Alice Schwarzer schreibt

Moderne Verschleierung

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"Ich stelle an mir selbst fest, dass mich dieser angestrebte Perfektionismus vollständig erschöpft und in mir, nachdem ich tagtäglich alle an mich gestellten Erwartungen bedient habe, eine bodenlose Leere und tiefe Traurigkeit hinterlässt." Die mir das nach meiner Sendung mit Verona Feldbusch im Juni 2001 schreibt, heißt Jasmin, ist 31 Jahre alt, und kennt sich aus mit den drei neuen Ks: Karriere, Kinder, Kosmetik. Das heißt, die moderne Schönheitsindustrie begnügt sich ja schon lange nicht mehr mit der Kosmetik; sie bleibt nicht auf der Haut, sondern geht darunter: mit Messern, Giftspritzen und Absaugkanülen.

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Heraus kommt die perfekte Frau, die sieht, egal wer sie ist und wo sie lebt, so aus: runde Augen, glatte Haut, prall gefüllte Brüste und lange Beine. Ja, und dünn ist sie, ganz dünn - damit sie sich besser Dünnemachen kann. Aber dieses Kapitel - die krankhaften Essstörungen und das lebensgefährlich Fettabsaugen, die häufigste aller "Schönheitsoperationen" - ist zwar kein anderes, aber doch ein zweites und so großes Kapitel, das ich es an dieser Stelle aussparen will. (EMMA hat der Hungersucht ja auch Anfang 2002 gerade ein ganzes Dossier gewidmet und bereits 1984 ein erstes Sonderheft.)

Reden wir also von Schönheit - oder was immer gerade darunter verstanden wird. Für Frauen. Zur Zeit grassiert das Schönheitsideal der glatten Alterslosigkeit. Sind ja auch praktisch: Frauen, die nicht älter und erfahrener werden dürfen, sondern ewig jung bleiben müssen - und naiv. Diesem uniformen Schönheitsideal beugen sich neuerdings nicht nur Berufsschönheiten, wie Models oder Schauspielerinnen vor dem Charakterfach, sondern auch Journalistinnen, Managerinnen oder Zahnarzthelferinnen. Während ihre männlichen Kollegen Stärke und Charakter flaggen, signalisieren diese Frauen Schwäche und Konformität; während die Männer zerfurcht nachdenken, es sich Beine übereinander schlagend bequem machen und Gestandenheit demonstrieren; lächeln die Frauen unter ihrer faltenlosen Botox-Beton-Stirn, balancieren ihre laufmaschenfreien Beine schräg nebeneinander und demonstrieren Blöße. Ganz wie anno 50er in der Tanzschule.

Und das zu Beginn des 3. Jahrtausends! Frauen entdecken ihre Vielfalt und Persönlichkeit - doch lassen sich wieder hinter die Maske der Weiblichkeit zwingen. Frauen entdecken die Kraft und das Begehren ihrer eigenen Körper - doch hungern sich wieder schwach oder lassen sich bis zur Lustlosigkeit verstümmeln. Nein, es ist kein Zufall, dass dicht hinter dem Aufbruch der Frauen die Welle des neuen Schönheitswahns schwappt.

Die Akzeptanz dieses Schönheitsdiktates würde uns erneut der Definition durch den Anderen ausliefern. Statt endlich selbst zu lernen, auf die Summe unserer Erfahrungen und Fähigkeiten zu vertrauen, sollen wir wieder abhängig werden vom Blick des Anderen. So einfach ist das. Und dennoch verführerisch.

Denn was macht es, dass die abgesaugten Unterleiber empfindungsstumpf werden, weil die Nerven unterbrochen werden. Was macht es, dass die aufgespritzten Brüste gefühllos werden, weil Silikon keine Lust kennt. Was macht es, dass die gehäuteten und geflickten oder mit Gift gespritzten Gesichter erstarren. Schließlich gibt es doch genug Frauen, die sich trotz alledem danach "besser" fühlen als zuvor. Denn ihr Wert wird nicht an ihrem lebendigen Leben, sondern an dem künstlichen Produkt gemessen. Frauen sollen nicht wissen, wer sie sind, sondern fragen, wer sie sind. Man wird es ihnen schon sagen.

Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die beweisen etwas, was eine jede und ein jeder von uns im Selbstexperiment überprüfen kann: Wir artikulieren uns nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit dem Körper und dem Gesicht, und dieser physische Ausdruck wiederum wirkt zurück auf die psychische Verfassung: Wer lächelt, kriegt auch gleich bessere Laune.

Diese glatt gespritzten und gezurrten Gesichter und Körper aber sind ausdruckslos. Es sind verstummte, verschleierte Gesichter. Hinter dem neuen westlichen Schönheitsideal verbirgt sich nichts anderes als eine Art moderner Verschleierung.

Und eine unerreichbare Heilsversprechung: Immer werden die Digital Beauties noch perfekter sein, als eine lebendige Frau es jemals sein könnte. Die Unerfüllbarkeit dieser neuen Sehnsüchte verunsichert die Frauen und lähmt sie. Sie verharren im Privaten und bleiben schachmatt gesetzt für die Welt.

Währenddessen verdienen die Herren (und einige Damen) dieser Welt an dem neuen Frauenwahn. Allein in Deutschland geht man nur für das Jahr 2001 von etwa einer halben Million Schönheitsoperationen aus. Tendenz steigend. Etwa 5.000 deutsche ÄrztInnen und ungezählte Quacksalber verdienen daran, die Frauen krank zu behandeln. In Zeiten der sinkenden Umsätze im Gesundheitswesen ist das nicht schlecht für die Branche: Die Profite im Schönheitsunwesen steigen.

Aber warum? Warum machen wir Frauen selbst das alles mit? Schließlich haben wir doch zum ersten Mal in der modernen Menschheitsgeschichte wirklich die gleichen Rechte, zumindest formal; haben freien Zugang zur Bildung und stehen vor halboffenen Türen zum Beruf und in die Welt. Warum also legen wir uns ausgerechnet jetzt wieder freiwillig diese innere Fesseln an? Weil wir verunsichert sind. Weil wir nicht mehr die alten Weibchen sind - aber auch noch nicht die neuen Frauen. Weil wir jeden Tag neu lernen müssen, dass Selbstbewusstsein und Begehrtwerden sich nicht zwingend ausschließen.

Weil es, das wusste schon Virginia Woolf, "sehr viel schwerer ist, ein Phantom umzubringen, als etwas Wirkliches". Jetzt aber holt das Phantom "Weiblichkeit" die modernen Frauen wieder ein. Scheitern einige von uns nach Überwindung der äußeren Hürden nun an den inneren Hürden?
 

Weiterlesen
Die neue Weiblichkeit (Alice im Männerland 2002)
Die Feldbuschisierung (EMMA 5/2001)

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