eine Frauenministerin!

Sie sehen ernsthaft den Feminismus in Gefahr?
Ja, feministische Erkenntnisse werden auf die Seite gefegt und manipuliert im Namen des Fortschritts. Wir reden da von einer Theorie, die »in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die folgenreichste Kulturrevolution ausgelöst hat« – ich zitiere Augstein. Ich bin wie gesagt dafür, dass die Geschlechterrollen dekonstruiert werden. Aber deswegen leugne ich doch nicht die biologischen Geschlechter! Wie absurd wäre das denn.

Es ist kein Feminismus denkbar ohne zwei biologisch binäre Geschlechter?
Den Feminismus gibt es, weil man als weiblicher Mensch in weiten Teilen der Welt benachteiligt oder sogar entrechtet ist. Hier bei uns haben wir in 50 Jahren dank Frauenbewegung eine Menge erreicht. Aber den Gender-Pay- Gap, die Familienarbeit, die sexualisierte Gewalt: Das alles gibt es noch! Wir können doch nicht so tun, als würde die Rolle, die uns seit Jahrtausenden qua biologischem Geschlecht zugewiesen wird, keine Bedeutung mehr haben. Ich sage Ihnen: Bis zum heutigen Tag wird jedes Wort von mir und jede Bewegung anders bewertet als die gleichen Worte und Bewegungen eines Mannes. Nur weil ich eine Frau bin.

Verstehe ich Sie richtig, dass ich kein Feminist sein kann, weil ich das falsche biologische Geschlecht habe? Auch ich als Mann hadere mit den Rollenerwartungen.
Da verstehen Sie mich ganz falsch. Im Gegenteil: Herzlich willkommen! Sie können sehr gerne Feminist sein – wenn Sie es wirklich ernst meinen. Diese Trennung der Geschlechter verstümmelt ja beide Geschlechter. Der Feminismus kämpft dafür, dass Frauen keine Weibchen mehr sein müssen und Männer keine Machos. Auch Sie können einfach nur Mensch sein.

Sie werfen der trans Community und auch der Bundesregierung immer wieder vor, dass sie eine »Transideologie« verfechte. Den Ideologievorwurf haben Sie womöglich auch schon von Gegnern gehört.
Ich? Ich bin das Gegenteil einer Ideologin. Ich bin ganz und gar der Realität verpflichtet.

Den Vorwurf aber kennen Sie?
Ich kenne vor allem alle Klischees über Feministinnen. Die werden mir ja alle seit Jahrzehnten übergestülpt: Männerhasserin, humorlos, frustriert etc. Ich bin viel angefeindet worden, durchaus auch von anderen Feministinnen. Feminismus ist ja kein geschütztes Label, sondern eine durchaus inflationäre Münze. Manchen Frauen stand früher der Sinn nach Geschlechterkrieg, mir nicht. Ich bin Pazifistin. Ich habe deshalb auch nie Homosexualität als Lösung propagiert, nur als Möglichkeit. Alle Menschen sind ja polymorph, also haben zunächst eine nicht zielgerichtete Sexualität. Das wusste schon Freud. Ich zum Beispiel lebe zwar heute mit einer Frau zusammen, aber ich habe auch mal zehn Jahre mit einem Mann zusammengelebt. Welches Etikett soll ich mir also anheften? Bisexuell? Queer? Non-binär? Hört sich keck an.

Modern.
Eher modisch. Ich bin eben Avantgarde.

Frau Schwarzer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Was für ein Schlusssatz! Den streiche ich Ihnen bei der Autorisierung.

Warum denn das?
Ich neige eben zur Ironie, und das ist gefährlich. Das verstehen die Menschen in Deutschland nicht.

Die Menschen stehen auf Eindeutigkeit.
So ist es.

Alice Schwarzer/Chantal Louis (Hrsg.): "Transsexualität. Was ist eine Frau? Was ist ein Mann?" (KiWi) im www.emma.de/shop
Alice Schwarzer/Chantal Louis (Hrsg.): "Transsexualität. Was ist eine Frau? Was ist ein Mann?" (KiWi) im www.emma.de/shop

Bei den Geschlechtern stehen auch Sie auf Eindeutigkeit.
Unsinn. Ich gehe davon aus, dass es überhaupt erst interessant wird, wenn Ambivalenzen eingestanden werden. Wenn jemand zum Beispiel wirklich non-binär ist, dann scheint mir das fortschrittlich zu sein, die Erfüllung des feministischen Ideals: Leg dich nicht fest! Mach, was du willst! Aber ich gucke mir die Realitäten an und sehe, dass unter unseren feministischen Kampfbegriffen heute oft ganz reaktionäre falsche Sachen propagiert werden, wie die Leugnung des biologischen Geschlechts. Sie sehen, ich rege mich echt auf.

Haben Sie Lust an der Auseinandersetzung?
Ja. Wenn es wichtig ist.

Nur wenn es wichtig ist?
Genau. Ich bin ein friedlicher Mensch, wirklich. Ich mag Menschen, ich setze mich gerne unter meine Linde oder in Paris ins Café, ich habe gerne meine Ruhe. Aber wenn es nötig ist, kann ich auch loslegen. Fatal ist leider auch im Fall der Transdebatte die Rolle der Medien, weil sie ohne jede Recherche verantwortungslos diese Transpropaganda mitmachen. Und die Politik ist inzwischen auf dem bekannt mediokren Niveau. Die wollten das Gesetz einfach nur noch durchhauen wie so oft in letzter Zeit.

Ihre Verlegerin Kerstin Gleba hat im vergangenen Jahr ein beachtliches Nachwort zu ihrem Transgender-Buch geschrieben. Als ob sie sich von Ihnen distanzieren wolle.
Wenn das der Verlegerin am Herzen liegt. Aber mein Lektor ist der »Editor at Large«, Helge Malchow.

So gelassen?
Mir ist das noch nie passiert. Aber man hat mir gesagt, dass es großen Mut von Kiepenheuer & Witsch erfordert habe, dieses Buch überhaupt zu veröffentlichen. Ich finde das sehr, sehr beunruhigend. Aber so sind die Zeiten.

Frau Schwarzer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Tobias Becker, es erschien zuerst auf SPIEGELonline (22.8.2023)

 

 

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