Alice Schwarzer in anderen Medien

Die Algerierinnen: Jetzt oder nie!

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Frau Schwarzer, wie geht es jetzt, ein Jahr, nachdem Sie über die Situation in Algerien geschrieben haben, Ihrer algerischen Familie? Damals haben Sie Algerien vorgestellt als ein Land mit dem "Sowohl als auch", zwischen Tradition und Moderne, zwischen Kopftuch und Stöckelschuhen bei den Frauen. Jetzt ist Bewegung ins Land gekommen. Nach den Demonstrationen gegen Bouteflika wird er nicht mehr zur Wahl antreten. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Alice Schwarzer Ich bin quasi in täglichem Kontakt mit "meiner Familie". Per Telefon oder Mail. Vor allem die Jungen sind voller Hoffnung. Auf den Demonstrationen gehe es sehr familiär, ja heiter zu, erzählen sie. Anrainer servieren den Angereisten in Algier Couscous, und die Frauen machen ihre traditionellen Youyous, so eine Art algerischer Jodler. Allmählich aber werden sie nachdenklich und fragen sich, wie es weitergehen wird nach den Wahlen Mitte Juli. Das Problem ist ja, dass es keine starke Opposition gibt. Wer also wird die Macht übernehmen?

Und die Frauen?
Die Frauen sagen sich: Jetzt oder nie! Gerade haben algerische Feministinnen ein Manifest veröffentlicht, in dem sie die Abschaffung des entmündigenden Code familial, der sie zu Unmündigen macht und die Polygamie erlaubt, fordern. Endlich gleiche Rechte!

Wie stark sind die Forderungen der algerischen Feministinnen in der weiblichen Bevölkerung Algeriens verankert? Müssen die fortschrittlichen Frauen eventuell damit rechnen, dass Widerstand von konservativen und/oder religiösen Frauen kommt?
Diese Forderungen nach gleichen Rechten kommen zunächst natürlich nur von den fortschrittlichen, gebildeten Frauen. Aber ich habe erlebt, dass sehr viele Frauen ein Unbehagen haben in Bezug auf ihre extreme Abhängigkeit. Das ist in Algerien heute nicht anders als in Deutschland zum Beispiel in den 1950er-Jahren.

In den Gesprächen mit der Großfamilie und mit - teils ehemaligen - politischen Akteuren/Akteurinnen kam immer wieder der Vorwurf, dass sich die algerischen Demokratinnen und Demokraten vom Westen allein gelassen fühlten im Kampf gegen die Islamisten. Hatte und hat das nicht auch etwas damit zu tun, dass sich der Westen hüten sollte, sich in die Angelegenheiten souveräner Staaten einzumischen? Umgekehrt gibt es ja auch den Vorwurf, der falschen Intervention. Ein Mitglied dieser Familie, der junge Ghanou, sagt dies deutlich.
Das ist richtig. Alle Algerier sind gegen jegliche Art von Intervention! Wir sehen ja, wohin das in den letzten 25 Jahren geführt hat: Irak, Afghanistan, Libyen - überall verbrannte Erde. Aber das heißt ja nicht, dass der Westen nicht die wahren demokratischen Kräfte unterstützen sollte, statt mit den Islamisten zu "dialogisieren", wie es die Kirche und die Politik in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren getan haben. Sie haben den Schulterschluss immer nur mit den Islam-Verbänden gesucht, die allesamt schariagläubig sind - statt mit der Mehrheit der Aufgeklärten und Demokraten unter den Muslimen in Deutschland.

Aus welcher Motivation heraus ist dieses Buch entstanden? War es eine Reaktion darauf, dass in der Silvesternacht in Köln vor allem junge Männer aus den nordafrikanischen Ländern auf dem Bahnhofs- und Domplatz unterwegs waren? Sollte es eine Ergänzung zu dem Buch "Der Schock - Die Silvesternacht von Köln" sein? Sie waren ja im April 2016 in Algerien unterwegs, kurz nach der Kölner Nacht.
Ja, dieses Buch ist quasi eine Ergänzung zum "Schock". Darin habe ich zusammen mit acht weiteren Autoren und Autorinnen - davon die Hälfte muslimischer Herkunft - die Silvesternacht in Köln als politische Provokation analysiert. Da hatten über 2000 junge Männer, meist algerischer und marokkanischer Herkunft, 690 Frauen sexuelle Gewalt angetan! So viele Anzeigen wurden erstattet. Und das war weder ein Zufall noch ein Missverständnis, sondern Absicht. Ganz wie im "Arabischen Frühling" in Kairo: Uns Frauen sollte gezeigt werden, dass wir am Abend nichts zu suchen haben im öffentlichen Raum! In meinem Buch nun geht es um das Leben der Mehrheit der Algerier: die friedlichen, demokratischen. Und man erfährt, dass sie die ersten Opfer sind dieser fanatischen Islamisten.

In "Meine algerische Familie" sind Sie klar als Journalistin unterwegs: Es gibt einen Anhang zur Geschichte Algeriens. Sie drucken die Statements Ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner abgesetzt von Ihren persönlichen Eindrücken jeweils mit der Überschrift "XY spricht" ab . Warum?
Ich wollte den Menschen selber eine Stimme geben. So setzt sich das Mosaik der vielfältigen Stimmen zu einem Gesamtbild zusammen.

Aufgefallen ist mir der Satz "So einfach ist Algerien nicht in Schubladen zu stecken". An wen adressieren Sie diesen Satz? Auch an sich selbst? Schließlich treffen Sie in Algerien auf Frauen, die Kopftuch tragen, ebenso wie auf jene, die dies sogar in den "Schwarzen Jahren" nicht getan haben.
 Ja, damit meine ich durchaus auch mich. Es ist ja bekannt, dass ich das Kopftuch als Symbol der Islamisten sehr kritisch sehe. Aber das heißt nicht, dass wir uns ein Urteil erlauben dürfen über jede Frau, die ein Kopftuch trägt - schon gar nicht über die in den muslimischen Ländern, die es nicht selten aus Angst oder Konformismus tragen.

Sie enthalten sich von Diskussionen mit Frauen, die das Kopftuch tragen. Sind Sie in derselben Situation wie Politiker hierzulande - Sie wollen sich nicht dem Vorwurf der Bevormundung, der unerwünschten Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder aussetzen?
Nein. Mein letzter Besuch war eine Reportagereise. Und da wollte ich beobachten - und die Situation nicht durch Intervention verfälschen.

Welches Fazit sollen wir für Deutschland aus dem Buch ziehen? "Laissez-faire"? In die Offensive gehen? Kopftuch verbieten? Aber was ist mit Frauen hierzulande, die offen ein Kreuz tragen. Nicht nur als modischen Gag, sondern aus Überzeugung? Schränken wir da nicht die wertvolle Freiheit der Religion ein?
Mein Buch zeigt, welchen Schrecken die radikalen Islamisten zum Beispiel in Algerien verbreitet haben: Allein in dem von ihnen angezettelten Bürgerkrieg in den 90er-Jahren, den "Schwarzen Jahren", über 200000 Tote. Die meisten Algerier können nicht verstehen, dass man im Westen mit den Islamisten sympathisiert, statt mit ihnen, deren Opfern. Vor allem Linke und Liberale suchen den falschen Schulterschluss, auf Kosten der nicht fanatischen Mehrheit der Muslime. Der Islam ist eine Weltreligion, die zu tolerieren ist - aber der politisierte Islam, der Islamismus, ist eine rechte Ideologie, die zu bekämpfen ist. In Algerien wie in Deutschland. Zeit, dass wir das endlich begreifen.

Das Interview erschien am 26. April 2019 im Donaukurier. Die Fragen stellte Barbara Fröhlich.

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