TIierrechte: Dreißig Jahre

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Peter Singer gilt als ‚Vater' der Tierrechtsbewegung. Sein Buch ‚Animal Liberation' löste 1975 die Tierrechtsbewegung aus. Für die New York Times ist er der "bedeutendste lebende Philosoph".
Der Begriff "Tierbefreiung" tauchte in den Medien 1973 zum ersten Mal auf der Titelseite der New York Review of Books auf. Unter diesem Titel besprach ich damals ‚Animals, Men and Morals' (Tiere, Menschen und Moral), eine Essaysammlung über unseren Umgang mit Tieren, und begann mit den Worten: "Wir kennen uns aus mit der Schwarzenbefreiung, der Schwulenbefreiung und diversen anderen Befreiungsbewegungen. Manche dachten, mit der Frauenbefreiung hätten wir das Ende des Weges erreicht." Aber da war noch etwas: die Diskriminierung der Tiere.
Ich zeigte auf, dass wir, trotz offensichtlicher Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, mit ihnen die Fähigkeit zum Leiden teilen. Das bedeutet, dass sie, genau wie wir, Interessen haben. Wenn wir ihre Interessen ignorieren oder unberücksichtigt lassen, nur weil sie nicht zu unserer Spezies gehören, so ist unsere Einstellung nicht besser als die eingefleischter Rassisten oder Sexisten, die glauben, dass die Angehörigen ihrer Rasse bzw. ihres Geschlechts einen überlegenen moralischen Status besitzen.
Denn obwohl die meisten Menschen den Tieren in Urteilsvermögen oder anderen intellektuellen Fähigkeiten überlegen sein mögen, rechtfertigt das nicht die Grenze, die wir zwischen Mensch und Tier ziehen. Die intellektuellen Fähigkeiten mancher Menschen - Kleinkindern und solchen mit ernsthaften geistigen Behinderungen - sind manchen Tieren unterlegen. Aber wir wären zu Recht schockiert, wenn jemand vorschlagen würde, diese intellektuell unterlegenen Menschen einem langsamen, schmerzhaften Tod auszusetzen, nur um zum Beispiel die Sicherheit von Haushaltsprodukten zu testen.
Wir würden es ebenfalls nicht hinnehmen, dass sie in kleine Käfige gesperrt, geschlachtet und gegessen werden. Die Tatsache, dass wir bereit sind, all das Tieren anzutun, ist daher ein Zeichen von ‚Spezifismus' - ein Vorurteil, das überlebt, weil es für eine Spezie, die dominante Gruppe zweckdienlich ist. In diesem Fall nicht nur für Weiße oder Männer, sondern für alle Menschen.
Das Buch, das aus diesen Überlegungen entstand, erschien 1975 (auf Deutsch 1980) und trug den Titel ‚Animal Liberation'. Es wurde zum Auslöser der ‚Tierrechtsbewegung'. Das ist jetzt über 30 Jahre her. Der offensichtlichste Unterschied zwischen der momentanen Diskussion und der vor 30 Jahren besteht darin, dass in den frühen 1970er Jahren in einem heute nur noch schwer vorstellbaren Ausmaß kaum jemand glaubte, der Umgang mit individuellen Tieren sei ein ethisches Thema, das ernst zu nehmen sei. Es gab nur den ‚Tierschutz', aber keine Organisationen für Tierrechte oder Tierbefreiung. Das Wohlergehen von Tieren war ein Thema für Katzen- und Hundebesitzer.
Heute ist die Situation vollkommen anders. Organisationen, die sich für Tierrechte einsetzen, sind in allen industrialisierten Ländern aktiv. Allein die amerikanische Gruppe ‚People for the Ehtical Treatment of Animals' (PETA) hat 750.000 Mitglieder und Förderer. Eine lebhafte intellektuelle Debatte ist entstanden. Diese Debatte ist längst nicht mehr nur ein westliches Phänomen. Führende Werke über Tiere und Ethik sind in viele Sprachen übersetzt worden, einschließlich Japanisch, Chinesisch und Koreanisch.
Die Kampagne gegen die vom amerikanischen Naturkundemuseum durchgeführten Experimente über das Sexualverhalten verstümmelter Katzen war 1976 der erste erfolgreiche Protest gegen Tierversuche in den Vereinigten Staaten. Henry Spira, der Initiator der Kampagne, brachte Erfahrung aus der Arbeit mit Gewerkschaften und der Bürgerrechtsbewegung mit und nahm danach größere Ziele in Angriff, wie das Testen von Kosmetika an Tieren.
Seine Vorgehensweise war, sich eine bekannte Firma auszusuchen, die Tiere benutzte - bei der Kosmetikkampagne begann er mit Revlon - und sie zu bitten, vernünftige Schritte zu unternehmen, um Alternativen zu Tierversuchen zu entwickeln. Da er immer zum Dialog bereit war und diejenigen, die Tiere missbrauchten, nie als üble Sadisten darstellte, hatte er bemerkenswerte Erfolge. Er weckte Interesse an der Entwicklung von Testverfahren ohne Verwendung von Tieren oder zumindest von weniger Tieren auf schmerzlosere Weise.
Offizielle Statistiken in Großbritannien zeigen, dass inzwischen dort nur noch knapp halb so viele Tiere für Experimente verwendet werden wie in den 70er Jahren. Schätzungen für die Vereinigten Staaten - wo es keine Statistiken gibt - deuten auf eine ähnliche Entwicklung hin. Vom Standpunkt einer nichtspezifistischen Ethik aus liegt zwar noch ein langer Weg vor uns. Aber die durch die Tierrechtsbewegung bewirkten Veränderungen bedeuten, dass jedes Jahr Millionen weniger Tiere qualvollen Prozeduren und einem langsamen Tod ausgesetzt sind.
Die Tierrechtsbewegung hat noch mehr Erfolge gehabt. Trotz der Behauptung der Fabrikanten, "Pelz ist wieder in", hat sich der Pelzmarkt seit den 80er Jahren, als die Tierrechtsbewegung dagegen zu Felde zog, noch nicht wieder wirklich erholt. Und obwohl die Anzahl der Hunde- und Katzenbesitzer seit 1973 fast auf das Doppelte angestiegen ist, hat sich die Anzahl der in Tierasylen und -heimen getöteten streunenden und unerwünschten Tier mehr als halbiert.
Diese bescheidenen Erfolge werden jedoch relativiert durch den gewaltigen Anstieg der zur Fleischproduktion auf amerikanischen Fabrikfarmen in Käfigen und Pferchen gehaltenen Tiere, manche so eng, dass sie sich kaum bewegen oder auch nur einen Schritt machen können. Das ist die bei weitem ausgedehnteste von Menschen begangene Tierquälerei, einfach weil die Anzahl der Tiere so gewaltig ist. Tierversuche gehen jährlich in die Millionen, aber im Jahr 2002 wurden allein in den Vereinigten Staaten zehn Milliarden Tiere - Geflügel und Säugetiere - zur Fleischproduktion gezüchtet und geschlachtet.
Mit 400 Millionen mehr in 2003 ist in den USA allein die Zunahme der Schlachttiere höher als die Gesamtanzahl der in den USA in Tierasylen und -heimen, für Versuche und Pelzproduktion getöteten Tiere. Die überwältigende Mehrheit dieser ‚Fabriktiere' verbringen ihr gesamtes Leben in geschlossenen Räumen, lernen nie frische Luft, Sonnenschein oder Gras kennen, bis sie zur Schlachtbank kommen. Gegen die Käfighaltung und das Schlachten von Nutztieren in Amerika war die Tierrechtsbewegung bis vor kurzem machtlos.
‚Slaughterhouse', das 1997 erschienene Buch von Gail Eisnitz, enthält schockierende, beglaubigte Berichte darüber, dass Tiere in großen amerikanischen Schlachthäusern enthäutet und zerteilt werden, während sie noch bei Bewusstsein sind. Wenn solche Vorfälle in Europa dokumentiert worden wären, hätte das zu ausführlichen Berichten in den Medien geführt und die Regierungen wären gezwungen gewesen, etwas dagegen zu unternehmen.
In Amerika blieb das Buch außerhalb der Tierrechtsbewegung fast unbemerkt. In Europa ist die Situation ganz anders. Die Amerikaner haben oft wegen Tierquälerei auf gewisse europäische Länder herabgesehen, vor allem auf die Mittelmeerländer. Jetzt gehen die vorwurfsvollen Blicke in die andere Richtung. Selbst in Spanien mit seiner Stierkampftradition werden die meisten Tiere besser behandelt als in Amerika.
Eierlieferanten in den Vereinigten Staaten haben noch nicht mal begonnen, an Hühnerstangen und Nester zu denken und beschränken ihre ausgewachsenen Hennen auf jeweils 120 Quadratzentimeter Raum. Kälber werden in den USA absichtlich anämisch gehalten, müssen ohne Streu auskommen und sind in so engen Verschlägen untergebracht, dass sie sich nicht mal umdrehen können.
Diese Art der Kälberhaltung ist in Großbritannien seit vielen Jahren verboten und wird ab 2007 in der gesamten Europäischen Union verboten sein. Vor einiger Zeit ist jedoch ein Hoffnungsstrahl aus unerwarteter Richtung aufgetaucht: Nach langwierigen Diskussionen mit TierrechtlerInnen wie PETA hat McDonald's sich bereit erklärt, höhere Standards von ihren Lieferanten und Schlachthäusern zu fordern und angekündigt, von ihren Eierlieferanten zu verlangen, jeder Henne 180 Quadratzentimeter Lebensraum zuzugestehen (für die meisten amerikanischen Hennen eine Verbesserung um 50 Prozent, aber immer noch nicht genug). Burger King und Wendys sind dem Beispiel von McDonald's gefolgt.
Mein Artikel in der New York Review endete damals mit einem Absatz, der die Forderungen der Tierrechtsbewegung als Test für die menschliche Natur betrachtete: "Die Tierbefreiung wird einen größeren Altruismus von den Menschen verlangen als jede andere Befreiungsbewegung, da Tiere nicht in der Lage sind, für sich selbst einzutreten oder gegen ihre Ausbeutung mit Abstimmungen, Demonstrationen oder Bomben zu protestieren."
Wie stehen wir heute da? Es hat bedeutsame Veränderungen gegeben, bei Tierversuchen und anderen Formen der Tiermisshandlung. In Europa werden ganze Industriezweige umgewandelt, weil sich die Öffentlichkeit Sorgen um das Wohlergehen von Nutztieren macht. Für den Optimisten ist es vielleicht am ermutigendsten, dass Millionen von AktivistInnen Zeit und Geld für die Tierrechtsbewegung investieren und oftmals ihre Ernährung und ihren Lebensstil umgestellt haben, um den Missbrauch von Tieren nicht länger zu unterstützen.
Vegetarier und sogar Veganer (die jegliche Tierprodukte meiden) sind heute in Nordamerika und Europa viel weiter verbreitet als vor 30 Jahren. Andererseits ist die Allgemeinheit, trotz der positiven Richtung der philosophischen Diskussion über den moralischen Status von Tieren, noch weit davon entfernt, die grundlegende Vorstellung zu übernehmen: Dass die Interessen aller Wesen gleichermaßen berücksichtigt werden sollten, ungeachtet ihrer Spezies. Die meisten Menschen essen nach wie vor Fleisch und kaufen, was am billigsten ist, ohne an das Leiden des Tieres zu denken, von dem das Fleisch stammt.
Heute wird mehr Fleisch gegessen als vor 30 Jahren, und der zunehmende Wohlstand in Ostasien steigert die Nachfrage, so dass die Anzahl der Schlachttiere sich noch erhöhen wird.
Gleichzeitig bedroht die Welthandelsorganisation die Fortschritte der Tierrechte, und ist es fraglich, ob Europa auch in Zukunft die Importe aus Ländern abwehren kann, die niedrigere Tierschutz-Standards haben.
Kurzum, die Bilanz nach 30 Jahren Tierrechtsbewegung deutet darauf hin, dass wir zwar als Spezies fähig sind, altruistisch die Interessen anderer Wesen wahrzunehmen. Aber der Fortschritt für die Rechte der Tiere wird noch immer gehemmt: durch mangelnde Information, mächtige Interessen - und mangelndes Einfühlungsvermögen der Menschen in die Tiere.

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Weiterlesen
von Peter Singer: Animal Liberation (Rowohlt), Praktische Ethik (Reclam), Wie sollen wir leben? Ethik in einer egoistischen Zeit (dtv). Als Hrsg.: ‚In Defense of Animals - The second wave.' (Blackwell Publishing). Mit Paola Cavalieri: ‚Menschenrechte für die Großen Menschenaffen' (Goldmann).
In EMMA
Wer ist Peter Singer? (4/1996)
Das Affentheater (2/1994)

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