Alice Schwarzer schreibt

Warum musste Angelika B. sterben?

Artikel teilen

Ich bin den Weg tausendmal gegangen. Die letzten Meter der Ehrenstraße, links das Schmittchen und danach die WDR-Schaukästen, rechts der Feinkostladen und der Optiker; dann über die sechsspurige Nord-Süd-Fahrt, die die Kölner Innenstadt zerschneidet; vorbei an dem Herrenausstatter, der Galerie und der Parfümerie auf der Ecke vom Kolpingplatz. Ich würde jetzt in die erste Tür linke rein gehen, da logiert EMMA. Aber sie, was hat sie getan an diesem Abend?

Anzeige

Samstag, 5. Oktober 1991. Angelika Bayer, 37, kauft mit ihrem Lebensgefährten Rainer N. in Köln ein. Die beiden wohnen in dem Düsseldorfer Vorort Eller und sind mit dem Wagen da. Langer Samstag. Als die Geschäfte schließen, kehren sie im Schmittchen ein. Das Lokal im Bistro-Stil hat eine ausladende Theke, ein paar Tische und gehobenes Publikum. Neben Kölsch wird auch gerne Schampus geordert und passend dazu geflirtet, der WDR verkehrt hier. Angelika und ihr Freund versacken, halten mit bei einer Geburtstagsfeier am Nebentisch. Gegen eins ist sie müde, möchte nach Hause. Ihr Freund will noch bleiben. Sie verlässt das Lokal. Beide haben einen Autoschlüssel, der Wagen steht drei Fußminuten entfernt, direkt am Kolpingplatz. Und der Bahnhof ist nur ein paar hundert Meter weiter, von da aus fährt die S-Bahn nach Eller. Angelika Bayer tritt auf die Straße. Allein. Es regnet in Strömen. Wenige Minuten später folgt ihr Freund. Zu spät.

Der Tod tritt zwischen ein und drei Uhr nachts ein. Genauer lässt sich die Uhrzeit nicht bestimmen, die Leiche lag zwei Nächte und zwei Tage lang im Gebüsch. Mitten in der Stadt. Einen Steinwurf entfernt von der Hauptgeschäftsstraße am Dom. Und schräg gegenüber von EMMA. Noch nicht einmal 50 Meter von unserer Tür.

Wir sind alle in diesen zwei Tagen mehrere Male an der Leiche vorbei gegangen. Wir alle nehmen täglich diesen Weg, den auch sie gegangen ist oder geschleift wurde. Ihre Endstation war das Gebüsch am Museum, gleich neben der Kirche, wo ein paar Blumen, Büsche und Bäume stehen. Am Platz: Wohnhäuser, Geschäfte, ein Lokal und die Pförtnerloge des WDR, Tag und Nacht besetzt. Gleich um die Ecke der Pförtner des Museums, ebenfalls rund um die Uhr da.

Dennoch hat es zwei Tage gedauert, bis ein Mann zum Wasserlassen ins Gebüsch trat (Polizeibericht) und die Leiche sieht. Da liegt Angelika Bayer, den Rock hoch geschoben, die Strumpfhose zerrissen, die Handtasche unberührt daneben. Als der Passant sie am Montag abend gegen 22 Uhr findet, ist sie seit etwa 44 Stunden tot. Einen Monat später tappt die Kölner Polizei noch immer im Dunkeln. Ein Zufallstäter, sagt sie, das sind immer die Schwierigsten. Und dann der Regen, der hat alle Spuren verwischt. Wahrscheinlich wird der Vergewaltiger und Mörder von Angelika Bayer nie gefunden werden.

Wie konnte das passieren? Als die von allen als attraktiv und selbstbewusst geschilderte Frau Samstag Nacht das Lokal verlässt, hat sie nicht mehr als 500 Meter zum Auto am Kolpingplatz. Und von da aus weitere 500 Meter zum Bahnhof. Ist Angelika Bayer zum Auto gegangen und wurde dort in die Büsche gezogen? Ging sie weiter in Richtung Bahnhof und wurde in der kleinen Anlage überfallen? Stellte sie sich im strömenden Regen unter und wurde angesprochen oder verfolgt? Stieg sie an der Nord-Süd-Fahrt vielleicht sogar in ein Auto ein, weil ihr jemand anbot, sie zum Bahnhof zu fahren?

Wir werden es vermutlich nie erfahren. Sicher scheint nur zu sein, dass es keiner der Gäste im Lokal war, sondern eben ein Zufallstäter. Einer, der jede genommen hätte. Angelika Bayer. Oder mich. Zum Beispiel.

Es vergeht kein Tag in der EMMA-Redaktion, an dem wir nicht über Angelika Bayer reden. Sieben Tage später kommt die zweite Hiobsbotschaft: Etwa zur gleichen Zeit, nur wenige hundert Meter entfernt, wird eine 24-jährige Frau in ihren Hausflur gedrängt, vergewaltigt und gewürgt. Sie kommt mit dem Leben davon. Zehn Tage später die dritte. Ein paar Straßenbahnstationen entfernt von der Innenstadt wird die 16-jährige Seckin Caglar in dem Kölner Vorort Poll um 18.45 Uhr auf dem Nachhauseweg vergewaltigt und erwürgt. Die alarmierte Polizei sucht nicht nach der Vermissten. Ihr Onkel findet sie am nächsten Morgen tot im Gebüsch, nur 150 Meter von der Wohnung entfernt.

Die junge Türkin hatte vor diesem einsamen und unbeleuchteten Fußweg am Stadtrand, zwischen Haltestelle und Wohnblock immer Angst. Alle Frauen hatten Angst. Darum forderte die Frauenbeauftragte der Stadt schon vor zwei Jahren die Verlegung der Haltestelle wäre das geschehen, Seckin würde noch leben. Auch der Mörder von Seckin Caglar scheint ein Zufallstäter zu sein. Einer, dem egal ist, welche Hauptsache Frau. Auch er ist bei Redaktionsschluss dieses Heftes, also einen Monat nach der Tat noch nicht gefunden.

Nicht immer ist die Polizei so erfolglos. 90 Prozent aller Morde werden aufgeklärt. Vorneweg die Polizistenmorde. Am 12. Oktober werden zwei Polizisten brutal getötet. Die Tat macht täglich Schlagzeilen, die Fahndung läuft bundesweit. Am 22. Oktober gehen 10.000 Polizisten auf die Straße. Am 16. Oktober, also vier Tage nach der Tat, werden die Täter gefasst. Die Beerdigung der Opfer erregt große Anteilnahme.

Und noch etwas beschäftigt die Öffentlichkeit in diesen Tagen: Die eskalierenden Aggressionen gegen AusländerInnen. Hoyerswerda wird zum Signal. Rassisten randalieren, Steine fliegen, Feuer lodert. Die ersten Toten. Grund genug für alle anständigen Deutschen, nicht tatenlos zuzusehen.

Solidaritätserklärungen, Proteste, Demonstrationen, Bundestagsdebatten, eine Artikelflut über und gegen Ausländerhass. Allein in Köln gehen am 8. Oktober 6.000 Menschen auf die Straße (Ausländer, lasst uns mit diesen Deutschen nicht allen!) Eine der Demo-Stationen gegen den Rassismus ist der Kolpingplatz. Hoch-die-inter-natio-nale-Soli-dari-tät! Ja. Bei EMMA wird noch gearbeitet, Redaktionsschluss. Ich stehe am Fenster und schaue runter: rechts die Gegner des Rassismus, 50 Meter weiter links der Tatort des Sexismus. Noch vor 24 Stunden hatte Angelika Bayer da gelegen, erwürgt.

Hätte da statt ihrer ein Türke oder ein Schwarzer gelegen, wäre dieser Ort jetzt zu Recht das Ziel des antirassistischen Protestes von Tausenden: Kerzen, Blumen, Blitzlichter und TV-Kameras. Seht her, hier ist er gestorben, und ihr habt es zugelassen! Ihr alle seid mit Schuld. Nicht nur die Täter. Auch ihr potentiellen Täter. Auch ihr Gleichgültigen. Auch ihr, die ihr es bagatellisiert. Und ihr, die ihr die Augen zumacht.

Aber da lag kein Fremder. Da lag nur eine Frau, Angehörige einer Spezies, die Männern wohlvertraut ist. Zwei Wochen später erhalte ich einen Brief meines Kollegen Hans-Geert Falkenberg. Er schickt mir eine Resolutin des PEN-Clubs und lässt mich wissen, dass er ganz persönlich sich im Raum Köln dafür einsetzen wird, dass dieser Beschluss nicht Papier bleibt. Und das ist der Wortlaut der Resolution des PEN, dieser honorablen internationalen Vereinigung von SchriftstellerInnen:

In unserem Land werden wieder einmal Menschen verletzt, geschlagen, gejagt, verbrannt. Wir dürfen dem nicht länger tatenlos zusehen und damit Schuld auf uns laden. Sofort müssen wir diese bedrohten und bedrängen Menschen persönlich schützen. Das heißt, wir sind bereit, vor und in ihren Unterkünften Wachen zu stellen und die Polizei bei ihrer Schutzaufgabe symbolisch zu unterstützen. Langfristig müssen wir außerdem Patenschaften übernehmen, damit Schutz und Hilfe von Dauer sind.

Bravo! Wir dürfen nicht länger tatenlos zusehen und damit Schuld auf uns laden. Dieser Satz hat mich am stärksten beeindruckt, denn er benennt den Kern des Problems: und das sind weniger die paar Schurken und mehr die Millionen Gleichgültigen. Ja, Herr Kollege, ich bin dabei! Nur sind Sie auch bei meiner Sache? Sind sie gegen Rassismus und gegen Sexismus? Machen Sie sich überhaupt klar, dass nicht wieder einmal, sondern immer noch Frauen verletzt, geschlagen, gejagt, vergewaltigt und getötet werden nur weil sie Frauen sind? Ja? Dann dürfen Sie auch hier nicht länger zusehen und Schuld auf sich laden.

Begleiten Sie mich also, Herr Kollege, auf meiner Fahrt von Köln nach Düsseldorf-Eller, um ein wenig mehr zu verstehen von dem Menschen, der Angelika Bayer war. In der S-Bahn haben wir Zeit aus dem Fenster zu schauen. Der Rhein, die Vororte, Kleinstädte. In der verebbenden Häuserflut die letzten Felder, wie Inseln. Da, wo Düsseldorf anfängt, ins Brachland zu kriechen, da steigen wir aus.

Ein langer, öder Bahnsteig, Treppen, die Unterführung. Etwa 300 Meter bis zum Haus von Angelika Bayer reichlich Gelegenheit für einen Zufallstäter. Rechts ein verlassener Gebrauchtwagen-Parkplatz, daneben eine Grabstein-Werkstatt mit Lagerhallen, Höfen und Schutthalden. Links stille Wohnhäuser mit niedrigem Gebüsch.

Nein, halt, Herr Kollege, laufen Sie nicht weg. Begleiten Sie mich noch in den dritten Stock des Hauses Karlsruher Straße 40. Da wird uns die Nachbarin zögernd die Tür aufmachen und am Küchentisch sagen: Wir haben hier immer Angst... Aber als Frau verdrängt man das... Dir kann das nicht passieren... ich kann mir auch nicht vorstellen, warum die Männer so was tun... Haben die einen Hass...?

Und auch das, Herr Kollege, sollten Sie sich noch zumuten. Nur eine Treppe höher ist die Wohnung von Angelika Bayer und ihrem Lebensgefährten. Unten an der Haustür stehen noch beider Nachnamen an der Klingel, hier oben steht nur: Angelika & Rainer, darüber ein hellgelber Schmetterling. Der Lebensgefährte macht die Tür schon lange nicht mehr auf, er flüchtet seit ihrem Tod vor der Sensationspresse, für die das ganze ein geiler Sex-Mord ist.

Wer war Angelika Bayer? Eine Frau wie viele. Mit 16 Flucht von zu Hause, weg von Mutter und Stiefvater, von Gewalt und Kleinstadt, rein in ein selbst bestimmtes Leben. An der Uni studiert sie Wirtschaftswissenschaften und Pädagogik in Düsseldorf und Essen. Nach dem Staatsexamen macht sie sich mit einem Freund selbständig. Und lernt, lernt, lernt: Fernuniversität, Schulungen, Kurse. 1988 fängt sie bei einer Düsseldorfer Software-Firma an, Marketing und Verkauf sind ihre Domänen. Die Kunden schätzen sie.

Sie hat immer gekämpft, sagen die Kollegen. Als Feministin hätte sie sich wohl nicht bezeichnet, doch sie hatte ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, darunter aber war sie empfindsam und sehr abhängig von Lob. Ab 1992 wollte sie sich selbständig machen, für die Firma freiberuflich arbeiten und PC-Schulungen geben.

Der Arbeitsplatz von Angelika Bayer ist leer, auf ihrem Schreibtisch stehen Blumen. Ihre Kollegen wirken nachdenklich. Die einzige Kollegin kann es nicht fassen. Ich dachte immer, sagt die 24-jährige, sowas passiert nur jungen Mädchen. Aber Angelika ausgerechnet Angelika...

Im letzten Urlaub auf Ischia hat sie sich Hot Pants aus schwarzem Samt gekauft und ist damit abends ausgegangen, trotz der Bedenken ihres Freundes. Als die beiden das Restaurant betraten verstummten alle na und! Angelika war: attraktiv, selbstbewusst und aufgeschlossen. Eine moderne Frau.

Nie hätte ich gedacht, dass die mal Opfer wird, sinniert die Kollegin und vergisst dabei ganz ihre Chefs, die neben ihr sitzen: Man ist wirklich machtlos... Nichts hilft... Alles machen die Männer... Sogar die Mode... In diesem Sommer haben sie uns kurze Röcke diktiert und was passiert? Man wird mit Blicken ausgezogen. Man will den Männern ja gefallen. Und so wird man dann da hinein gepresst...

Angelika Bayer machte sich gerne chic und ging gerne aus, auch allein. Ich sehe nicht ein, dass ich mich einschränken soll! Warum kann ich mich nicht bewegen wie ein Mann? Das sind ihre Worte. Sie hat sie vor noch gar nicht langer Zeit ihrer besten Freundin gesagt. Ihr Freund, stolz und beunruhigt zugleich über Angelikas Selbstbewusstsein war sich der Gefahr bewusst und brachte ihr in den letzten Jahren Selbstverteidigung bei. Mir kann nichts passieren, ich kann Karate!, hat Angelika Bayer im Büro stolz gesagt.

Und ihre beste Freundin? Was sagt die? Angelika ist ermordet worden, weil sie zu selbstbewusst war. Wie sie darauf kommt? Ich spüre das...

Attraktiv ist das häufigste Adjektiv der lokalen Berichterstattung über Angelika Bayer, selbstbewusst das zweithäufigste. Warum Angelika Bayer an diesem Abend das Lokal früher verließ als ihr Freund? Der Kölner Stadtanzeiger weiß von Kommissar Kosemund: Der Mann sei weniger müde gewesen als die Frau. Die selbstbewusste Angelika Bayer habe wohl mal wieder einmal ihren Kopf durchsetzen wollen und beabsichtigt, allein mit dem Zug nach Düsseldorf zu fahren.

Das hat sie nun davon. Wollte wieder mal ihren Kopf durchsetzen. Und Seckin Caglar? Die 26-Jährige galt als äußerst bedacht, weiß die Presse, sie nahm immer dieselbe Bahn, ließ sich normalerweise vom Vater oder Bruder von der Bahn abholen und informierte ihre Eltern schon bei einer halben Stunde Verspätung. So oder so, selbstbewusst oder bedacht, attraktiv oder unscheinbar, jung oder alt Frauen sind Opfer. Und Männer sind Täter.

Frauen und Männer, die davor nicht länger die Augen verschließen und es zu Ende denken, müssen handeln! Frauen müssen sich schützen und sich zusammentun. Und Männer müssen sich von den Tätern distanzieren, ja, sie bekämpfen oder aber hinnehmen, dass auch sie für (potentielle) Täter gehalten werden. Wäre der Sexismus eine nur annähernd so ernst genommene politische Kategorie wie der Rassismus, würden wir alle Kopf stehen wegen der Welle sexistischer Gewalt, die tagtäglich durch unser Land geht. Aufklärung, BürgerInnenwehr, Polizeischutz, Politikerdebatten, Gesetze, konkrete Maßnahmen zur Verhinderung der Aggressionen alles zum Schutz der gefährdeten Frauen vor den potentiellen Tätern. Und jeder einzelne Mann, der tatenlos zusieht, lädt damit Schuld auf sich. Sie, Herr Kollege Falkenberg, werden verstehen, was ich meine.

Das Bundeskriminalamt (das in seiner Statistik bis 1989 noch nicht einmal versuchte und vollendete Sexualmorde trennte), behauptet allen Ernstes; 1990 habe es im gesamten Bundesgebiet nur 23 Sexualmorde gegeben. Mit Verlaub: Ich bezweifele das. Ich bin sicher, dass die Zahl um ein Vielfaches höher liegt. Allein in Frankreich wurden 1990 genau 390 Frauen ermordet, weil sie Frauen waren eine Zahl die nicht aus den Polizeistatistiken stammt, sondern von Feministinnen gesammelt wurde. Sind also die 23 eine bewusste Manipulation? Oder einfach nur Schlamperei, weil die Herren diese Art von Morden nicht so relevant finden?

Für Angelika Bayer hat niemand demonstriert. Für Seckin Caglar schon. Zehn Tage nach ihrem Mord riefen kurdische und türkische Feministinnen zum Protest: Samstag, 11 Uhr, an der Haltestelle. Es kamen rund 30 Menschen, darunter ein Mann (übrigens alles Türken), bis auf die zwei EMMA-Frauen.

Was ist los? Haben inzwischen selbst deutsche Feministinnen vergessen, warum Angelika Bayer sterben musste? Dabei ist die Antwort einfach. Sie starb, weil sie eine Frau war.

Artikel teilen
 
Zur Startseite