Alice Schwarzer schreibt

Äußere und innere Grenzen

© Martin Steger
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Geschätzte Psychoanalytikerinnen und Analytiker, Therapeutinnen und Therapeuten,

es ist für mich eine ganz besondere Freude, heute hier am Vorabend Ihres Jahreskongresses zu Ihnen reden zu dürfen. Denn Psychoanalyse und Feminismus sind so etwas wie Geschwister. So ist schon das Entstehen der Psychoanalyse auch – und vielleicht vor allem – im Kontext der ersten Frauenbewegung zu verstehen. Und ohne das Leiden an den Geschlechterverhältnissen, ohne das bewusste oder unbewusste Aufbegehren von Individuen gegen die Zwänge und Grenzen der so genannten „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ hätte die Psychoanalyse wohl bedeutend weniger Stoff.

Heute, hundert Jahre später, geht es wieder verschärft um Geschlechterrollen: Und zwar sowohl um die Befreiung davon – als auch um die Rekonstruktion der so genannten „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“.

In Bezug auf die Frauen hat die zunächst männerbeherrschte Psychoanalyse schon immer geschwankt zwischen Anpassung und Befreiung, je nach Zeitgeist und Analysierenden. Zur Befreiung haben innerhalb der Psychoanalyse vor allem die feministischen Rebellinnen beigetragen, von Karen Horney bis Margarete Mitscherlich.

Für uns Feministinnen war die Psychoanalyse von Anbeginn an eine Herausforderung. Nicht zuletzt, weil es uns nicht nur um die Veränderung der Gesellschaft geht, sondern auch um unsere eigene. Die Voraussetzung jeder wahren Emanzipation ist ja bekanntlich die Selbsterkenntnis. Und zu der trägt die Psychoanalyse leider nicht immer, aber doch im besten Fall bei.

Wir Feministinnen haben viel erreicht. Sehr viel. Keine soziale Bewegung hat im 20. Jahrhundert so tiefgreifend unsere Gesellschaft verändert wie die Frauenbewegung. Seit Jahrtausenden basieren auf der Geschlechterhierarchie alle anderen Hierarchien – und diese fundamentale Geschlechterhierarchie haben wir erschüttert. 

Drei, vier Jahrzehnte sind für ein Menschenleben viel, für die Menschheits­geschichte allerdings sind sie nur ein ­Wimpernschlag. Ist die Emanzipation der Frauen also etwa zu schnell gegangen? Und stecken wir nicht zuletzt darum mitten in einer Reaktion darauf in einem Backlash – sowohl innerhalb unserer Kultur wie auch global? Auch diesen Fragen möchte ich hier nachgehen.

Zu Beginn der Neuen Frauenbewegung, Anfang der 70er Jahre, war das Verhältnis des Feminismus zur Psychoanalyse angespannt. Auch stellten wir Feministinnen grundsätzlich alle männlichen Auto­ritäten infrage. Ich erinnere mich, dass ich zum Beispiel im „Kleinen Unterschied“ so ganz en passant sowohl Freud, wie Balint als auch Alexander Mitscherlich vors Schienbein getreten habe. Verständlicherweise hatte die TV-Kultursendung TTT sich darum etwas versprochen von einem „Streitgespräch“ zwischen Margarete Mitscherlich und mir – Weiberzank ist ja ­bekanntermaßen der Medien Liebstes.

Bei unserer ersten Begegnung 1975 in Mitscherlichs Wohnung, damals noch im 18. Stock eines Hochhauses in Frankfurt-Höchst, holte Alexander Mitscherlich mich in dem für Krankenschwestern gebauten Haus unten ab und sagte zu mir im Aufzug: „Hier müsste es Ihnen gefallen, Frau Schwarzer. Hier wohnen nur Frauen.“ Na, das kann ja heiter werden, dachte ich.

Und es wurde auch heiter. Echt heiter. Denn Margarete Mitscherlich stand bei den Fragen von Liebe, Sexualität und Macht – darum ging es ja im „Kleinen Unterschied“ – der Sinn so gar nicht nach einer Kontroverse mit mir. Wir waren uns in quasi allen Punkten einig. Es war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft.

Allerdings: Als Margarete dann in der ersten EMMA-Ausgabe im Januar 1977 bekannte „Ich bin Feministin“, da machte sie sich damit nicht nur Freunde in psychoanalytischen Kreisen. Damals, vor 40 Jahren, war der Feminismus noch eine No-go-Area. Das hat sich allerdings selbst in der Psychoanalyse inzwischen geändert, wie wir schon an Ihrer Einladung meiner Person sehen. 

Doch kommen wir zu dem Thema Ihres Kongresses: den Grenzen. Sie haben das Thema in einer Zeit dramatischer ­Umbrüche gewählt. Auf Phasen großer Fortschritte folgen Rückschläge. Das ist eine historische Gesetzmäßigkeit. Und während wir noch von äußeren Hürden reden, scheinen wir zu übersehen, dass auch so manche innere Hürde erneut wächst. Wir halten heute Phänomene wieder für „Privatsache“, die wir in den 70er und 80er Jahren längst als gesellschaftlich bedingt erkannt hätten.

Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Als Mitte der 70er Jahre die ersten Frauenhäuser ihre Pforten öffneten, begann ein schmerzlicher Erkenntnisprozess. Es genügte in etlichen Fällen nicht, den geschlagenen und vergewaltigten Frauen jenseits der Grenzen ihrer häuslichen Tyrannei eine Zuflucht für ihre Körper zu bieten – sie hatten nicht selten das Gesetz des ­Tyrannen auch verinnerlicht. Und so kehrte so manche zwei-, dreimal zu ihrem Peiniger zurück, bevor sie sich auch innerlich in die Freiheit entlassen konnte.

Diese Frauen sagten dann, sie gingen zurück „aus Liebe“ und „freiwillig“. Es war nicht zuletzt die Psychoanalyse, die half, den aus den Machtverhältnissen resultierenden weiblichen Masochismus zu erkennen als lustvolle Besetzung eines unvermeidbaren Schmerzes.

Die Redewendungen „aus Liebe“ oder „freiwillig“ feiern heute fröhliche, unhinterfragte Urstände. „Aber wenn die Frauen das doch freiwillig tun, Frau Schwarzer.“ Diesen Satz höre ich neuerdings immer öfter. 

Nehmen wir zum Beispiel die Burka, beziehungsweise den Niqab, also die Vollverschleierung einer Frau von Kopf bis Fuß, inklusive Verhüllung des Gesichtes. 

In immer mehr Ländern der Welt werden Millionen Frauen unter das Kopftuch oder den Vollschleier gezwungen. Von Freiwilligkeit kann da nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Es kann für diese Frauen eine Frage auf Leben und Tod sein, wenn ihr Schleier auch nur verrutscht. Sie leben in Gesellschaften, in denen sie total entrechtet sind: juristisch, ökonomisch und psychosozial. Sie sind abhängig von Vater, Bruder oder Ehemann. Auch die Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder ist dort bis heute ein Herrenrecht. Kurzum: Diese Zwangsverschleierten sind Sklavinnen. (…)

Der Islamismus ist der Faschismus des 21. Jahrhunderts. Und ganz wie dieser hat er zwar komplexe Gründe, ist jedoch vor allem eine Reaktion auf die Moderne und deren Erschütterung der Geschlechterhierarchie. Beides, Faschismus und Islamismus, sind Männerbünde, in denen der Männlichkeitswahn Urstände feiert.

Die Flüchtlinge nun, die heute zu uns kommen, sind nicht selten vor dem Krieg und vor dem Islamismus geflohen – gleichzeitig aber sind sie von ihm und den Traditionen geprägt. Diese Frauen und Männer kennen in der Regel keine Infragestellung der Geschlechterrollen. Sie kommen aus zutiefst patriarchalen Verhältnissen. Sie sind tausende von Kilometern gegangen, um zu uns zu gelangen – aber sie müssten im Kopf nochmal tausende von Kilometern gehen, um bei uns ­anzukommen (wie der algerische Schriftsteller Kamel Daoud sagt).

Viele wollen ankommen. Andere wollen vor allem Sicherheit oder einfach ein besseres Leben, aber sind wenig bereit, sich auch selber zu ändern. Und eine Minderheit kommt gar in feindlicher Absicht. Letztere müssen wir so rasch wie möglich erkennen und uns vor ihnen schützen. Der Mehrheit der beiden ersten Gruppen aber müssen wir helfen. Und zwar nicht, indem wir das Problem kleinreden oder gar leugnen, sondern indem wir es ansprechen und angehen. Indem wir sie fördern – und fordern! (…)

Die Entrechtung der Frauen ist das Ziel Nummer 1 der Islamisten. Es folgt die Ächtung von Homosexuellen und Juden. Und sodann allen, die noch nicht auf den Knien liegen, Kreative oder Intellektuelle vorweg. Umso erstaunlicher, dass hier­zulande gerade Letztere die Gefahr nicht erkennen wollen. 

Von Anbeginn an war das Kopftuch für die Islamisten nicht nur Tradition, sondern auch Symbol: ein politisches Symbol, kein religiöses. Die Prozesse um das „Recht“ auf das Kopftuch für Lehrerinnen in weltlichen Schulen wurden bis hin zum Verfassungsgericht von deutschen Islamverbänden unterstützt, wenn nicht initiiert. Von der Ditib bis zum „Zentralrat der Muslime“. Diese Verbände sind in Deutschland eher rückwärtsgewandt und schriftgläubig. Und sie sprechen oft eine doppelte Sprache: nach außen fortschrittlich, nach innen repressiv. Sie ziehen Grenzen, statt sie zu öffnen.

Das deutlichste Zeichen der Abgrenzung von Muslimen gegenüber Nichtmuslimen sowie zwischen Männern und Frauen ist das Kopftuch, von der Vollverschleierung ganz zu schweigen. Eine repräsentative Studie ergab allerdings, dass die Mehrheit, nämlich vier von fünf Musliminnen der zweiten und dritten Generation in Deutschland kein Kopftuch tragen. Und sogar jede zweite sich selbst als „strenggläubig“ bezeichnende Muslimin hat noch nie ein Kopftuch getragen. Das spricht für eine weitgehend gelungene Integration. Umso erstaunlicher, dass die Medien den Eindruck erwecken, in Reportagen wie Talkshows: Muslimin gleich Kopftuchträgerin.

Doch was auch das jeweils subjektive Motiv einer Frau für die Verschleierung sein mag – objektiv ist diese immer auch ein politisches Signal. Das scheinen vor allem Linke und Liberale im Westen immer noch nicht begriffen zu haben. Sie überlassen ­fatalerweise das berechtigte Unbehagen der Bevölkerung an der islamistischen Agita­tion den rechten Populisten. 

Und da haben wir noch nicht von der Vollverschleierung geredet: der Burka oder dem Niqab. In einer Welt, in der der Schleier für Millionen Frauen ein Leichentuch ist, scheint mir das Nicht-Verbot der öffentlichen Vollverschleierung von Frauen der nackte Zynismus und reiner West-Luxus. Die Akzeptanz dieser frauenverachtenden Sitte ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Das Argument pro Burka auch mitten im Westen lautet: Die Frauen tun das doch freiwillig. Freiwillig?

So freiwillig, wie vorgeblich auch manche Frauen, die sich professionell entblößen. Zwischen diesen Entblößten und den Verhüllten gibt es übrigens frappante ­Parallelen.

Auch in der Prostitutionsbranche agiert und agitiert in der Öffentlichkeit eine sehr überschaubare Minderheit, die sich „gerne und freiwillig“ prostituiert. Auch diese in der Regel immer gleichen so genannten „Sexarbeiterinnen“ werden vorzugsweise in den Medien zitiert. Diese Lobbyistinnen des Sexgewerbes sind übrigens selber in der Regel Ex-Prostituierte, die heute Bordell- beziehungsweise Studio-Betreiberinnen sind, wie es so nett heißt. Sie lassen längst andere Frauen für sich anschaffen.

Die überwältigende Mehrheit der Frauen in der Prostitution in Deutschland aber, über 90 Prozent, kommt aus Osteuropa. Diese Hunderttausende von Frauen werden so manches Mal sogar von den eigenen Eltern anschaffen geschickt oder von Frauenhändlern unter falschen Voraussetzungen in die hiesigen Bordelle verschleppt. Sie sprechen oft kein Wort Deutsch und müssen bis zu zwanzig Männer am Tag bedienen, um in den Laufhäusern überhaupt die bis zu 180 Euro Miete am Tag – am Tag! – zu erwirtschaften. Und sie werden als „Frischfleisch“ von Zuhältern alle paar ­Wochen in ein anderes Bordell verladen.

Der Frauenhandel ist heutzutage noch profitabler als der Drogen- und Waffenhandel. In dem Milliardengeschäft sind Profitraten von bis zu 1000 Prozent normal. Und das alles im Namen der Emanzipation und der Freiwilligkeit. Wir sind so frei.

Übrigens: Bis vor kurzem betrug der Tarif im Bordell noch 30 Euro, inzwischen sinkt er gegen 20 – die Flüchtlingsfrauen machen es möglich. Und auf der Straße kann eine besonders verzweifelte Frau auch schon mal für fünf Euro gekauft werden.

Von den wenigen Frauen, die der Prostitution entkommen und das Privileg haben, therapiert zu werden, berichten ­internationale Studien Folgendes: Die posttraumatischen Störungen von Prostituierten ähneln denen von KZ-Überlebenden und Kriegsveteranen – ganz wie die der Opfer von Familientyrannen. So schließt sich der Kreis.

Lassen Sie mich zum Schluss einen Vergleich ziehen. Die meisten von Ihnen werden „Vom Winde verweht“ gelesen oder gesehen haben. Und Sie werden sich an „Mami“ erinnern, die treue schwarze Dienerin von Scarlett, die sicherlich ihr Leben für ihre junge Herrin gegeben hätte. Mami war eine Haussklavin und hatte als solche in der Tat relative Vorteile gegenüber den elenden Feldsklaven. Und sie liebte ihre Herrin wie eine eigene Tochter. 

Hätten wir Mami deshalb verdammt oder gar zwangsbefreit? Gewiss nicht. Hätten wir deshalb die Sklaverei für richtig ­befunden, denn schließlich war Mami ja „freiwillig“ Sklavin? Gewiss nicht.

Übrigens nennt man die Prostitution im englischen Sprachraum „White Slavery“, weiße Sklaverei. Prostitution existiert auf der ganzen Welt, auch da, wo sie geächtet wird. Der deutsche Sonderweg ihrer Legalisierung, ja Salonfähigkeit allerdings ruft in Ländern, in denen die Prostitution als Verstoß gegen die Menschenwürde verstanden wird und illegal ist – wie in den USA, in Skandinavien oder Frankreich – erstauntes Kopfschütteln hervor.

Wir Frauen und Männer der westlichen Welt haben also auch ohne Flüchtlinge noch ein gerüttelt Maß an Problemen. Auch vor Silvester 2015 kannten wir das Problem der Gewalt gegen Kinder und Frauen; eine epidemische Gewalt von Männern, die der dunkle Kern der Männerdominanz ist. 

Gleichzeitig aber haben wir innerhalb weniger Jahrzehnte einen Grad von Gleichberechtigung erreicht, von dem die Menschen in anderen Teilen der Welt nur träumen können – und wohinter wir nicht mehr zurückfallen wollen. Äußere wie ­innere Grenzen sind gefallen – allerdings auch Schutzgrenzen; in der Illusion, die hätten wir nicht mehr nötig. 

Dennoch. Wir sind auf dem Weg. Von diesem Weg dürfen wir uns weder von der Illusion falscher Freiheiten noch von äußeren Erschütterungen abbringen lassen. Sie, liebe AnalytikerInnen und TherapeutInnen, sind darum heute mehr denn je ­gefordert. Gefordert, nicht nur zur Selbsterkenntnis der Individuen beizutragen, sondern auch zur Selbsterkenntnis unserer Gesellschaft. 

Auszug aus der Festrede von Alice Schwarzer auf dem Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Psycho­analyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie“ (DGPT), Berlin, September 2016

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