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Die Jahre vergingen. Und langsam, ganz langsam, kamen sie, die Reaktionen. Ein Gespräch im Rande einer Veranstaltung, ein Brief mit einem PS: "Übrigens, ihr habt damals über Inzest geschrieben. Das war das erste Mal, dass ich darüber etwas gelesen habe - und das erste Mal, dass ich mir eingestanden habe, dass ich selbst Opfer bin..."

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Heute wissen wir, dass mindestens jedes dritte Mädchen Opfer sexueller Gewalt ist, dreiviertel von ihnen sogar durch den eigenen Vater oder einen Mann an Vaters statt, also Inzest-Opfer.Hier, in der Familie, wird der weibliche Mensch zum ersten Mal gebrochen, seelisch und körperlich. Die meisten Frauen kommen ein Leben lang nicht über diesen Verrat, diese Demütigung, diese Gewalt hinweg.

Die ersten Untersuchungen über die Folgen liegen vor, sie zeigen den Zusammenhang von Rigidität und Inzest, von Selbstverachtung und Inzest, von Depression und Inzest, von Essstörungen und Inzest, von psychischer Erkrankung und Inzest, von Sucht und Inzest, von Selbstmord und Inzest. Doch das wirkliche Ausmaß der Zerstörung durch die Übergriffe des geliebten Vaters oder vertrauten "Onkels"; auf Leib und Seele der kleinen Mädchen ahnen wir erst. Wahrscheinlich ist die sexuelle Ausbeutung des weiblichen Kindes einer der Hauptgründe für die lebenslange, tiefe Verunsicherung und Verstörung vieler Frauen.

Darum grenzt es fast an ein Wunder, dass Frauen es schafften, Anfang der 70er Jahre dank der wiedererwachenden Frauenbewegung den Teufelskreis der Demütigung zu durchbrechen - und zu reden. Im Ausland fing es an, in der Bundesrepublik begriffen es die Pionierinnen der 'Häuser für geschlagene Frauen' als erste: Die geprügelten und vergewaltigten Ehefrauen, die sich zu ihnen flüchteten, waren auffallend oft schon als Mädchen vom Vater missbraucht worden - und an ihren Töchtern wiederum vergriff sich deren Vater, ihr Ehemann. Auslöser der ersten EMMA-Veröffentlichung über Inzest 1978 war die Klage der 14-jährigen Petra aus Berlin, die es mit der Unterstützung von Feministinnen wagte, sich gegen den eigenen Vater zur Wehr zu setzen.

Ende der 70er taten sich Betroffene in den ersten 'Wildwasser'-Gruppen zusammen. Es folgte eine Flut von Berichten und Analysen, Artikeln und Büchern aus feministischer Sicht über das 'bestgehütete Geheimnis'. Aber es sollte noch Jahre dauern, bis die Männerpresse angesichts der Wucht der Fakten klein beigab und ihr Schweigen brach. Heute ist Inzest kein Tabu mehr - im Gegenteil: Inzest ist sogar ein Modethema geworden, bis hin zur Serie in Bild und zum Fall in 'Tatort'.

Haben wir also unser Ziel erreicht? Sind die Opfer ermutigt, die Täter gewarnt und ist die Gesellschaft aufgeklärt? Ja und nein. Zwar sind die Frauen alarmiert, doch sind die Täter keineswegs in der Defensive. Denn was bisher das schreckliche Geheimnis einzelner war, ist jetzt das öffentliche Thema aller - und das zunehmend auf eine Art und Weise, die eher anregend denn abschreckend ist, zumindest für die Täter.

Die Männergesellschaft scheint sich rasch gefangen zu haben. Alert schwadroniert sie um den Kern der Sache herum. Vor allem Mädchen sind Opfer? l wo, kleine Jungen sind es ebenso. Vor allem Väter sind Täter? l wo, Mütter sind es auch. Und wenn, dann sind die Väter ganz arme Täter, denen unbedingt geholfen werden muss.

Was steckt hinter dieser neuen Gegenpropaganda, die auch vor den gröbsten Manipulationen nicht zurückschreckt? Dahinter steckt die Ahnung oder sogar das Wissen darum, dass die frühe sexuelle Brechung des weiblichen Menschen das wohl schwerste Geschütz im Kampf der Geschlechter ist. Wird das außer Gefecht gesetzt, kommt alles ins Wanken.

Das ist der Grund, warum die Männermedien, von Spiegel bis Cosmopolitan, die Wahrheit so beredt zuschütten. Dabei hatte der Spiegel, wie so oft hierzulande, die Ehre der Vorreiterrolle. Er war es, der im Sommer dieses Jahres das neue Modethema "Mütter als Täter" lancierte, mit allen Mitteln. Jeder vierte sexuelle Missbrauch eines Kindes gehe auf das Konto einer Mutter, wusste das Hamburger Herrenjournal zu vermelden und berief sich dabei auf den Frankfurter "Kinderschutzbund". Der dementierte zwei Ausgaben später energisch: nach seinen Angaben seien beim sexuellen Missbrauch nicht 25 Prozent, sondern nur 2,6 Prozent der Täter Frauen.

Ist den Herren also nur ein Komma verrutscht? Nicht anzunehmen. Denn die Lüge hat System und die Kinderschutzbund-Zentrale macht mit dabei. Macht nichts. Die Hannoveraner attestierten dem Spiegel wider besseren Wissen seilfertig, der Spiegel sei auf der richtigen Spur. Nur sei die Rolle der Mütter beim sexuellen Missbrauch bisher aus "ideologischen Gründen ignoriert" worden von der Frauenbewegung, die das Thema nun mal leider "dogmatisch beherrscht".

Dem folgte prompt die von zahlreichen Zeitschriften, darunter auch dem Spiegel, gratis nachgedruckte Anzeigenkampagne des "Kinderschutzbundes", die inzwischen traurige Berühmtheit erlangte. Diese Kampagne, ausgekungelt von einer Fachreferentin des Kinderschutzbundes (und auch in der Werbeagentur getextet von einer Frau!), läuft trotz massiver Proteste seit August unerschüttert und soll bis Ende des Jahres weitergehen.

Was nun erbost diejenigen, die tagtäglich mit den Problemen der Opfer zu tun haben, dermaßen daran? Ganz einfach die Tatsache, dass diese Kampagne auf Kosten der Wahrheit der Opfer um Verständnis für die Täter wirbt! Dies ist keine Kampagne für, sondern eine Kampagne gegen die Wahrheit. Und genau das ist so symptomatisch und so entlarvend! Tenor der Anzeigen: Okay, das gibt's. Aber erstens ist es so schlimm auch wieder nicht. Und zweitens ist die ganze Sache nun wahrlich kein Geschlechterproblem, sondern ein allgemein menschliches. Auch Jungen sind Opfer, auch Mütter sind Täter.

Sehen wir uns also einmal die Zahlen genauer an. Sicher, Zahlen sind in einem solchen Bereich immer problematisch, denn die Dunkelziffern sind hoch. Dennoch sind wir inzwischen durchaus in der Lage, die Dimension des sexuellen Missbrauchs an Kindern zu schätzen. Auch gleichen sich die Zahlen in der gesamten westlichen Welt auffällig. Für die alte Bundesrepublik meldete das Bundeskriminalamt 1989 genau 11.851 Fälle von angezeigtem Kindesmissbrauch. Expertinnen in allen Bereichen (Beratung, Medizin, Polizei, Justiz) gehen heute davon aus, dass diese Zahl mal zehn bis mal 30 genommen werden muss, um das wirkliche Ausmaß zu kennen.

Das BKA nimmt die 89er Zahlen mal zehn und errechnet so, jedes vierte Mädchen sei Opfer sexuellen Missbrauchs durch Väter oder Fremde. Nehmen wir die Zahl mal 20, so ist es schon jedes zweite Mädchen ... Expertinnen vermuten, dass mindestens jedes dritte Mädchen Opfer eines sexuellen Missbrauchs ist (die Blicke und Taten davor nicht gezählt) - und damit auch mindestens jede dritte Frau am Inzest-Trauma leidet.

98,5 Prozent der Täter sind Männer, laut Bundeskriminalamt. 75,6 Prozent ihrer Opfer sind Mädchen. Nur jeder fünfte der angezeigten Täter (von der Mehrheit der anderen ganz zu schweigen) landet im Gefängnis. Die anderen kommen mit einer Geldstrafe davon (wie beim Schwarzfahren), werden begnadigt oder ihre Verfahren werden noch vor einem Prozess eingestellt. Die Zahl der angezeigten Fälle von sexuellem Missbrauch steigt. 1,5 Prozent der Täter sind also Frauen. Das sind 1,5 Prozent zuviel, aber es ist kein Grund, so zu tun, als sei der sexuelle Missbrauch von Kindern ebenso Frauensache wie Männersache. Wer das behauptet, manipuliert dreist (und weiß, warum).

Sind Väter die schlechteren Menschen? Nicht zwangsläufig. Sie haben nur zuviel Macht - und das verführt zum Missbrauch. Sind Frauen die besseren Menschen? Nicht unbedingt. Sie sind nur zu ohnmächtig, und darum nimmt ihre Gewalt über andere meist psychologische Formen an. Auch ist durch die erotische Prägung Sexualität von Frauen nicht so abgründig mit Dominanz und Gewalt verknüpft wie bei Männern (und das zunehmend, dank Pornographie).

Kurzum, Frauen sind im Bereich der Sexualität so gründlich zum Objekt gemacht worden, dass Übergriffe ihrerseits eher die Ausnahme sind. Und selbst in den wenigen Fällen, in denen Frauen sich an ihren Söhnen (oder Töchtern!) genital vergreifen, geschieht dies ganz selten mit Gewalt und meist durch "Verführung" (was es für die Opfer allerdings nicht unbedingt erträglicher macht).

Dennoch: den "Ersatz-Mann" für die Mutter zu spielen, ist trotz alledem noch etwas anderes, als mit zerrissenem Unterleib auf dem Operationstisch oder Seziertisch zu landen... Nicht selten sind die Täter-Mütter auch Mittäterinnen, lassen sich von ihren Männern dazu bringen oder zwingen, mitzumachen. Auffallend ist, dass die wenigen, die es tun, oft ein so schlechtes Gewissen haben, dass sie sich von selbst bei Beratungsstellen melden...

Nein, die wirklich fatale Rolle spielen Mütter beim Inzest nicht als Täterinnen, sondern als Mitwisserinnen. Sie wollen "nicht merken", sie sehen weg, sie schweigen. Aus Angst. Aus Erleichterung (selber nicht "ran": zu müssen). Aus Eifersucht (auf die Töchter). Aus Ohnmacht. Aus mangelndem Stolz. Aus Scham.

Dabei könnten so viele es wissen. Zu viele. Die meisten Inzestverbrechen könnten verhindert werden, wenn Mütter, Nachbarn, Lehrerinnen nicht länger wegsehen würden. Vor allem Mütter. Gerade sie müssen eine Chance für mehr Stolz und Kraft zumWiderstand bekommen! Doch wie oft waren sie selbst Opfer, wie oft wurden auch sie schon, als kleine Mädchen gebrochen...

Es ist ein Teufelskreis. Und solange dieser Kreis der sexuellen Gewalt gegen Mütter und Töchter nicht unterbrochen, solange die Mauer der Familienburg der Väter nicht niedergerissen ist - solange werden Männer die Seelen und Körper ihrer Frauen und Töchter missbrauchen.Vor der Neuen Frauenbewegung haben es nur ganz wenige geschafft, das Grauen zuende zu denken. Virginia Woolf ist eine von ihnen.

Sie machte zu einer Zeit, in der es zwar die historische Frauenbewegung gab, die sexuelle Gewalt aber noch tabu war, als eine der ersten den Skandal öffentlich. Sie redete über den von ihr selbst erlittenen sexuellen Missbrauch durch ihre beiden Halbbrüder (und vielleicht auch durch den Vater). Virginia Woolf war kein Einzelfall: Ihre Familie war eine klassische viktorianische Familie, in der alle Frauen den sexuellen Aggressionen aller Männer ausgeliefert waren. Es war selbstverständlich, dass die älteste Halbschwester Stella nach dem Tod der Mutter diese zu ersetzen hatte, auch im Bett des Vaters.

Virginia Woolf überlebte, indem sie - ganz wie Ingeborg Bachmann - das Ungeheuerliche wagte: Sie ging der Sache auf den Grund. Beide erkannten, wie untrennbar die "private und öffentliche Tyrannei" miteinander verbunden sind. Und beide, die Engländerin in den 40er und die Deutsche in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts, sprechen unverhüllt vom "Faschismus" in der Familie: diesem alltäglichen privaten Faschismus der Männer gegen die Frauen, der den öffentlichen Faschismus zwischen Klassen, Rassen und Völkern überhaupt erst möglich macht.

In der traditionellen patriarchalen Familie, die heute zwar angeknackt, aber keineswegs in den Grundfesten erschüttert ist, üben Männer und Frauen tagtäglich die Achtung und Verachtung, das Geben und Nehmen, das Oben und Unten ein. Hier steht das Fundament für die Ungleichheit der Welt.

Der Krieg in der Familie und der Krieg in der Welt - sie stehen in einem direkten Zusammenhang. Denn die Familie ist der intimste Ort zur Einübung des Umgangs von Menschen mit Menschen. Solange hier Hierarchie, Besitz und Gewalt die Männer zu Herrenmenschen und die Frauen zu Untermenschen macht, solange wird es auch auf der Straße und in der ganzen Welt so funktionieren. Die Täter, über deren Unmenschlichkeit wir Opfer manchmal fassungslos sind, diese Täter werden in unseren Familien produziert. Und wir kennen sie gut.

Jugendliche stoßen Ausländer aus der fahrenden U-Bahn, Nachbarn stecken Asylantenheime an, US-Soldaten bomben flüchtende Soldaten platt wie "Kakerlaken". Unbegreiflich? Keineswegs. Welchen Umgang erwarten wir vom starken Geschlecht mit dem "Feind", wenn schon der Umgang mit der "Freundin" (Frau, Tochter) von Dominanz, Verachtung und Gewalt geprägt ist? Welche Form soll Hass annehmen, wenn schon die "Liebe" Zerstörung bedeutet?

Die halbherzige Strategie der Kinderschutzbund-Zentrale, die auf ihre "familienstabilisierende" Absicht auch noch stolz ist, ist darum schlimmer als nichts: Sie zementiert die so dringend zu ändernden Verhältnisse. Und die dreisten Manipulationen der Männerpresse sind nichts als eine logische Reaktion der Täter. Denn die haben wenig Interesse an Veränderung. Hinzu kommt die frivole Komplizität einiger Journalistinnen - die sattsam bekannte Beflissenheit der ewigen Opfer, denen längst die Phantasie ausgegangen ist für ein Leben in Würde.

Menschen, die schon als Kinder an Seele und Körper angefasst und missbraucht wurden - und zwar nicht vom "bösen Fremden", sondern vom lieben Nächsten - solche Menschen können nicht vergessen. Sie haben ein Leben lang gegen die Folgen zu kämpfen. Denn sie leiden an dem, was Jean Amery im Zusammenhang mit der selbst erlittenen Nazi-Folter einen Verlust des "Weltvertrauens" genannt hat: den Verlust des Vertrauens in eine Welt, in der nicht alles möglich ist.

Sieh mich an. Du bist doch ein Mensch. Ein Mensch wie ich. Es kann doch nicht sein, dass Du mich überhaupt nicht respektierst, dass Du alles mit mir tust ... ? Doch, es kann sein.
Für viele Frauen ist es so. Mindestens jede Dritte - wenn nicht sogar jede Zweite - unter uns weiß nur zu genau, wovon ich rede. Sie hat es erlebt. Sie hat erlebt, dass Menschen alles tun können.

Genauer gesagt: das Männer alles tun können mit Frauen. Wie lange noch?

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