Alice Schwarzer in anderen Medien

„Haben Sie keine Meinung!“

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Auch wenn die Stimmung unter Journalisten derzeit eher gedrückt ist, so bezeichnete Alice Schwarzer diesen Beruf bei ihrem Gastvortrag am Mittwoch in Tübingen als einen der schönsten der Welt.

Tübingen. „Mit so einem Andrang haben wir nicht gerechnet“, gestand Andreas Narr, Leiter des SWR-Studios. Aus dem Audimax wurde der Vortrag der von Universität und SWR als Mediendozentin eingeladenen Alice Schwarzer kurzerhand in den Festsaal verlegt. Selbst hier belegten die Zuhörer fast alle 920 Sitzplätze. „Eine Frage der Haltung – Plädoyer für einen Journalismus mit Leidenschaft“ lautete das Thema von Schwarzers Vortrag, in dessen Mittelpunkt also nicht die Frauenfrage, sondern ihr Beruf als Journalistin stand. Mit mehrfachem, rauschendem Applaus begrüßte das Publikum die vor Witz und Charme sprühende Frauenrechtlerin.

„Die Studenten der Publizistik machen sich Sorgen. Ich versteh‘ das“, versicherte Schwarzer. Opportunismus und Selbstzensur, die sie bereits während ihres Volontariats 1968 hautnah erlebte, sieht sie als zentrale Probleme. Den angehenden Journalisten riet sie daher: „Sie müssen vor allem offen und neugierig sein.“ Natürlich spiele Begabung und Fleiß eine Rolle, doch besonders wichtig sei die Freude daran, sich selbst überraschen zu lassen. „Bitte haben Sie keine Meinung!“ empfahl sie den Zuhörern deshalb und plädierte stattdessen für eine Haltung, die im Schreiben transparent gemacht werden müsse: „Damit die Leser entscheiden können, ob sie d‘accord gehen. Nur so ist eine relative Objektivität möglich.“ Außerdem sei es wichtig, „dass wir uns auch neben uns stellen können."

Als Schriftstellerin, Journalistin und Frauenrechtlerin lag und liegt ihr daran, nicht nur zu berichten, sondern auch „Dinge in Gang zu bringen“. 1971 initiierte sie beim Stern die Selbstbezichtigungskampagne „Wir haben abgetrieben!“ Zu dieser Zeit habe sie angefangen zu begreifen, „dass wir eine eigene Stimme brauchen“. Nach ihren ersten drei Büchern, darunter „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“, hatte sie eine viertel Million Mark auf dem Konto. Mit diesem Geld und ihrem Namen, den sie sich auch durch die Auseinandersetzung mit Esther Vilar gemacht hatte, gründete sie 1976 die Zeitschrift EMMA.

Von Anfang sei die Zeitschrift so konzipiert gewesen, dass sei vom Verkauf und nicht vorrangig von Anzeigen leben musste. Der damit verbundene unabhängige Journalismus ist für Schwarzer „ein phantastisches Abenteuer“. Zu den „Highlights, die zeigen, warum es Sinn macht, eine wirklich unabhängige Zeitschrift zu haben“, zählt sie den Einsatz gegen die Streichung des gesetzlichen Paragraphen, der Pädophilie unter Strafe stellt und der 1980 fast gestrichen worden wäre: „Es ist ausschließlich EMMA zu verdanken, dass Pädophilie ein gesetzliches Verbrechen ist“, resümierte Schwarzer. Wenn kein anderer gut über ein wichtiges Thema schreibe, dann sei eben ihre Zeitschrift gefragt. Zu den Stationen der EMMA-Berichterstattung, „auf die man stolz sein kann, die aber auch bedrücken“, zählte sie das 1978 erschienene Dossier über sexuellen Missbrauch. Nicht eine Reaktion hätten die EMMA-Redaktion damals darauf erhalten: „Es war das totale Tabu-Thema“, sagte Schwarzer.

Auf die Frage Narrs, ob ihr nicht manchmal doch der Mut ausginge, nach vielen Kämpfen und Beschimpfungen, antwortete die Dozentin: „Wenn die Beschimpfung vom Gegner kommt, dann komm‘ ich erst richtig in Fahrt – das kann ich gut, das macht mir auch Spaß. Geht es aber um das Abqualifizieren der Person, dann geht das schon sehr an die Nieren. Aber wie Sie sehen, genieße ich das Leben und es macht mir fast immer Spaß – und die Arbeit sowieso.“

Madeleine Wegner, 14.5.2010, tagblatt.de

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