Schwestern der Nacht: Punk!

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Alles ist vorbereitet. Fotos, Briefe, Taschenkalender und Archive sind gesichtet. Meine große schwarze Schreibtischplatte ist leer gefegt. Die Reisenotizen sind ausgewertet, die Wiederbegegnungen mit den Stationen meines Lebens: meine Heimatstadt Wuppertal, die nur 50 Kilometer entfernt liegt von Köln, wo ich seit 34 Jahren lebe; das fränkische Dorf, in dem ich bei Kriegsende sechs Jahre lang evakuiert war; München, wo ich in den frühen 1960er-Jahren im Swinging Schwabing gefeiert und gejobbt habe; Düsseldorf, Hamburg und Frankfurt, wo ich als junge Journalistin gestartet bin; Berlin, wo ich Mitte der 1970er-Jahre bei meiner Rückkehr aus Frankreich einen wahren Kulturschock erlitten habe – und mein geliebtes Paris, das mich so entscheidend geprägt hat und wo ich gleich zwei Mal gelebt habe: als Sprachstudentin in den 1960ern und als Korrespondentin in den 1970ern.

Jetzt sitze ich 50 Autominuten entfernt von Köln in meinem 400 Jahre alten Fachwerkhaus mit Blick auf die ebenso alte Linde. Die beiden waren vor mir da und werden nach mir da sein. "Arbeitsklausur" lautet das Stichwort, denn zum Schreiben muss ich allein sein. Ungestörte Wochen liegen vor mir. Das heißt, wenn nicht gerade meine Katze Frizzi ihren Kopf gegen die geschlossene Türe meines Arbeitszimmers donnert oder Noah, mein vierjähriger Nachbar, sich durch den von uns gemeinsam frei geschnittenen Tunnel in der Hecke schiebt, sich vor meinem Fenster auf die Zehen stellt und mault: »Bist du bald mal fertig mit deinem Buch?«, sowie energisch sein »grünes Getränk« verlangt. Das ist die Menthe à l’eau, der Pfefferminzsirup, den ich seit Jahren jeden Sommer aus Frankreich mitbringe. Dabei gibt es den sicherlich längst in jedem deutschen Supermarkt.

Vor mir liegt eine Reise durch mein eigenes Leben. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich mich für unendlich viele andere Leben interessiert und Menschen befragt. Immer mit Leidenschaft, immer getrieben von der Frage nach den Prägungen, die die Frauen und Männer formen, und den Freiheiten, die sie sich darum oder trotzdem nehmen.

In den letzten Jahren begann ich zu spüren, wie meine Neugierde auf mich selber wuchs. Ich habe selten innegehalten in meinem Leben. Es gibt einfach immer zu viel zu tun. Und ich bin auch nicht der Mensch, der sich am liebsten mit sich selbst beschäftigt und über seine Befindlichkeiten beugt. Dafür finde ich die Welt viel zu aufregend. Doch jetzt möchte ich mir die Zeit nehmen, mich selber zu befragen: Was hat mich geprägt? Wie waren die Bedingungen und Begegnungen meines bisherigen Lebens? Und – was habe ich daraus gemacht?

Ich bin in der etwas speziellen Lage, dass es ein öffentliches Bild von Alice Schwarzer gibt. Man glaubt zu wissen, wer ich bin, obwohl ich nur sehr selten öffentlich über mich selber geredet und kaum je über mich geschrieben habe. Manches von diesem Schwarzer-Bild basiert auf meinen Texten, meinem politischen Engagement und meinen öffentlichen Auftritten. Doch viel ist geprägt von Klischees. Dass meine Realität in weiten Strecken so ganz anders aussieht als diese Projektionen, auch das gilt es zu sagen.

Ich bin gespannt auf diesen Streifzug durch mein eigenes Leben. Doch ich habe auch Angst davor. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt, wenn ich daran denke.

Alice Schwarzer, im Juli 2010

Der Text ist das Vorwort von Alice Schwarzers Autobiografie "Lebenslauf" (Kiepenheuer & Witsch, 22.99 €) - Im EMMA-Shop kaufen

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