Alice Schwarzer schreibt

Wir haben die Lust entdeckt

Alice Schwarzer - Foto: Bettina Flitner
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Wie konnte das nur passieren? Wie kann – 40 Jahre, nachdem die Frauenbewegung die Körper und die Lust der Frauen entdeckt und die Sexualität revolutioniert hat – nun schlicht das Gegenteil behauptet werden? Nämlich: Wir Feministinnen seien die Spaßverderberinnen und wollten den Frauen die Lust verbieten. Und warum widersprechen die vielen Frauen (und Männer), die es so viel besser wissen, nicht? Wenn zum Beispiel eine Spätgeborene wie Charlotte Roche eine „feministische“ Heldin propagiert, deren Freiheit darin besteht, die sexuellen Fantasien ihres Ehemannes zu bedienen – in der Hoffnung, dass er dann für immer bei ihr bleibt – und mit ihm auf dem Sofa Pornos oder im Bordell Prostituierte zu konsumieren. Und das im Namen eines „jungen Feminismus“.

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Zeit also, daran zu erinnern, wie es angefangen hat. Die wahren Entdeckerinnen der weiblichen Lust waren wir Feministinnen! Vor dem Aufbruch der Frauenbewegung in den 1970er Jahren galt jede zweite Frau als „frigide“. Viele Frauen kannten weder ihren eigenen Körper noch eine eigene Lust. Und die so genannte „sexuelle Revolution“ durch die Pille und die 68er? Die hatte den Frauen oft eher neue Zwänge als neue Freiheiten gebracht. Hatten die Frauen früher nur einem gehört, so sollten sie jetzt allen zur Verfügung stehen – und gefälligst die Pille nehmen oder abtreiben. Getreu nach dem 68er-Motto: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“

Sexualität hatte über Jahrhunderte, ja Jahrtausende nichts mit Lust zu tun, sondern mit Macht. Macht von Männern über Frauen. Und es gab entweder die käuflichen Sünderinnen, zuständig für die Lust; oder die abhängigen Heiligen, zuständig für die Arbeit im Haus. Emanzipation der Frauen implizierte also zwangsläufig auch die Emanzipation der weiblichen Sexualität. Doch so schnell waren die Söhne nicht bereit, die Macht aufzugeben. „Die Macht liegt im Lauf des Phallus“, lautet in Frankreich nicht zufällig ein polemischer antifeministischer Slogan aus der Zeit des Aufbruchs der Frauen (in Anlehnung an den Mao-Spruch: Die Macht liegt im Lauf der Gewehre).

Denn nun kamen wir. Die Feministinnen. Wir stellten die Machtfrage. Im Leben und in der Liebe. Und wir entdeckten unsere Körper und unsere Lust. Das war nicht nur ein harter Kampf, es war auch ein wahres Fest. Wir tanzten von Erkenntnis zu Erkenntnis, von Abenteuer zu Abenteuer. Die Gender-Studentinnen von heute würden zart erröten, ahnten sie nur, was wir alles so angestellt und erlebt haben.

Von der kühnen Mary Jane Sherfey und ihrem epochalen Werk „Die Potenz der Frau“ lernten wir, dass, rein entwicklungsbiologisch gesehen, die Behauptung von der von Natur aus passiven weiblichen und aggressiven männlichen Sexualität ­Legende ist. Die amerikanische Psychiaterin und Sexualforscherin belegte, dass das weibliche Pendant zum Penis die Klitoris ist und die weiblichen Schwellkörper ein größeres Volumen haben als die männlichen (sie sind nur nach innen verlagert). Auch die Orgasmusfähigkeit der Frauen ist rein körperlich der des Mannes überlegen, da sie nicht an eine Ejakulation geknüpft ist. Der „multiple Orgasmus“ der Frauen machte die Runde …

Von nun an hatten wir Frauen nicht weniger, sondern mehr Lust. Aber vielen Männern ging das alles zu schnell, sie mussten sich umgewöhnen. Einige taten das mit Freude, denn sie hatten selber an der Oben/unten-Ordnung der Geschlechter gelitten. Andere leisteten Widerstand. Ihre Antwort war die sexuelle Verweigerung – oder die Pornografie.

Wir hatten nicht nur die Sexual-, sondern auch die Liebesordnung auf den Kopf gestellt. Die sei „der Schlüssel zur Unterdrückung der Frauen“ befand Shulamith Firestone in ihrem visionären Buch „Frauenbefreiung und sexuelle Revolution“. Und ich analysierte in „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ die Funktion von Liebe und Sexualität als Basis der Unterdrückung von Frauen im Patriarchat. „Die Sexualität ist der Angelpunkt der Frauenfrage“, schrieb ich 1975. Denn man kann die Verhältnisse nicht ändern, so lange man sie nicht benennt. Die Aufregung über den „Kleinen Unterschied“ hält bis heute an.

Nie zuvor und nie danach ist so offen über den weiblichen Körper und die Lust der Frauen geredet und geschrieben worden wie in den 1970er Jahren, diesen Jahren des Aufbruchs der Frauen. Doch keiner Frau wäre es damals auch nur im Traum eingefallen, die Trennung von Sexualität und Gefühl oder den Konsum entseelter Pornografie für sonderlich emanzipiert zu halten; von der Prostitution, als Objekt oder Subjekt, ganz zu schweigen.

Angesagt war im Gegenteil die Aufhebung der Trennung von Liebe & Sexualität, war sexuelle Kommunikation und Sex auf ­Augenhöhe. „Ihn einfach reinstecken“, das genügte nun nicht mehr.

Und ausgerechnet wir Feministinnen sollen also gewisse Sexualpraktiken, wie z.B. den Koitus, verteufelt oder gar verboten haben? So ein Unsinn! Wir haben uns lediglich den Hinweis ­erlaubt, dass das körperliche Lustzentrum nicht die Vagina, sondern die Klitoris ist. Und dass man und frau zur Erzeugung von Lust das mit der Penetration tun oder auch lassen kann. Je nach Lust und Laune. Uns ging es schließlich nicht um das Aufstellen neuer, sondern um die Abschaffung alter Normen; nicht um ­Beschränkung, sondern um Erweiterung.

Von nun an sollte auch im Bereich von Liebe & Sexualität alles möglich sein – so lange das nicht auf Kosten Dritter bzw. Abhängiger geht oder in Selbstzerstörung endet. Wir hatten ­Erfolg. Großen Erfolg sogar. Wir haben die Geschlechterordnung revolutioniert. Gerade im Bereich der Sexualität war der Fortschritt im laufe der letzten Jahrzehnte gewaltig.

So haben wir heute in unserem Kulturkreis eine weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität, bis hin zur „Homoehe“. Was sich allerdings auch wieder ändern könnte. In anderen Kulturkreisen, die uns so fern nicht sind, steht schließlich weiterhin die Todesstrafe bzw. die Hölle, mindestens aber Ächtung auf gleichgeschlechtliche Liebe.

Und auch die Heterosexualität wird von der Mehrheit der Frauen und Männer heute zunehmend gleichberechtigt gelebt. Sexualforscher registrieren schon lange einen Trend zur „kommunikativen Sexualität“ zwischen den Geschlechtern. Gleichzeitig aber steigt die Pornografisierung unserer Gesellschaft, diese Verknüpfung der sexuellen Lust mit Lust an Erniedrigung und Gewalt.

Kein Fortschritt ohne Rückschritt, das lehrt uns die Geschichte. Schließlich haben weiterhin auch Kräfte das Sagen, die am Alten festhalten wollen. Ganz einfach, weil sie davon profitieren. Und auch der weibliche Masochismus – diese unbewusste Bewältigung von Schmerz und Erniedrigung durch ihre Umwandlung in Lust – steckt noch tief in den Knochen der Frauen. Etwas so Existenzielles wie die Einstellung zu Liebe & Sexualität verändert sich in den Köpfen & Körpern der Menschen eben nicht innerhalb von zwei, drei Generationen. Davor steht nicht zuletzt auch eine Industrie, die dank Pornografie, Prostitution und Frauenhandel weltweit Milliarden verdient.

Dieser Backlash rollt nicht erst seit heute, sondern seit Mitte der 1970er Jahre. Das war damals schon zu erkennen an der ­erneuten Propagierung von „Männlichkeit“ versus „Weiblichkeit“. Er setzte sich fort mit der Verharmlosung von Gewalt und dem neuen Liebeskitsch. Und er steckt heute in dem Gejammer über die angebliche „Gleichmacherei“ bzw. „Abschaffung der ­Geschlechter“.

Aber wollen wir denn wirklich wieder in diese fest zementierten, lustlosen Rollen und Verhältnisse zurückfallen? Wollen wir uns nicht wenigstens ein Stückchen Fortschritt, also auch wahres erotisches Abenteuer gönnen? Alles andere wäre schade. Schade um uns Frauen und Männer. Und schade um die Lust.

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Von Alice Schwarzer „Die Antwort“ (2007) und „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ (1975).

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