Alice Schwarzer schreibt

Warum ich kein Kind habe

Alice Schwarzer, 22, mit ihren Au-Pair-Kindern in Paris
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Es war eigentlich immer selbstverständlich, dass ich eines Tages heiraten und auch ein Kind haben würde. Obwohl ich nicht zu den Mädchen gehörte, die auf dieses Ziel gedrillt wurden – niemand in der Familie schenkte mir Handtücher für die Aussteuer; alle fanden witzig, dass mich Puppen eher langweilten (Ich ließ sie permanent im Puppenwagen „schlafen“ oder aber montierte sie in ihre Einzelteile auseinander) und lieber Ball oder Räuber & Gendarm spielte. Dennoch war es für mich als Teenager klar, dass ich diesen Weg gehen würde. Einen anderen kannte ich nicht.

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Zehn Jahre später hatte sich vieles in meinem Leben verändert. Ich hatte meine berufliche Zukunft in die Hand genommen. Nach einem ersten Freund traf ich eine große Liebe, ein junger Mann in ­meinem Alter, mit dem ich lange Jahre ­zusammen war, oft über eine Distanz von mehreren hundert Kilometern.

Zu meinen Vorstellungen von Liebe gehörten damals noch ganz selbstverständlich Ehe und Kind. Aber ich wusste auch schon, dass ein Kind sehr schwerwiegende Folgen für mein eigenes Leben haben würde. Meine Angst vor einer ungewollten, unzeitgemäßen Schwangerschaft war groß und in all diesen Jahren war meine Sexualität beherrscht von dieser Angst – verschärft durch die Erfahrung, dass zwei Freundinnen gegen ihren Willen und gezielt geschwängert, geheiratet und so ans Haus gefesselt worden waren.

Meine Angst vor ungewollter Schwangerschaft war groß.

Ich erinnere mich noch ganz genau an den Moment, in dem ich nach früheren abstrakten Überlegungen zum ersten Mal konkret an ein eigenes Kind dachte. Es war ein Abend im Frühling, Lindenbäume dufteten schwer, ich ging allein nach Hause und träumte: Mit ihm zusammen ein Kind haben – das müsste wunderbar sein. So klug und so schön wie er, und auch von mir nur die besten Seiten … Was für ein Wesen!

Ich weiß noch sehr gut, dass ich dabei von Anbeginn an immer nur an ein Mädchen dachte. Warum? Aus vielerlei Gründen. Ich komme aus einer Familie, in der die Frauen dominierten; ich selbst war immer ein starkes Mädchen; und ich denke, dass auch eine gehörige Portion Narzissmus eine Rolle gespielt hat: eine wie ich. Nur besser, klüger, schöner. Begleitet von den besten Ratschlägen und größten Möglichkeiten, dank einer Mutter, die alles besser macht …

Zu diesem Zeitpunkt baute ich meinen Beruf auf, den ich sehr liebe. Dass ein Kind dabei schwierig sein würde, war mir schon damals bewusst. Also verschob ich es immer wieder auf später. Mit 27, 28 soll es ja auch noch gehen …

Das war 1969. Ich hatte längst Betty Friedan gelesen und Simone de Beauvoir, die Aktivitäten des SDS-Weiberrates verfolgte ich mit heißen Ohren (Wenn ich mich als Journalistin auch nicht als dazugehörig verstand, ich war schließlich keine Studentin).

Das war der Moment, in dem ich ins Schlittern geriet

Nach relativ kurzer Zeit gab ich meine Stelle als Reporterin bei pardon in Frankfurt auf. Wir passten nicht zusammen. Wenige Tage bevor ich zurück nach Paris ging, wo mein Freund lebte, fand in der Redaktion ein Fest statt. Im fortgeschrittenen Stadium versicherte mir Kollege X, verheiratet und sehr „progressiv“: „Du bist eigentlich ganz in Ordnung. Nur schade, dass du frigide bist …“ – Er schloss das aus der Tatsache, dass ich weder mit ihm noch mit einem anderen Kollegen in der Redaktion geschlafen hatte. Ich war sprachlos.

Ich habe diese Episode lange verdrängt. Später, im Rückblick, als ich mein Verhalten überdachte, begriff ich die Bedeutung dieses Details: meine Weiblichkeit war ­angezweifelt worden. Und das in einem Moment, in dem die Pfeiler, auf denen ich sonst mein Selbstbewusstsein stützte, ins Wanken geraten waren: Meine Zukunft als Journalistin stand in den Sternen.

Das war der Moment, in dem ich ins Schlittern geriet. Die Versuchung war groß. Denn ich bin eine Frau. Wo ein Mann sich im Beruf auch dann stellen muss, wenn er fürchtet zu scheitern, kann ich als Frau ausweichen auf meine „weib­liche Bestimmung“: Ich kann heiraten, kann Mutter werden.

Zum Abschied bekam ich in der Redaktion eine Zeichnung. Sie stellte eine Frau mit mehreren Brüsten dar, an denen vier Kinder hingen. Ich war tief getroffen. Aber ich habe gelacht, habe Konversation gemacht und bin gegangen – in meine ungewisse Zukunft als freie Journalistin (Das war ­zumindest klar, dass ich meinen Beruf nicht aufgeben würde!) und in meine gewisse ­Bestimmung als Ehegefährtin und Mutter.

Das Kind sollte meinen und seinen Namen tragen

Einziges Hindernis: Er war kein „richtiger Mann“ (und darum habe ich ihn wohl auch geliebt). Er hatte Angst vor der Verantwortung. Er wollte nicht Vater werden. Und da ich die Entscheidung nicht ohne ihn treffen wollte, wartete ich ab – sicher, ihn eines Tages überzeugen zu können.

Das war 1969/70. Jetzt begann ich, politisch aktiv zu werden, engagierte mich in der Frauenbewegung. Inzwischen schien uns, dass wir eine staatliche Sanktion für unser Zusammenleben nicht nötig hatten. Wir wollten nicht mehr heiraten, wollten aber zusammenbleiben und auch ein Kind haben. Er war, wenn auch nur zögernd, einverstanden: hatte er doch inzwischen ­erfahren, dass ich es schon wuppen würde. Das Kind sollte meinen und seinen Namen tragen und eines Tages stolz darauf sein, Eltern zu haben, die aus freien Stücken ­zusammen blieben und sich nicht durch staatliche Verträge reglementieren ließen.

Ich würde weiter arbeiten. Selbstverständlich. Inzwischen war ich Ende zwanzig. Das Kind sollte nicht gleich kommen. Schließlich war ich gerade dabei, mich auf ganz neuem Terrain beruflich durchzusetzen. Später. Mit 33, 34. Das soll ja auch möglich sein. Ich begann, mich für Schwangerschaften von Frauen im fortgeschrittenen Alter zu interessieren.

Mein Engagement in der Frauenbewegung intensivierte sich. Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung nahmen in meinem Leben und in meiner Arbeit mehr und mehr Platz ein. Es blieb jedoch weiterhin selbstverständlich, dass ich eines Tages ein Kind haben werde. Ein Mädchen.

Frauen, die Mutter wurden, gerieten in katastrophale Lagen

In der Frauenbewegung waren auch Mütter. Zwei Frauen, die ich näher kannte, trafen in dieser Zeit die bewusste Entscheidung, Mutter zu werden, trugen die Kinder aus und – gerieten in katastrophale Lagen. Die eine hatte ihr Kind zusammen mit ihrem Mann, mit dem sie seit zehn Jahren ihr Leben teilte, geplant. Er war ein sehr, sehr netter Mann und die Chancen schienen bestens. Zur Fassungslosigkeit aller Freunde hat er sich wenige Monate nach der Niederkunft von ihr getrennt, hat zunächst mit einer anderen Frau zusammengelebt und dann Selbstmord begangen. Sie ist eine erfolgreiche Wissenschaftlerin, aber seither verzweifelt, wird mit dem Kind und ihrem Leben überhaupt nicht fertig. Das Kind hat schwere motorische Störungen, weint viel, ist verschlossen und unglücklich.

Die zweite Frau hatte ihr Kind alleine geplant – auch sie ist gescheitert. Die ­Bedingungen waren zu schwer. Sie sagt heute: „Weißt du, ich habe mein Kind gern. Doch es hat mein Leben entstellt. Die Nacht- und Tagträume, in denen ich mir vorstelle, es sei tot, quälen mich unbeschreibbar. Hätte ich heute noch einmal die Entscheidung zu treffen – ich würde nie mehr ein Kind haben wollen.“

Ich wollte noch immer ein Kind, begann aber jetzt zu schwanken. In meinem Beruf fing ich an, Frauen über ihr Leben zu befragen. Immer wieder zeigte sich, dass die schwersten Ketten, die sie niederhalten, ihre Kinder sind. Gegen die Männer können die Frauen sich, wenn sie die Kraft dazu haben, wehren. Aber die Kinder …

„Ich wohne zehn Minuten von meinem Arbeitsplatz entfernt. Immer, wenn ich eine Krankenwagensirene höre, denke ich: Jetzt ist es passiert – das ist meines …“ – Solche Sätze habe ich mehr als einmal gehört. Frauen in einer Männergesellschaft können weder gelassen Mutter sein, noch gelassen berufstätig: Sie sind zerrissen zwischen zwei Schauplätzen, hetzen unermüdlich hin und her und finden nirgendwo Ruhe.

Die Familie fing an, vorwurfsvoll zu gucken und
zu klagen

Je näher ich hinsah, je genauer ich hinhörte, umso unerbittlicher musste ich begreifen: Mutterschaft heute mit Freude und einem ertragbaren Maß von Leid und Entsagung gestalten zu können, das liegt nicht nur in unserer, liegt nicht nur in meiner Hand. Die Umstände, die Gesellschaft, die Männergesellschaft, die Väter machen Mutterschaft heute zur Sklaverei. Das ist es, was weitgehend verhindert, dass Frauen ihre Kinder uneingeschränkt lieben können, das ist es, was uns nur zu oft hassen lässt: Hassen für die aus unserer beidseitigen Abhängigkeit resultierende Selbstaufgabe. Hassen für das aufeinander Angewiesen- und einander Ausgeliefertsein. Hassen für die Unfreiheit in den Mutter­undkind-Ghettos.

Ich war inzwischen fast dreißig. Familienmitglieder fingen an, vorwurfsvoll zu gucken, zu klagen, nun sei es aber endlich Zeit für ein Kind. Die Mehrzahl früherer Bekannter war längst verheiratet, hatte die üblichen zwei Kinder und lebte in einer anderen Welt. Von mir wurde erwartet, dass ich mich einreihe, dass ich das Zeugnis der „Normalität“ präsentiere. Und je mehr ich mich für die Sache der Frauen engagierte, umso häufiger hörte ich: Können Sie denn überhaupt mitreden? Haben Sie Kinder?

Mein Widerspruchsgeist war geweckt, und aus ihm wuchs die Empörung. Ich fühlte mich auch ohne Kind vollwertig! Ich wollte mich nicht über meine Gebärmutter definieren, mich nicht zwingen ­lassen zur Mutterschaft. Schon gar nicht unter diesen Umständen!

Ich begann, mich zu fragen, ob ich selbst eigentlich wirklich um jeden Preis ein Kind wollte, oder – ob ich es mir hatte einreden lassen. Was waren eigentlich meine Motive?

Mein Entschluss: Unter diesen Umständen
kein Kind

Immer klarer wurde: Ich wollte unter diesen Umständen kein Kind. Die Erkenntnis war ganz undramatisch, aber dennoch bitter. Denn einerseits ist die soziale Mutterschaft unübersehbar ein Kreuz, das man auf sich nimmt, wenn man einmal damit beladen ist, aber freiwillig? Andererseits war und bin ich empört über diese Gesellschaft, die mich daran hindert, in Freiheit – Freiheit für mich und für das Kind! – Mutter zu werden.

Ich weiß, dass ich meinen Entschluss nie bereuen werde. Ich weiß aber auch, dass mir Kinder dennoch fehlen. Die ­Altersghettos, die völlige Trennung von Kindern, Erwachsenen und Alten, von Nichtmüttern und Müttern, finde ich absurd. Ich kenne mehr als eine Mutter, deren Leben freier wäre, wenn ich ihr einen Teil ihrer Last abnehmen würde – und einen Teil ihrer Freude.

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