Grundgesetz, bitte genau so!

Gabi Stummer mit ihrem überarbeiteten Grundgesetz.
Artikel teilen

Gabi Stummer war sauer. So sauer, dass sie sich an ihren Computer setzte und zum ersten Mal in ihrem 48-jährigen Leben ein Flugblatt schrieb. „Aufruf: Gesucht werden Frauen, die an einer geschlechtergerechten Formulierung des Grundgesetzes interessiert sind und sich dafür einsetzen wollen. Motto: Wann, wenn nicht jetzt!“ 

Anzeige

Jetzt hält sie das Ergebnis ihrer Wut und Empörung in der Hand: Ein knapp einen Zentimeter dickes Papierpaket im Plastik-Leinen-Einband, das den Namen gGG trägt. GG wie Grundgesetz. Und g wie geschlechtergerecht.  

Was war passiert? Der Auslöser für Gabi Stummers Ärger war eine eigentlich löbliche Initiative des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland (LSVD) gewesen. Der hatte auf dem Christopher Street Day eine Kampagne gestartet, um den ­Artikel 3 des Grundgesetzes zu ergänzen. Der lautet: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ In diese Aufzählung, so das Ziel des LSVD, sollte auch die „sexuelle Identität“ aufgenommen werden.

Klasse Idee, fand Gabi Stummer, die selbst Frauen liebt und in einer Kölner Beratungsstelle für Lesben und Schwule arbeitet. Aber die gute, queere Absicht änderte nichts daran, dass „mir beim Lesen des Artikel 3 der Hut hochgegangen ist!“ Und so hackte sie in ihr Flugblatt: „Niemand darf wegen seines Geschlechts benachteiligt werden. Kein Mann darf also wegen seines Geschlechts benachteiligt werden. Das freut mich, aber wie steht es mit den Frauen?“ Und weiter: „Es ist ­absurd, dass in einem Gesetz, durch das Diskriminierungen ausgeschlossen werden sollen, eine Diskriminierung vorgenommen wird.“

Gabi Stummer ist promovierte Pflegewissenschaftlerin. Als solche hatte sie es in ihrer gesamten Berufslaufbahn überwiegend mit Frauen zu tun, denn bekanntlich sind sowohl die Pflege als auch das Alter weiblich. Und da nervt es eben besonders, wenn ständig aus 99 Altenpflegerinnen und einem Altenpfleger hundert „Altenpfleger“ werden. „Da werden die Frauen quasi einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Vollends absurd wird es, wenn ich lese, dass einem ‚Patienten‘ der Uterus entfernt wurde. Da fragt man sich, wo sie den denn wohl gefunden haben“, feixt die Pflegewissenschaftlerin, die mit vier Schwestern und einem Bruder aufgewachsen ist. Und mit einer emanzipierten Mutter, „die uns von Kind auf beigebracht hat, dass Frauen und Männer gleich viel wert sind. Sie hat einfach einen unglaublich gut ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“.

All das führte dazu, dass Gabi Stummer in Sachen Artikel 3 zu dem Schluss kam: „Wenn wir den ändern, dann richtig!“ 

Ein Blick ins Grundgesetz machte rasch klar: Es gab Handlungsbedarf über Artikel 3 hinaus. Dass „jeder“ das Recht hat, „seine Meinung“ frei zu äußern oder dass an der Regierungsspitze ausschließlich ein „Bundeskanzler“ vorgesehen ist, konnte so nicht bleiben, sollten die deutschen Bürgerinnen nicht unter der lingu-istischen Burka verschleiert bleiben. 

Gabi Stummer verteilte also ihr Flugblatt auf dem nächsten CSD und unter Freundinnen und Bekannten. Schließlich fand sich ein Trupp von zehn Frauen, darunter Gabis Mutter Waltraud, der sich an die 146 GG-Artikel setzte, um die Frauen aus der sprachlichen Unsichtbarkeit zu holen. 

Das hatte im Frühjahr 2013 auch das Bundesverkehrsministerium versucht und anlässlich einer Novellierung der Straßenverkehrsordnung nicht nur ein paar überflüssige Verkehrsschilder abgeschafft, sondern auch die Abwesenheit weiblicher Verkehrsteilnehmer. Aus „Fußgängern“ wurden „zu Fuß Gehende“. Zwar gibt es in der neuen StVO immer noch keine „Autofahrerin“, aber immerhin kurven auf deutschen Straßen nicht länger ausschließlich Autofahrer: „Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird“, heißt es jetzt. Die Reaktion ist bekannt: Spott und Häme en masse. Bei dieser Art „Dummdeutsch“ (Spiegel) könne es sich ja wohl nur um einen „Aprilscherz“ (FAZ) handeln, den ein „Studienabbrecher im Fach Germanistik“ (Auto Club Europa) verbrochen habe. Selbst Verkehrsminister Ramsauer distanzierte sich und befand: „Der Gender-Ansatz stößt in Gesetzes-texten an seine Grenzen.“ 

Da irrt die Ministerin, äh, der Minister. Denn das geschlechtergerechte Grundgesetz liest sich ohne jeden Holperer. Ein paar einfache Regeln genügen. Aus „Jedermann hat das Recht …“ wird „Jeder Mensch hat das Recht …“ oder „Alle Menschen haben das Recht …“. Aus „bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten“ werden „private und öffentliche Rechte der Bürgerinnen und Bürger“. Statt „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen“ heißt es nun: „Der Rechtsweg steht denjenigen offen, die durch die öffentliche Gewalt in ihren Rechten verletzt werden.“ Und an der Regierungsspitze könnte, wie man (und frau) weiß, „Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin“ stehen. Geht doch. 

Damit aus dem GG in der Schublade nun tatsächlich ein gGG im Gesetzesblatt wird, schickte Gabi Stummer das Werk an rund zwei Dutzend Adressen: an das Bundesverfassungsgericht, an sämtliche Bundesgerichte, alle Parteien und natürlich an die Bundeskanzlerin. Die Resonanz: dürftig. Das Bundesverfassungsgericht nimmt „mit Interesse zur Kenntnis“, das Bundesarbeitsgericht bedankt sich für das „wertvolle Engagement“. Passiert ist bisher nichts. Dabei wäre zumindest eine Stelle gut beraten, sich für die Präsenz der weiblichen Bundesbürger im Grundgesetz stark zu machen, denn die ist genau dafür offiziell zuständig: das Justizministerium. 

Zu den Aufgaben des Ministeriums ­gehört dafür zu sorgen, dass Gesetzestexte ordnungsgemäß, verständlich und eben auch geschlechtergerecht formuliert werden. Dazu gibt es ein richtiges Regelwerk: das „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“. Und dort behandelt Punkt 1.8. die „sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern“. Denn schließlich sollen, so das Handbuch, laut §1 Absatz 2 des Bundesgleichstellungsgesetzes die „Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Bundes die Gleichstellung von Frauen und Männern auch sprachlich zum Ausdruck bringen“.

Wo also ist das Problem? „Das wird ­eigentlich nur dann gemacht, wenn ein neues Gesetz verabschiedet wird“, heißt es aus der Pressestelle des Bundesverkehrsministeriums, das offensichtlich zu den wenigen Bundesbehörden gehört, die das Gesetz ernst nehmen. „Aber auch dann brauchen Sie eine Person, die die Initia­tive ergreift.“ Im Falle des Verkehrsministeriums sei das eine „engagierte Referatsleiterin“ gewesen.

Nun wäre das Justizministerium am Zug. Selbstredend hatte Gabi Stummer das gGG auch an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger geschickt. Keine Reaktion. 

Aber die Initiatorin lässt sich nicht entmutigen. „Ich bin stolz, dass wir das gemacht haben. Denn jetzt kann niemand mehr behaupten, dass es unmöglich ist, das Grundgesetz geschlechtergerecht zu formulieren. Das geschlechtergerechte Grundgesetz existiert!“

P.S. Als Gabi Stummer den Umschlag mit dem gGG an das „Bundeskanzlerinnenamt“ abschicken wollte, stand auf der Briefmarke, einer Sonderedition zum Thema „100 Jahre Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“, das Motto: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Gabi Stummer nahm ihren Kuli, machte einen Pfeil und ergänzte: „und Schwesterlichkeit!“

Und sie begriff: Es gibt noch viel zu tun.

Artikel teilen
 
Zur Startseite