Alice Schwarzer schreibt

Es geht immer um Scham

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"Die Scham ist vorbei.“ So lautete in den 1970er-Jahren der Titel eines in frauenbewegten Kreisen beliebten Buches. Und ja, es stimmte: Die Scham schien vorbei. Womit die höchste innere Hürde überwunden schien – und der Weg frei für die Überwindung der äußeren Hürden.

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Die Belästigung im Beruf war
vor 42 Jahren erstmals Thema

Vor 46 Jahren hatten Frauen erstmals öffentlich gesagt: Ich habe abgetrieben und schäme mich nicht; im Gegenteil – eine Gesellschaft, die ungewollt Schwangere auf den Küchentisch von Engelmacherinnen treibt und so ihr Leben in Gefahr bringt, sollte sich schämen! Ein paar Jahre darauf gestanden die ersten Frauen: Ja, mein Mann schlägt mich; doch dafür muss nicht ich mich schämen, sondern er. Wenig später erklärten Frauen öffentlich: Ja, ich bin vergewaltigt worden – aber das war nicht meine Schuld, sondern sein Verbrechen. Doch als EMMA dann 1977 als erste über sexuellen Missbrauch von Kindern schrieb, dauerte es noch ein paar Jahre, bis die so früh Gebrochenen sich kollektive Stimmen gaben.

Und die „sexuelle Belästigung im Beruf“? Die machten vor 42 Jahren als erste Amerikanerinnen öffentlich: die sexuelle Jagd, sexual harassment! Deutsche Frauen übernahmen das Schlagwort in der verharmlosenden Formulierung der „sexuellen Belästigung“. 

Seither ist viel passiert. Frauen sind stärker geworden. Männer einsichtiger. Nicht alle, aber viele. Doch es gibt sie immer noch: die Scham. Die Scham der Frauen.

Sie schämen sich dafür, zu der Sorte Mensch zu gehören, mit der man es machen kann. Am liebsten würden sie es sich noch nicht einmal allein vorm Spiegel eingestehen: Ich bin herabwürdigend behandelt worden, weil ich eine Frau bin. Ich bin angetatscht worden, weil ich eine Frau bin. Ich bin vergewaltigt worden, weil ich (s)eine Frau bin.

Nein, ich doch nicht!

Ein fast tragisches Beispiel dafür lieferte jüngst im Stern eine erfahrene Reporterin. Im Rahmen der Berichterstattung der MeToo-Bewegung berichtete sie über 30 Jahre bitterer eigener Erlebnisse mit sexualisierter Erniedrigung. Die Täter: von ihr interviewte Politiker und die eigenen Kollegen. Doch mitten in der Aufzählung des Grauens, das einem schier den Atem verschlug, schrieb sie: „Vieles an der aktuellen Debatte scheint mir überzogen. Wir sind doch deshalb noch keine Opfer!“

Klar, wir doch nicht. Wer will schon Opfer sein?! Opfer. Heutzutage ein Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen: „Du Opfer!“ Dieser Hohn verschließt Opfern endgültig den Mund. Wie praktisch für die Täter. Denn wo keine Opfer sind, sind auch keine Täter.

Übrigens, Frau Kollegin, sobald Opfer sich wehren, sind sie keine Opfer mehr.

Sobald Opfer sich wehren,
sind sie keine
Opfer mehr.

Aber ist das Ganze nicht eigentlich gar kein Problem zwischen Männern und Frauen, sondern ein allgemein menschliches? Sind nicht auch Männer Opfer? Das fragt man sich vor allem in Deutschland – gegen alle Lebenserfahrungen und Statistiken. Der Spiegel allen voran. Mitten in einer fundierten Titelgeschichte über sexuelle Gewalt im Beruf und die wiedererwachte Gegenwehr zitierte das Blatt einen gewissen Joris Lammers. Nie gehört? Ich auch nicht. Google sagte mir, dass er Assistenzprofessor an der Uni Köln ist. Warum gerade er zitiert wird? Nicht etwa wegen bahnbrechender neuer Erkenntnisse, sondern wegen geschmeidiger Willfährigkeit.

Denn der Psychologe „glaubt nicht, dass Frauen ihre Macht weniger ausnützen würden als Männer“, heißt es. Glaubt. Würden. Da macht der Spiegel sich schon mal vorauseilend Sorgen: „Warum werden dann aber mehr Männer als Frauen auf frischer Tat ertappt?“, fragt er. Allen Ernstes. Herr Lammers kennt die Antwort: „Weil es vielleicht weniger als Skandal gesehen wird, wenn Frauen Untergebene verführen. Und sich die Männer möglicherweise auch weniger laut beschweren.“ Verführen. So steht es 2017 im Spiegel. Und niemand lacht. In Deutschland geht sowas durch.

Über Jahrtausende war Sexualität nicht ein Instrument zur Erzeugung von Lust, sondern von Macht: zur Beherrschung der Frauen. Der Anspruch einer gleichberechtigten, kommunikativen Sexualität, auch zwischen den Geschlechtern, ist relativ neu. Es ist ein zartes Pflänzchen, das gehegt und geschützt werden muss. Aber da, wo weiterhin Machtverhältnisse herrschen, hat dieses zarte Pflänzchen wenig Chancen zu gedeihen.

Das Fundament jeder Gleichberechtigung, also Eigenständigkeit, ist die Ökonomie. Wir wissen, der vor allem Lebenslauf-bedingte Gender Pay Gap zwischen Frauen und Männern beträgt in Deutschland 22 Prozent. Und jede zweite berufstätige Frau arbeitet teilzeit. Das Weltwirtschaftsforum meldet: In Sachen wirtschaftlicher Gleichheit liegen Frauen in Deutschland im Jahr 2017 auf Platz 43, noch hinter Kamerun und Jamaika.

Diese Abhängigkeit ist der Boden, auf dem die Scham gedeiht, oft missverstanden als Demut – und umgekehrt: Diese Scham verhindert das Selbstbewusstsein, das es für einen eigenen, selbstbestimmten Weg braucht. Und dann ist da noch die Angst. Die Angst, dass der Ehemann sich eine Handzahmere nimmt, wenn seine Frau unbequemer wird. Die Angst, die Stelle zu verlieren, wenn die Angestellte fordernder wird. Die Angst vor dem Blick des Anderen, die Angst, sich zu „blamieren“.

Wir wissen es schon lange aus Umfragen: Das Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden, ist in zwei gegensätzlichen Branchen besonders groß: in klassischen Frauenbranchen, wo Gefälligkeit zum Berufsbild gehört (vom Zimmermädchen bis zur Schauspielerin) und in traditionellen Männerbranchen, wo die Erstgeborenen das Eindringen der Neuen durch sexuelle Stigmatisierung und Gewalt abwehren (von der Polizei bis zum Militär). Und klar, in den Chefetagen.

Das Praktische für die Sexualtäter ist, dass das Opfer immer Beweisschwierigkeiten hat. Denn in der Regel werden die Herren ja übergriffig, wenn sie mit ihren Opfern allein sind. Also „Aussage gegen Aussage“, wie mir jüngst nach meinem Vortrag in Stuttgart ein älterer Gentleman aus der Chefetage triumphierend zuzischte: „Keine Beweise!“

Beim Vergleich mit anderen Ländern der westlichen Welt scheint die Einschüchterung der Frauen in Deutschland noch immer besonders niederschmetternd. Es fällt auf, dass ausgerechnet hierzulande bisher noch kein einziger Täter-Name genannt wurde (Anfang des Jahres fiel ein erster Name: Der des Regisseurs Dieter Wedel - er hat allerdings schon einen Eid darauf geschworen, dass alles ganz anders gewesen sei). Dafür hat aber schon mal ein Berliner Prominentenanwalt vorauseilend mutmaßliche Opfer gewarnt („Beweise!“). Und eine Hamburger Journalistin auf der oberen Hierarchieleiter der Zeit hat tatsächlich zur juristischen Verfolgung ihrer eigenen jungen Kollegin von ZeitOnline geraten. Die hatte gewagt, Andeutungen über sexuelle Gewalttäter im Berliner Kulturbetrieb zu machen, ohne Namen zu nennen.

Gegen solche Einschüchterungsversuche wagen jetzt Frauen in der ganzen Welt – gerade sogar in dem arabischen Land Jordanien! – sich zumindest im öffentlichen und beruflichen Bereich zu wehren. Im privaten Bereich sieht das allerdings nochmal anders aus.

Je „privater“ die sexuelle Gewalt ist, umso heißer wird das Terrain. Die Vergewaltigung auf der Straße wird inzwischen verfolgt (doppelt, sobald es ein dunkler Ausländer ist). Die sexuelle Gewalt im Beruf wird nun immerhin wieder thematisiert. Aber die sexuelle Gewalt im Ehebett oder Kinderzimmer – das ist weiterhin das ganz große Tabu. Diese Opfer stoßen auf eine mächtige Lobby, die grundsätzlich als erstes tönt: Das Kind/die Frau lügt!

Was wir Frauen brauchen, sind männliche Verbündete!

Ein Paradebeispiel dafür ist der Fall Woody Allen. Er ist letztendlich nicht zufällig der Auslöser für den Weinstein-Skandal. Der Sohn von Woody Allen hat ihn ins Rollen gebracht. Nachdem Ronan Farrow vor 25 Jahren ohnmächtig hatte zusehen müssen, wie die Klage seiner siebenjährigen Schwester Dylan wegen Vergewaltigung durch den Vater ungehört verhallte; nachdem der Sohn weiter zusehen musste, wie sein Vater mit einer anderen seiner (sozialen) minderjährigen Töchter Pornos produziert hatte und sodann das traumatisierte ehemalige Straßenmädchen aus Asien heiratete; nachdem der Sohn hinnehmen musste, dass auch die öffentliche Distanzierung von seinem Vater, dem „Zerstörer meiner Familie“, von ihm und seinen Geschwistern ungehört verhallte und der Täter bis heute auf allen Festivals über den roten Teppich schreitet – nach all dem entschloss Ronan sich, zu handeln. Er unterlag bei der Anklage der „privaten“ Sexualgewalt – aber siegte bei der im Beruf.

Woody Allens Sohn Ronan war es, der 2016/2017 zusammen mit seiner Mutter Mia Farrow monatelang recherchiert und es geschafft hat, Stars und Sternchen in Hollywood zum Reden zu bewegen. Doch auch der Bericht des Journalisten landete bei seinem TV-Sender NBC in der Schublade. Monatelang. Bis Ronan Farrow zum New Yorker ging. Das Wochenmagazin veröffentlichte seine Recherchen. Und wenige Tage vor Erscheinen zog die Tageszeitung New York Times mit ihren Enthüllungen vor. Auch die müssen schon lange in der Schublade gelegen haben. Das ist die Rache des Sohns am Vater und an ganz Hollywood, das weggesehen hatte.

Was wir Frauen also brauchen, sind männliche Verbündete! Ihre Stimme, auch die unserer Söhne, wiegt immer noch um so vieles mehr als unsere. Wir brauchen sie auf allen Ebenen: zuhause, im Büro, in den Medien, in der Justiz, in der Politik!

Also, Männer: #HowIWillChange!

Alice Schwarzer

Aktualisierte Fassung vom 12. Januar 2018

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Alice Schwarzer schreibt

Alle wussten bescheid. Und jetzt?

Harvey Weinstein mit seiner nun Ex-Frau Georgina Chapman (re). © David Heerde/Imago
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Jeden Tag mehren sich die Klagen. Harvey Weinstein, 65, der „Gott von Hollywood“, hat in den vergangenen drei Jahrzehnten Dutzende, wenn nicht Hunderte von Frauen sexuell angefallen. Nie auf Augenhöhe, sondern immer aus seiner Machtposition heraus als Filmproduzent. Er hat Stars und Sternchen bis hin zur Vergewaltigung angegangen, sagt Asia Argento. Die italienische Schauspielerin war zum Zeitpunkt des Geschehens, 1997, erst 21, aber schon ein Star in ihrer Heimat. Das hat sie nicht geschützt.

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Die Umstände der Affäre Weinstein gleichen frappant denen der Affäre Strauss-Kahn (2011). Erschütternd viele in der jeweiligen Branche, Politik bzw. Film, haben es gewusst oder mindestens geahnt, aber alle haben weggesehen und geschwiegen. Und die Medien haben mitgespielt. Denn der Hollywood-Boss war so mächtig, dass er nicht nur SchauspielerInnen-Karrieren, sondern auch JournalistInnen-Karrieren machen oder vernichten konnte.

Die Affäre Weinstein gleicht der Affäre Strauss-Kahn

Auch die New York Times, die jetzt den Anstoß für die Enthüllung gab, hat lange geschwiegen. Schon 2004 war die Journalistin Sharon Waxman im Auftrag der NYT auf den Spuren von Weinstein, bis hin nach Italien und England. Bereits damals gab es Gerüchte, dass Weinstein Frauen, die auspacken wollten, den Mund mit Dollars stopfte. Oder aber Schmutzkampagnen über sie in den Medien lancierte.

Waxman schrieb die Geschichte – sie wurde nie gedruckt. Weinstein, ein mächtiger Mann auch als Anzeigengeber, soll direkt interveniert haben. Heute kann sich bei der NYT niemand „so recht daran erinnern“. Waxmans damaliger Ressortleiter (und späterer stellvertretender Chefredakteur) Jon Landman behauptet nun, Waxmans Geschichte damals sei „nicht handfest genug“ gewesen. Für die jetzige Story habe die NYT schließlich monatelang recherchiert. – Wie vielen Frauen wäre Leid erspart geblieben, wäre die NYT schon vor 13 Jahren ihrer Informationspflicht nachgekommen.

Zögernd aber dennoch haben sich inzwischen zahlreiche Stars „mit Entsetzen“ von Weinstein abgewandt. Sie waren zum Teil sogar selber Opfer und haben ihre Solidarität mit allen Betroffenen bekundet: von Angelina Jolie und Kate Winslet über Gwyneth Paltrow bis hin zu Meryl Streep. Weinsteins Anwältin Lisa Bloom hat ihr Mandat niedergelegt. Die Firma, die seinen Namen trägt, hat ihn gefeuert. Und seine Frau Georgina Chapman hat sich von ihm getrennt. Das hatte bei Strauss-Kahn vor sechs Jahren alles noch sehr viel länger gedauert.

Doch eine weitere Parallele zu Strauss-Kahn, dem einstigen IWF-Chef und sozialistischen Beinahe-Präsidenten von Frankreich, drängt sich auf: Beide Männer waren angesehene Linksliberale. Weinstein ist bekannt als Förderer sozialer Gerechtigkeit, im Film wie im Leben. Er ist Produzent von Filmen wie dem über Nelson Mandela und unterstützte die Clintons ebenso wie Barack Obama. Dessen Tochter war bei Weinstein Praktikantin.

In einem Punkt allerdings unterscheiden sich die beiden Männer: Der Franzose Strauss-Kahn hat bis heute zu seinen Untaten geschwiegen; der Amerikaner Weinstein ließ jetzt erklären, er sei „in den 70er Jahren sozialisiert worden“ und habe offensichtlich etwas nicht mitbekommen. Nun habe er sich aber in Therapie begeben, um „ein besserer Mann“ zu werden und seine „Dämonen zu besiegen“. Was am unterschiedlichen Klima in den beiden Ländern liegen wird. In Amerika weht heute ein scharfer anti-sexistischer Wind. 

Vollends zum Überschlag brachten weitere Enthüllungen des New Yorker die Affäre Weinstein. Das Blatt berichtete von den Vergewaltigungs-Beschuldigungen und enthüllte ein Tonband. Das hatte die Polizei verdeckt einem Model mitgegeben, das von Weinstein „benutzt“ worden war. Darauf ist zu hören, wie Weinstein den Missbrauch offen zugibt und sagt, er sei es gewohnt, sich die Frauen zu nehmen. Die Justiz habe aber keine ausreichenden Beweise, um ihn anzuklagen. Das war schon 2015.

Der New Yorker berichtet auch, dass quasi alle in Weinsteins Firma mitgespielt hätten. Manche weibliche Angestellten hätten Weinstein die Opfer regelrecht zugeführt und durch ihre Beteiligung geholfen, die Frauen zu täuschen. Da das Wochenmagazin New Yorker wenige Tage nach der Tageszeitung New York Times mit der Enthüllung rausgekommen ist, liegt es nahe zu vermuten, dass nur die Konkurrenz der beiden Blätter den Skandal endlich zum Platzen brachte.

Gegen
Woody Allen
ist Weinstein
ein Lamm.

Den Text für den New Yorker hat Ronan Farrow geschrieben, der Sohn von Mia Farrow und Woody Allen. Der hat, mit Hilfe seiner Mutter, zehn Monate lang in der Filmbranche recherchiert. Ronans Motivation ist klar: Es ist der eigene Vater. Gegen den ist Weinstein noch ein Lamm. Doch auch Ronan Farrows Enthüllungsgeschichte blieb zunächst monatelang in den Schubladen: beim NBC, für den der freie Journalist arbeitet. Schließlich ging Farrow zum New Yorker.

Zu Woody Allen allerdings schweigen bis heute (fast) alle. Der hatte in den 1980er Jahren innerhalb seiner eigenen Familie gewütet und war noch nicht einmal vor Übergriffen auf seine damals fünfjährige Adoptivtochter Dylan zurückgeschreckt. Der Sohn hat sich, wie alle Farrow-Allen-Kinder, schon lange vom Vater losgesagt, öffentlich. Hollywood hat dazu bis heute geschwiegen. Und die Medien machen mit, mehr noch: Sie feiern Woody Allen. Und: Auch Weinsteins Anwalt besteht bis heute darauf, dass es sich in allen Fällen um "einvernehmlichen Sex" gehandelt habe. 

Doch die gute Nachricht ist: Die Zeit scheint reif. Es geht nicht mehr durch. Wenn heute ein Gigant wie Weinstein über seine sexuellen Verbrechen fallen kann – dann kann es morgen jeder sein.

Bleiben wir also dran.

Alice Schwarzer

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